Suchen & Finden
Jugend! Deutschland 1918-1945
Editionen zur Geschichte
Didaktik & Schule
Lebenswelten

Jugendliche wuchsen nicht in „luftleeren“ Räumen auf, sondern in ihren jeweiligen Lebenswelten. Gerade zwischen 1918 und 1945 machte es oftmals einen erheblichen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt aufwuchs, im katholischen oder im Arbeitermilieu, ob in einer bürgerlichen Klein- oder in einer bäuerlichen Großfamilie. Wie veränderten sich damals die Familienstrukturen, wie die schulische Erziehung? Außerdem bestimmten neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zunehmend das jugendliche Leben und Streben.

Inhalt
Baum wird geladen...

Familie

„Familie“ ist das, was ein Kind in aller Regel als erstes „erfährt“. In der Familie wächst es auf, hier erhält es die wichtigsten Orientierungen für sein weiteres Leben. Im Prozess der familialen Sozialisation, so umreißt Andreas Gestrich deren Bedeutung, würden „den nachwachsenden Generationen die Grundmuster der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns vermittelt und ihre Einstellungen zur sozialen Ordnung geprägt“. „Konstanz und Wandel sozialer Systeme vollziehen sich zu einem ganz wesentlichen Teil über die Familie. Die Sozialgeschichte der Familie ist deshalb notwendiger Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte.“[1] Diese zu erforschen ist jedoch nicht leicht. Schon 1930 stellte Adele Salomon fest, dass es leichter sei, „Einblick in die Gestaltung des Familienlebens bei den antiken Völkern oder bei primitiven Volksstämmen zu erlangen als in das Familienleben der modernen Kulturkreise“.[2]

Unser heutiges Familienbild ist stark von neueren Entwicklungen geprägt, was aus Bezeichnungen wie etwa „Patchwork-Familie“ hervorgeht. Außerdem gibt es eine beträchtliche Zahl alleinerziehender Mütter und Väter, wobei die Zahl der Kinder in aller Regel aber eher überschaubar ist. Die Familien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stellten sich hingegen in mehrfacher Hinsicht zumeist gänzlich anders dar.

Besonders prägend sowohl für die Wahrnehmung von Familie als auch für die anderen Milieus war das Modell und zugleich Ideal der bildungsbürgerlichen Familie, das sich durch eine besonders lange Ausbildungsphase der Kinder und in direkter Folge durch deren dementsprechend langes Zusammenleben mit den Eltern auszeichnete. Die Breitenwirkung dieser Familienform kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer weniger Lehrlinge bei ihren Meistern, sondern während ihrer Ausbildungszeit immer häufiger weiter bei ihren Eltern wohnten. Bei den Mädchen wirkten vor allem der Rückgang des Dienstbotenwesens und das Aufkommen neuer Möglichkeiten der außerhäuslichen Berufstätigkeit als Arbeiterin oder Angestellte in dieselbe Richtung. Schließlich hängt diese zunehmende „Familisierung“ der Jugendlichen sicher auch mit einer allgemeinen Verbesserung der Wohnverhältnisse zusammen.[3]

Die „ideale“ Familie scheitere aber oft an den realen Gegebenheiten, denn milieuspezifische Versorgungsmöglichkeiten zogen hinsichtlich der jeweiligen Verweildauer von Töchtern und Söhnen im Familienverband eine oft scharfe Grenze zwischen Reich und Arm. Das Problem stellte sich vor allem bei Mädchen. Töchter aus reicheren Familien konnten bis zur Heirat im Elternhaus bleiben, während Mädchen aus ärmeren Familien, sobald sie körperlich dazu in der Lage waren, hingegen einen auswärtigen Dienstposten antreten mussten.

Dass dann aber schließlich gerade in ärmeren Familien die heranwachsenden Kinder lange im Elternhaus lebten, war im Wesentlichen erst ein durch den Industrialisierungsprozess bedingtes Phänomen, weil es mit der Entwicklung der individuellen Lohnarbeit zusammenhing. Je mehr Kinder im Erwerbsleben standen und zum gemeinsamen Haushaltsbudget beitrugen, desto leichter war es für die ganze Familie zu überleben. Die Eltern hatten ein existentielles Interesse, sich den Mitverdienst der Jugendlichen möglichst lange zu erhalten.

In bäuerlichen Familien war die Motivlage vergleichbar, bezog sich jedoch nicht auf das Einkommen, sondern die Arbeitskraft der Kinder. Der Arbeitskräftebedarf spielte vor allem in größeren Bauernfamilien für den langen Verbleib von herangewachsenen Kindern im Elternhaus eine erhebliche Rolle und betraf Töchter wie Söhne. Mit eigenen Kindern zu arbeiten, war immer billiger als mit Knechten oder Mägden.

