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Jugend! Deutschland 1918-1945
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"Erinnerungen" von Elisabeth Busch

Ihre "Erinnerungen" brachte Elisabeth Busch vermutlich unmittelbar nach Kriegsende auf der Basis von Tagebuchaufzeichnung zu Papier. Sie beginnen um 1937 und erstrecken sich bis 1946.

Von Elisabeth Währisch (geb. Busch) finden Sie hier auch ein "Lebensbuch" sowie - an dieser Stelle - eine ausführliche Lebensgeschichte.

Erinnerungen.

Bunererinnerungen.

Bunkergestalten.

Das tägliche Bunkerrennen brachte uns viele neue Bekanntschaften. So etliche Leute waren dort von grosser Bedeutung, unvergesslich in unsern Bunkererinnerungen. So etwa:

Frau Lauffer, die Bunkerschwester.
Grau vom Scheitel bis zur Sohle mit roten Wangen und lächelndem Bunde. Das war sie. Sie war sich ihrer Wichtigkeit vollauf bewusst. Oft ging’s, nach 2-3 stündigem Alarm (manchmal, oder vielmehr meistens auch schon eher) von Mund zu Mund: „Schwester soll kommen.“ (Der Artikel fiel der Einfachheit halber weg.) Und dann kam sie, fühlte dem kranken Menschenkind mit ernstem, wichtigem Gesicht den Puls, zog langsam ein Fläschchen aus ihrer Tasche, tröpfelte etwas ein, strich dem Kranken über die Stirn und sagte: „Ich komme gleich noch einmal wieder.“ So war’s immer, man kannte den Vorgang

 

schon ganz genau. Zweimal musste ich mich von ihr verbinden lassen, einmal am Knie, das andere Mal am Finger. (Die Leute meinten, das nächste Mal käme wohl die Nase dran.) Richtig lachen musste ich, als ich sah, mit welcher Wichtigkeit sie die Wunden abtupfte (mit Alkohol, dem Geruch nach zu schliessen) und dann vorsichtig verband, so richtig Genugtuung über ihre Daseinsberechtigung.

Doch sie hatte mehr Angst als Vaterlandsliebe. Sie rannte bei oder schon vor dem Voralarm wie eine Wilde los, und wenn bei Vollalarm dann die Leute drängten, stand sie unten an der Treppe und schimpfte und ermahnte, die Leute möchten doch schneller machen. Wir waren alle begeistert ob ihres freundlichen, mütterlichen Gesichtes; doch Papa meinte nur, sie sei eine alte Angeberin, die im Glauben lebte, mit ihrer Sache Deutschland noch retten zu können. Nun ja, seit wir amerikanisch sind, haben

unsere Wege auseinander geführt und sich nicht mehr gekreuzt.

[In Bleistift:] O, nun hab ich wieder etwas gefunden! Ein Schulbeispiel für viele! Aber muss ich dazu weiter ausholen. Also es spielt im Bunker:

 

Die „braune Frau“.
So wurde sie von uns genannt, sie, die uns immer unsern schönen Lichtplatz streitig zu machen suchte. Wir hatten uns angewöhnt, im Bunker zu lesen oder, was noch praktischer war, Strümpfe zu stopfen. (Ich wundere mich heute noch, wie es den Leuten möglich war, stundenlang untätig dazusitzen.) Da aber die Lampen so spärlich verteilt waren, rannte Renate beim ersten Ton der Sirene los, um unsern Stammplatz unter der 2. Birne noch zu ergattern. Gretel und ich folgten mit den Bunkerstühlchen. Meistens klappte die Sache auch noch, da der grösste Teil der Leute von weiter her kam und Renate wie ein Wiesel rennen kann. Nun war sie natürlich recht anspruchsvoll, weil sie für uns 4 Leute den Platz freihielt.

 

(Man überlege, das kleine Persönchen!)

R.’s Tornister. [Zeichnung]
So etwa sah’s aus!

Das ärgerte nun die braune Frau, die wir nicht ihrer Gesinnung, sondern ihres braunen Mantels und Hutes wegen so getauft hatten. Sie war ausserdem noch in eine braune, dicke Decke eingewickelt. Da diese Frau massig Zeit zu haben schien, sass sie neuerdings immer schon da, wenn wir kamen, und zwar ausgerechnet unter „unserer“ Lampe. Das war insofern gemein, als sie weder las noch stopfte, sondern stets ihren Kopf gesenkt hielt und schlief. Wenn nun Renate eher da war als sie und breitbeinig dort stand, mit allen 10 Fingern und ihrem Tornister Platz freihaltend, so schob sie den

Tornister fort, fing an zu schimpfen und zwängte auch Renate in eine Ecke hinein. Sass sie eher dort als wir, so sah man sie triumphierend lächeln, wenn wir vorbeikamen.

