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Jugend! Deutschland 1918-1945
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Lebenswelten

Jugendliche wuchsen nicht in „luftleeren“ Räumen auf, sondern in ihren jeweiligen Lebenswelten. Gerade zwischen 1918 und 1945 machte es oftmals einen erheblichen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt aufwuchs, im katholischen oder im Arbeitermilieu, ob in einer bürgerlichen Klein- oder in einer bäuerlichen Großfamilie. Wie veränderten sich damals die Familienstrukturen, wie die schulische Erziehung? Außerdem bestimmten neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zunehmend das jugendliche Leben und Streben.

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Stadt-Land

Das jeweilige Milieu war einer der wesentlichen Faktoren, die die Lebensumstände und damit das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig bestimmten. Eine zweite wesentliche Determinante der jeweiligen Art des Heranwachsens resultierte ganz einfach daraus, ob das in der Großstadt, einer Kleinstadt oder auf dem Land geschah, wo es wiederum deutliche Unterschiede zwischen reinen Bauerndörfern oder solchen kleinen Orten gab, deren Einwohnerschaft sich aufgrund der geografischen Lage in Teilen auch aus Industriearbeitern zusammensetzte. Jedenfalls konnte das Aufwachsen in einem großstädtischen katholischen Milieu sich deutlich von den Bedingungen „auf dem Dorf“ unterscheiden, auch wenn die konfessionellen Voraussetzungen identisch waren. Daher gilt es im Folgenden die sich in vielen Punkten unterscheidenden städtischen und ländlichen Lebenswelten zu skizzieren und nach deren jeweiligen Auswirkungen auf die heranwachsenden Generationen hin zu befragen.

Dabei geht es in erster Linie darum, zu erfahren, wie Frauen und Männer, insbesondere aber junge Menschen auf dem Land/im Dorf und in der Stadt jeweils für sich, aber eben auch miteinander gelebt und dabei die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts schnell zunehmende Entgrenzung ihrer Lebenswelt(en) erfahren, wahrgenommen und gestaltet haben. Wodurch wurde die wechselseitige Wahrnehmung, Erfahrung und Entgrenzung beeinflusst und vorangetrieben? Wie wurde das Gegenüber, das „Andere“ erfahren? Wie schrieb sich die gegenseitige Wahrnehmung in Form von Selbst-, aber auch von Fremdbildern in beide Lebenswelten ein? Wurden die gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Veränderungen im Spannungsfeld von Stadt und Land mental eher als Verlust- oder als Erfolgs-Geschichte erlebt und registriert? Dies sind einige der zentralen Fragen, wie sie etwa Franz-Werner Kersting und Clemens Zimmermann in ihrer Untersuchung der „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ aufwerfen und unter „geschichts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive“ zu beantworten versuchen.[1]

Dabei verweisen sie auf einen Widerspruch, der dem Stadt-Land-Thema in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immanent war und sehr unterschiedliche Sichtweisen auf dieses Phänomen hervorbrachte: Einerseits die schon im 19. Jahrhundert deutlich zutage tretende „Agrarromantik“ bürgerlicher Kreise, der etwa in dem vom Soziologen Ferdinand Tönnies formulierte Begriffs- und Gegensatzpaar „Gemeinschaft“ (Dorf) und „Gesellschaft“ (Stadt) zum Ausdruck kam.[2] Dabei wurde in aller Regel die (vermeintliche) dörflich-ländliche Idylle auf vielfältige Weise verklärt und durch die „Heimatschutzbewegung“ politisch wirksam zum Maßstab von Siedlungsprojekten erhoben. Andererseits galten gerade nicht die Dörfer und Provinz, sondern alleine die Metropolen und großen Industriegebiete als die Motoren des historischen Prozesses und der Modernisierung, wodurch wiederum die ja durchaus vorhandenen historisch-kulturellen Leistungen der Menschen in ländlichen Gebieten unterbelichtet blieben. Hinzu traten – mittlerweile von der Forschung endlich etwas stärker beachtet – die Klein- und Mittelstädte, in deren damaligem Lebensalltag „Übergangsphänomene des Städtischen, Eigenarten von Milieus, Vergesellschaftungsweisen und Lebensformen sichtbar“ werden, die sich von den Gegebenheiten in Großstädten oft deutlich unterscheiden.[3]