In den zumeist kleinen gewerblichen Familienbetrieben wiederum war die Lage wiederum völlig anders. Wenn je nach Gewerk und Größe dem Arbeitskräftebedarf auch eine unterschiedliche Bedeutung zukommen konnte, war beim größten Teil der – zumeist ärmeren - Handwerker und kleinen Kaufleute der Verbleib von jugendlichen Töchtern und Söhnen im Haushalt schon aus ökonomischen Gründen nicht möglich.

Vor besonders große Herausforderungen wurde die bürgerliche Familientheorie und Gesellschaftspolitik aber durch die schon angedeuteten Auswirkungen von Fabrikindustrialisierung und Urbanisierung auf die Arbeiterschaft gestellt. In dieser meist land- und besitzlosen Bevölkerungsschicht verlor die Familie nämlich ihre zentrale Funktion der Produktionsort sowie der Erhaltung und Weitergabe von Vermögen. Durch häufig zwangsläufig „offene Wohnformen“ mit zahlreichen, schnell wechselnden Untermietern verlor der Haushalt zudem seinen Charakter des familiären Privatraums. Und aufgrund der oft notwendigen Erwerbstätigkeit beider Elternteile entsprach die Arbeiterfamilie schließlich in vielen Fällen auch nicht mehr dem Ideal einer auf die Erziehung der Kinder konzentrierten emotionalen Gemeinschaft. Hinzu kam noch, dass vielen Arbeiterfamilien aufgrund ihrer erzwungenen starken Mobilität häufig der intergenerationelle Zusammenhang fehlte.[4]

Art und Dauer des Zusammenlebens von Eltern und Kindern in deren Jugendphase hing in vergangenen Zeiten aber nicht nur davon ab, ob die Heranwachsenden aus wirtschaftlichen Gründen im Elternhaus verbleiben konnten, sondern auch davon, ob die Eltern aufgrund einer im Vergleich zu heute weitaus geringeren Lebenserwartung in deren Jugendzeit überhaupt noch lebten. Dabei war die Verwaisungsgefahr in den Unterschichten erwartungsgemäß nochmals weit größer als in den Mittel- und Oberschichten. Mutterlos, vaterlos oder völlig elternlos zu leben war daher insbesondere für Jugendliche mit einer solchen sozialen Herkunft damals keineswegs eine Ausnahmeerfahrung. Daher wurden der im Verwaisungsfall eingesetzte Vormund zu einer Person, die damals im Leben vieler Jugendlicher eine sehr wichtige Rolle spielte - etwa bei Berufs- oder Partnerentscheidungen. Außerdem mussten sich Kinder und Jugendliche in den Zeiten früher Sterblichkeit häufig auf völlig neue und für sie oftmals kaum zu bewältigende Veränderungen einstellen. Angesichts klarer Rollen- und Arbeitsverteilung sahen sich insbesondere Witwer häufig zu einer schnellen Wiederverheiratung veranlasst, was besonders häufig in bäuerlichen oder gewerblichen Familienwirtschaften der Fall war, wo eine geordnete Betriebsführung die Zweitheirat geradezu erzwang. So kamen neue Autoritäten ins Haus, denen man sich, oft ohne den Verlust des verstobenen Elternteils überhaupt schon verkraftet zu haben, klaglos unterzuordnen hatte. In größeren und komplexeren Familienformen stellte sich diese Frage hingegen zumeist nicht in der gleichen Schärfe, weil hier im Fall von Todesfällen Tanten, Onkel oder auch Großeltern, die in der großen Mehrgenerationenhausgemeinschaft lebten, die Sorgepflichten für die Kinder und Jugendlichen bis zu deren Volljährigkeit übernehmen konnten.[5]

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wiesen Familien ohnehin eine ganz andere Größe auf, als man es heute gewohnt ist. Dieser im Weiteren noch ausführlicher zu behandelnde Kinderreichtum hatte aber nicht nur Auswirkungen auf das Zusammenleben von Eltern und heranwachsenden Kindern, sondern auch auf das Verhältnis zwischen den Geschwistern. Damals waren lange Geschwisterreihen mit größeren Altersabständen an der Tagesordnung, wobei solch größere Altersabstände nicht zuletzt eine Folge der vielen Lücken darstellte, die die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in die Geschwisterreihen riss. Insbesondere in bäuerlichen Hausgemeinschaften, in denen auch ältere Kinder lange im Haus verblieben, waren die Altersabstände der unter einem Dach zusammenlebenden Geschwister oft sehr groß. Bei solchen Alterskonstellationen war es naheliegend, dass ältere Geschwister den jüngeren gegenüber Funktionen und Aufgaben übernahmen, die sonst den Eltern zugekommen wären. Vor allem die ältere Schwester in der Mutterrolle ist ein häufig auftretendes Phänomen, das keineswegs nur im Falle der Verwaisung auftrat.[6]