Zu Hause wurde das Leid geklagt und es gab geteilte Meinungen. Der Hausherr entschied [in Bleistift:] (war schon immer für feste, schnelle Entscheidungen Entschlüsse): „Das gibt’s nicht. Mit der Frau muss ich wohl mal sprechen!“ Die Hausfrau, sanfteren Geistes, meinte: „Da sollten wir jetzt mal ganz lieb sein und feurige Kohlen auf ihr Haupt sammeln. Wenn wir den Platz innehaben und sie kommt vorbei, sollte man aufstehen und ihr den Platz überlassen.“

Dieser Rat fand nicht viel Anklang. So blieb alles beim alten, nämlich beim Wettlauf zwischen der „braunen Frau“ und uns. Wochenlang hat dieser kleine Zank das Tempo unseres Bunkerlaufs bestimmt, bis sich alles in Wohlgefallen auflöste. Die 2. Birne wurde nämlich ausgeschaltet und an den Platz der dritten geschraubt.

 

Die „braune Frau“ blieb ihrem Platz treu, während wir es vorzogen, zu wandern. – Treffen wir sie heute, so gibt’s nur ein freundliches Begrüssen herüber und hinüber, alle Streitigkeiten sind vergessen.

Das Fräulein „mit Korsett und Bibel“.
Über diese wichtige Persönlichkeit ist nicht viel mehr zu sagen, als dass es uns ungeheuren Spass bereitete, sie so zu betiteln. Sie sass meist neben uns, von kleiner Gestalt, mit schwarzem, glattgebürstetem Haar, das hinten in einen Knoten zusammengefasst war, und strickte. Ich kenne sie nur in einem grünen Lodenmantel, oft trug sie auch recht merkwürdige, hohe, altmodische Schnürstiefel, immerhin das Richtige für den Bunker. Als ich einmal wieder neben ihr sass, lugten aus ihrer Tasche 2 Sachen: Ein Korsett und eine Bibel. Das trug ihr den etwas merkwürdigen Namen ein, der ihr noch heute anhängt. Wir kennen uns weiter nicht,

wir wissen noch nicht einmal ihren Namen. Was tut’s? In unsern Bunkererinnerungen bleibt sie unvergesslich als „die mit Korsett und Bibel“.

----

Herr Felthüsen, der „Schwager von Stauder“.
Wenn ich an Herrn Felthüsen denke, so suchen ihn meine Gedanken nicht, wie zu erwarten, im Bunker, sondern auf dem Weg zum Bunker.

Hatte man, einer gefährlichen Meldung des „Tickers“ zufolge, das heimatliche Haus in schnellem Lauf hinter sich gelassen und an der Schinkelstrasse die Kurve geschnappt, so konnte man im allgemeinen Herr Velthüsen in seinem Fenster hängen sehen und im Hintergrund das Tacken des Tickers vernehmen. Herr V. war jederzeit bereit, Auskunft zu erteilen, wie die Lage stand: Ob „sie“ gedreht hatten oder ob’s gefährlich wurde. War das [...]

 

[Karte] Eine anschauliche Karte zur Auskunft des Tickers, vielbenutzt und für uns von grosser Bedeutung. Jahrelang hing sie nun im Kabüschen. Wie glücklich sind wir, dass sie nun nur noch zu den Sachen gehört, die als Erinnerung aufbewahrt werden.

[...] letzte der Fall, so verschwand er vom Fenster, um gleich darauf mit den andern zusammen den Weg zum Bunker anzutreten. Wenn man ihn sah, musste man lachen. Er war ziemlich klein von Gestalt, untersetzt, trug eine Brille, eine Schlägermütze und im Gesicht eine rote Nase. Das waren seine Merkzeichen.

Dreimal bekam Papa auf seine Frage nach dem Beruf Herr Velthüsens die Antwort: „Herr V.? Ach, das ist der Schwager von Stauder!“ (Stauder Actien Bier!) Uns kam die Antwort immer recht lachhaft vor. Soll das etwas ein Beruf sein, „Schwager von Stauder?“ Es schien tatsächlich so. Das bewies sein stetiges Daheimhocken, das bewiesen auch seine rote Nase und seine heisere Stimme. – War Herr V. mit uns zum Bunker gewandert, so erhob er kraft seines Bunkerordneramtes seine Stimme, um, ähnlich den andern Ordnern, zu schimpfen und zu ermahnen, schneller zu gehen. Aber ach! Es war total hoffnungslos, denn seine

 

Stimme hatte vom vielen Trinken jegliche Kraft verloren, und so ging sein heiseres Krächzen in dem Krach und Stimmengewirr ganz unter.