Zu konstatieren bleibt jedenfalls, dass sich im frühen 20. Jahrhundert die sozial-räumlichen Beziehungen und Grenzen zwischen Stadt und Land fundamental zu verändern begannen. Hierzu zunächst einige allgemeine Daten und Fakten: Im Gebiet des Deutschen Reiches wohnten 1871 noch 75 Prozent aller Einwohner in ländlichen Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern, im Jahr 1962 waren es hingegen nur noch knapp 45 Prozent der damaligen Bundesrepublik. Analog veränderte sich auch ein anderer Messwert drastisch. Hatten um 1800 noch etwa 75 Prozent der der Bevölkerung des späteren Reichsgebiets von der Landwirtschaft gelebt, waren das in der Bundesrepublik des Jahres 1962 gerade noch 9 Prozent.[4] Die andere Seite solch dramatischer, mit der Industrialisierung einhergehender Strukturwandlungen, war die schnell zunehmende Verstädterung der deutschen Gesellschaft. Hatten 1875 erst 15,4 Prozent der Deutschen in Orten mit mehr als 20.000 Einwohnern gelebt, so waren es 1939 bereits 45,2 Prozent.[5]

Vergleichbare Werte galten naturgemäß für die nachwachsenden Generationen. 1933 lebten in Preußen 1,68 Millionen Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, 855.508 von ihnen männlich, 824.309 weiblich. Hiervon wiederum lebten 33,2 Prozent auf dem Land in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern, 30,6 Prozent in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die übrigen verteilten sich auf Städte von 2.000 bis 10.000 (17,3 Prozent), 10.000 bis 50.000 (14,1 Prozent) und 50.000 bis 100.000 Einwohnern (4,9 Prozent). Mithin lebten - den oft ausgeprägt ländlichen Charakter der Klein- und Mittelstädte berücksichtigend – weit mehr als die Hälfte dieser Jugendlichen in ländlich geprägten Milieus. Innerhalb der Landjugend nahm der Anteil der Mädchen mit wachsendem Alter allerdings deutlich ab, während er bei den Jungen kaum zurückging. Das war wohl insbesondere darauf zurückzuführen, dass weibliche Jugendliche oft als Dienstmädchen in die Städte gingen. Innerhalb der Stadtjugend selbst büßte die Großstadt nichts von ihrer Anziehungskraft ein. Daher nahm mit wachsendem Alter bei Jungen und Mädchen der Anteil der Großstadtjugend erheblich von gut 30 Prozent bei den 14- bis 18-Jährigen auf mehr als 34 Prozent bei den 20- bis 25-Jährigen zu.[6]

Dörfliches Leben, Kommunikation und Wissen veränderten sich im 20. Jahrhundert somit deutlich rascher als in den Jahrhunderten zuvor, was auch in deutlich zunehmenden Vernetzungen der ländlichen Regionen mit den Städten zum Ausdruck kam. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei der stete Ausbau der Infrastruktur in Form immer besserer und schnellerer Verkehrsmöglichkeiten, wodurch Einflüsse des städtischen Lebens auch in den Dörfern zunehmend spürbar wurden. Die schrittweise Überwindung althergebrachter Formen durch Bildung und Schulung der Bauernsöhne, das Aufkommen von Industrie und Fabrikarbeit und hiermit einhergehende Bevölkerungsverschiebungen waren Ausdrücke einer Entwicklung, die das überkommene Landleben mit seiner „unzerstörbaren Idylle“ zusehends in Frage stellten. Hiergegen regte sich Widerstand, denn viele setzten das Bäuerliche mit unverfälschter Sittlichkeit, mit „Natur“, mit stabiler Soziabilität des Dorfes als „Gemeinschaft“ gleich, die es zu schützen galt. Von hier aus war es dann kein weiter Weg mehr zur Großstadtfeindschaft und zu den völkischen Strömungen, bei denen der Stadt-Land-Gegensatz stark polarisiert wahrgenommen und politisch-propagandistisch zugespitzt wurde.[7]