Im Laufe der Zeit gingen die Kinderzahlen bei sich gleichzeitig verringerndem Altersabstand dann aber stetig zurück. Der „Trend zur Zweikinderfamilie“ – zunächst deutlich eher ein städtisches denn ein ländliches Phänomen - bescherte den Kindern und Jugendlichen aufgrund erhöhter elterlicher Fürsorge und Zuwendung im Allgemeinen größere Entfaltungsmöglichkeiten und insbesondere in Unterschichtenfamilien zudem etwas mehr Platz in den beengten Wohnungen. Auch der damals schichtenübergreifend übliche autoritäre Erziehungsstil milderte sich teilweise.[7]

Insgesamt bleibt für den hier im Mittelpunkt stehenden Zeitraum aber festzuhalten, dass es damals im Vergleich zur Gegenwart eine Reihe von Faktoren gab, aufgrund derer sich die Geschwisterbeziehungen intensiver gestalteten als heute. Vor allem die gemeinsame Arbeit der Geschwister trug zu einer solchen Intensivierung der Beziehungen bei. Hier gab es jedoch deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Während sich die herangewachsenen Söhne in ihrer Freizeitaktivität stärker an dörflichen Jugendgruppen oder städtischen „Cliquen“ orientierten, überwogen für die Töchter die Kontakte im Rahmen von Hausgemeinschaft, Nachbarschaft und Verwandtschaft.[8]

Umfang und Intensität von Außenkontakten mussten auch Auswirkungen auf die Außenwahrnehmung und das darauf aufbauende Weltbild haben. Die familiensoziologische Forschung geht davon aus, dass Wert- und Anschauungskonflikte zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern in der Vergangenheit überall dort bedeutungslos waren, wo Jugendliche in eine anschauungsmäßig homogene Umwelt hineinwuchsen. Wenn keine alternative Orientierungsmöglichkeit gegeben waren, konnte kann es auch zu keinen weltanschaulichen Spannungen kommen, weshalb traditionale bäuerliche Gesellschaften hiervon auch relativ frei blieben. Im städtischen Milieu hingegen waren alternative Ausrichtungen und Verhaltensweisen viel früher möglich.[9]

Fußnoten

[1] Gestrich, Geschichte, S. 1

[2] Zitiert nach Peukert, Jugend, S. 58

[3] Mitterauer, Sozialgeschichte, S. 101. Vgl. dort, S. 99ff. auch zum Folgenden.

[4] Vgl. Gestrich, Geschichte, S. 6. Peukert, Jugend, S. 39f., weist auf die Folgen dieser Entwicklung für die Blickrichtung von Beobachtung und Forschung hin und skizziert weitere Differenzierungen, die bei Einzelfallstudien zu beachten wären: „Anders als Verallgemeinerungen illustrieren Einzeldarstellungen des Familienlebens die in soziologischen wie sozialhistorischen Studien oft vernachlässigte je individuelle Dimension familiärer Existenz, von Lebensläufen und Lebensentwürfen einzelner und in ihrer Eigenart ausgeprägten Persönlichkeiten gerade auch im oft vorschnell zur gesichtslosen Masse stilisierten Proletariat. Außerdem verdeutlichen sie, dass die Faktoren, die Zusammenhalt und Erziehungskraft von Unterschichtfamilien bestimmten, in unterschiedlichster Gewichtung und Kombination auftraten. Der Verschiedenheit der Einkommenshöhe und Beschäftigungsart, von urbaner, industrie-dörflicher und kleinstädtischer Siedlungsweise, von Herkunft und weltanschaulichem Milieu innerhalb der Lohnarbeiterschaft entsprachen genauso große Unterschiede im Lebenszuschnitt, im Lebensrhythmus und in der Lebensplanung.“

[5] Vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte, S. 102f.

[6] Vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte, S. 104

[7] Vgl. Büttner, Weimar, S. 259f.

[8] Vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte, S. 105

[9] Vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte, S. 124

zuletzt bearbeitet am: 13.09.2016