„Stenze“ und „Swing-Jugend“

Neben den „Edelweißpiraten" und den „Fahrtenstenzen" mit ihrem ausgeprägten Fahrtenleben gab es in Essen auch Jugendcliquen, die sich ausschließlich in der Stadt trafen. Vor allem die Kirmes mit ihrem Musik- und Unterhaltungsprogramm zog die Jugendlichen an, die sich, wie der Zeitzeuge Rudi Sasum berichtet, durchaus in der Kluft der „Edelweißpiraten" zeigten, aber ihre Aktivitäten und Treffen eben ausschließlich auf das Stadtgebiet beschränkten. Die Kontakte zu den Jugendlichen, die an Wochenenden auf Fahrt gingen, waren dabei durchaus fließend.

Dies galt auch für eine andere verbotene Jugendkultur jener Jahre: Die „Swing-Jugend" zeigte sich in Essen allerdings nicht in Fahrtenkluft und firmierte auch nicht unter diesem Namen. Vielmehr traten die Jugendlichen elegant in Anzug - oft mit Hut - auf. Ihr Vorbild war der „american way of life" der 1920er und 1930er Jahre. Ihre geliebte, aber im NS-Staat ebenso wie das bündische Liedgut verbotene Swing- und Jazzmusik hörten sie heimlich auf dem Grammophon der Eltern oder auf mobilen Abspielgeräten. Die Gruppe um Walter Jonathal hatte ihren Treffpunkt am Bahnhof Nord und in einer nahe gelegenen Gaststätte. Auch auf den Jahrmärkten am Gerling- oder am Oettingplatz trafen sich die Jugendlichen: „Wir hielten von allem anderen nichts, wir wollten unser Leben führen", berichtet er rückblickend. Die Musik sei dabei „das Wichtigste" gewesen. Neben Swing und Jazz hätten sie auch ebenfalls verbotene Operettenmusik gehört und die bündischen Lieder der „Edelweißpiraten" gesungen. Anders als diese blieb Walter Jonathal mit seiner den Jazz liebenden Clique aber eine „reine Stadtgruppe".

Die „Swing-Jugend" in den rheinischen Großstädten ist im Gegensatz zu ähnlichen Gruppen in Hamburg oder Frankfurt nach wie vor wenig erforscht. Alfons Kenkmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Gegensatz zu den Norddeutschen Cliquen die rheinischen Gruppen „schichtenspezifisch auf die regionale Mittel- und Oberschicht begrenzt" geblieben seien und führt als Beleg Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen „Edelweißpiraten" aus dem Arbeitermilieu und „bürgerlichen" Swing-Jugendlichen an. [1] Zumindest die Gruppe um Walter Jonathal ist allerdings ein Beleg dafür, dass Jazz auch in Kreisen von Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu beliebt war und in Gruppenkontexten gehört wurde. Das lässt zumindest für Essen weitere Kontakte und personelle Überschneidungen zwischen beiden Jugendkulturen vermuten, die jedoch noch der näheren Erforschung bedürfen.

Dass es in Essen aber auch eine spezifische und auf (groß-) bürgerliche Kreise beschränkte „Swing-Jugend"-Szene gab, belegt in aller Deutlichkeit die hier ebenfalls präsentierte Lebensgeschichte von Wolfgang Neukirchner und die Situation am Gymnasium in Bredeney. „Die Jazz-Leute, - das waren wir", berichtet er im Rückblick über seine Schul-Clique, die in der zweiten Hlfte der 1930er Jahre die Begeisterung für den Jazz und deutsche Tanzmusik verbindet. Die Jungen hören nicht nur solche von NS-Seite verpönte „Nigger-Musik", sondern machen sie selbst und nehmen gar eine eigene Schallplatte auf!

Dabei bleibt die Gruppe nicht der einzige jazzbegeisterte Jahrgang des Bredeneyer Gymnasiums. Der Stellenwert der Swing-Musik nahm offenbar gerade auch in Kriegszeiten quer durch alle Jahrgangsstufen ein derartiges Ausmaß an, dass es zumindest im bürgerlichen Essener Süden für jeden wahrnehmbar gewesen sein dürfte. Das legt zumindest eine empörte Stellungnahme der Abiturienten des Jahres 1926 nahe, die sie anlässlich ihres „16. Klassentages" am 27. Dezember 1941 zu Papier brachten und verbreiteten. Zunächst hatten die Festgäste im Rahmen ihres geselligen Beisammenseins die Kriegslage diskutiert und absolute Einigkeit darin erzielt, „dass 1942 von jedem äußerster Einsatz gefordert" werde. „In diesem Sinne sind wir dankbar, diese Epoche mit erleben zu dürfen und bereit, unsere Pflicht zu tun."

Hinsichtlich der allgemeinen Situation an ihrem ehemaligen Gymnasiums zeigen sich die ehemaligen Pennäler - hierin offenbar durch ihren ehemaligen Klassenlehrer Wilhelm Leggewie unterrichtet - weniger begeistert. „Die Verhältnisse an den Schulen", so wird zunächst festgestellt, seien zur Jahreswende 1941/42 „keineswegs erfreulicher als in den vergangenen Jahren". „Unerklärlich sind die merkwürdigen Erscheinungen von Dummheit oder Beschränktheit in den unteren Klassen." Auch „charaktermäßig" und mit Blick auf die Disziplin sei bis in die Oberklassen „eine schlechte Entwicklung festzustellen", beklagen die Versammelten, um dann zu einem Kern ihrer Beschwerde zu kommen: „Dazu kommt eine unerfreuliche Verbildung des Geschmacks. Als Musik interessiert nur der Jazz." Daher verstehe man Studienrat Leggewie, wenn er von der „Front an der Schule" spreche, „an der man nun kämpfen" müsse. - Das Hören und Spielen von Jazzmusik, so muss der Schluss aus dieser bemerkenswerten Beschwerde ehemaliger Schüler lauten, war zumindest in Kreisen Bredeneyer Jugendlicher in dieser Zeit keine Ausnahmeerscheinung, sondern eher die - von Elternhäusern und wohl auch der Schulleitung geduldete - Regel.

Fußnoten

[1] Kenkmann, 1996, S. 297.