Die schnellen, in den Augen solcher Kreise gefährlichen Veränderungen riefen zahlreiche entsprechende Reaktionen und Gegenbewegungen hervor. So sprach der 2. Vorsitzende und Geschäftsführer des katholisch orientierten Westfälischen Heimatbundes Wagenfeld 1926 in seiner „Predigt der Heimat“ vom „Rassengemisch der Großstadt“, dem er den niedersächsischen Bauernhof, den „blonden Niederdeutschen“ und „das deutsche Dorf“ gegenüberstellte, die nach seiner Überzeugung für deutschen Gemeinschaftssinn, deutsche Gottestreue und Frömmigkeit stünden. Hierdurch glaubte er insbesondere die heranwachsende Jugend bedroht, die nicht großstädtischen Gefahren ausgesetzt werden dürfe, sondern zur Bereitschaft erzogen werden müsse, „Leben und Sterben einzusetzen für Wahrheit, Freiheit und Recht“. Der Schlussappell „Deutschland muss leben trotz aller Feinde Neid und Bosheit“ zeigte, dass auch die westfälische Heimatbewegung ihr Heil in einem nationalistisch gefärbten Volkstumsgedanken suchte, in einer Verklärung der Vorkriegsära und in der Idealisierung eines traditionalen Lebensgefüges, das nicht nur im Münsterland nach wie vor erhebliche Beharrungskraft besaß.“[8]

Fußnoten

[1] Kersting/Zimmermann, Stadt-Land-Beziehungen, S. 11f.

[2] Vgl. hierzu auch Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 11f., die in dieser Hinsicht zusammenfassen, Ferdinand Tönnies habe 1887 in der Abhandlung „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zwei kontrastive Typen historischer Vergesellschaftung gegenübergestellt, denen er jeweils konkrete Siedlungsformen zuordnete. Das historische Dorf, das in die Gegenwart hineinragt, zählt er zur „Gemeinschaft“. Die in Tönnies’ Periode massiv aufscheinende Großstadt rechnet er der „Gesellschaft“ zu. Gemeinschaft sei eine „organische“ Form sozialer Verbindung, die „einheitlich nach innen und nach außen“ wirke. Als weitere soziologische Kriterien für „Dorf“ nannte Tönnies „Verwandtschaft“, „Nachbarschaft“ und „Freundschaft“, was die Überschaubarkeit und Dichte sozialer Beziehungen im Dorf betonte. In Tönnies‘ Modell sind die Dorfbewohner in eine wesenhafte, autark vorgestellte Gemeinschaft ohne Kommunikation nach außen eingebunden. An anderer Stelle ergänzt Clemens Zimmermann, dass sich die von Ferdinand Tönnies vorgenommene Kontrastierung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ als grundlegenden Vergesellschaftungstypen in historischen Milieus konkretisiere. Gemeinschaft und die mit ihr korrespondierende Mentalität von „Gefallen, Gewohnheit, Gedächtnis“ finde ihre „Keimform“ in der Familie, dann im Haus der vormodernen Stadt. In der modernen Gesellschaft könne es aber nur noch Restbestände von Gemeinschaft geben, weil diese auf Dauerhaftigkeit sozialer Beziehungen und gemeinsam erlebte Geschichte angewiesen sei, die aufgrund der ökonomischen und auf Globalisierung angelegten historischen Dynamik nicht mehr fortexistieren könnten. (Zimmermann, Kleinstadt, S. 16)

[3] Kersting/Zimmermann, Stadt-Land-Beziehungen, S. 16. Zum Folgenden vgl. ebenda, S. 9.

[4] Zahlen nach Gestrich, Geschichte, S. 11. Nach Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 172, lebten um 1900 etwa 40% der deutschen Bevölkerung in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern, von denen die weitaus meisten als „Dörfer“ zu definieren waren, was nach Meinung der Autoren „einen ersten Eindruck vom Gewicht der ländlichen Teilgesellschaft vermittelt“.

[5] Vgl. Langewiesche/Tenroth, Bildung, S. 4

[6] Vgl. Peukert, Jugend, S. 38ff.

[7] Vgl. Troßbach/Zimmermann, Geschichte, S. 219 und 237f.

[8] Fasse, Geisteskämpfe, S. 252f.

zuletzt bearbeitet am: 26.05.2016