Nein, Ordner war für ihn nicht der passende Beruf. Man konnte ihm nur sagen: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“ Das hiess für ihn: „Herr Felthüsen, nicht mehr sein wollen, als Du schon bist. Denn ist es nicht Glückes genug, Schwager von Stauder zu sein?“

 

Der „falsche Fakir“.
Seinen Namen trug er, weil wir eine gewisse Ähnlichkeit mit unserm richtigen Fakir festgestellt hatten.

Er besass nämlich dasselbe glatte, schwarze Haar und hatte ausserdem auch ein steifes Bein, mit dem er humpelte. Daher der Name. Alles andere jedoch ähnelte dem rechten Fakir nicht, der doch die Ruhe in Person ist. Wenn ich an den falschen Fakir [...]

Leichtsinn lockt Bomben!
Licht ist im Terrorkrieg der Wegweiser des Todes. Wer leichtsinnig die Verdunkelungspflicht versäumt, leistet dem Terror Beihilfe und setzt den Luftgangstern Zielmarkierungspunkte. Also: Gewissenhaft verdunkeln!

 

[...]denke, so sehe ich im Geist einen laut schreienden und heftig gestikulierenden Mann, denn schimpfen tat er immer. Er war ein einfacher Mann, der wohl im Leben nicht viel zu sagen hatte. Nun hatte er einen Posten, der es ihm erlaubte, Hoch und Niedrig anzuschimpfen und zu schikanieren, was er denn auch gründlich besorgte im Verein mit seinem Kumpan:

Herr Schüssler. Diese beiden waren das Verderben unseres schönen Stollens und brachten einen recht ordinären Ton hinein. Wehe, wer mit Herrn Schüssler anband. Dick und vollgefressen schrie er jeden an, der ihm in den Weg kam und schmauchte eine Zigarette nach der andern. Besonders schlimm trieb er’s mit den Ausländern, die er wie Tiere behandelte. Das war nicht nur gemein, son-

 

dern auch dumm, denn so etwas in einem Augenblick zu tun, da wir von allen Seiten von Feinden eingeschlossen sind, kann man nur Dummheit nennen. Eines Mittags nach einem Alarm hetzte er alle Leute auf: „Leute, kommt bloss heut Abend früh zum Bunker. Heute gibt’s noch was.“ Und die armen, verschüchterten Menschen wurden nur noch ängstlicher und nervöser. Dabei lag überhaupt nichts vor und der Abend verging wie jeder andere auch. Es muss eben kommandiert und angegeben werden! Doch beenden wir dies zwar unerschöpfliche wie aber (hässliche) [*unerfreuliche] Thema und wenden wir uns einem andern Bunkerwart zu:

Herr Schulz.
Von ihm ist eigentlich auch nicht viel zu erzählen. Er war von kleiner, untersetzter Gestalt, schon etwas älteren Jahrgangs, mit einem kleinen, grauen, wohlgepflegten

Schnurrbärtchen unter der Nase. Mit sämtlichen andern Ordnern hatte er gemein, dass er bei jeder Gelegenheit anfing, zu schimpfen. Doch war das bei ihm nicht so ernst gemeint. Im Grunde war er ein gutmütiger Mann, der niemand und dem niemand böse sein konnte. Er war eigentlich nicht von so grosser Bedeutung. Dass ich ihn hier erwähne, geschieht aus einem anderen Grund.

Während seiner Ordnerzeit ereignete sich etwas sehr Trauriges: Seine Frau starb. Das ist ja nun nicht komisch; komisch war nur sein Verhalten nach der Beerdigung. Er trug nun stets eine Bombe auf dem ehrwürdigen Schädel und schimpfte nicht mehr. Nein, das laute Schimpfen passte doch nicht zu einem Leidtragenden. Mit leiser, sanfter Stimme wurde nun nur noch angegeben und ermahnt. War das angenehm! Aber natürlich auch wieder nicht das Richtige für einen Ordner. So steckte er’s scheint’s auf, denn in der letzten

 

Zeit ist er mir nicht mehr begegnet.

„Frau Mucki!“
„Frau Mucki“ war eine von den Wenigen, die im Bunker nicht bunkermässig aussah, sondern auch hier die Vornehme spielte. Gross, mit etwas rötlichem, glattgescheiteltem Haar, das hinten in einen Knoten zusammengefasst war, mit wirklich schönen, vornehmen Gesichtszügen erinnerte sie an eine Römerin. Sie wurde stets von ihren beiden Kindern Racheel und Peter begleitet. Racheel war scheint’s ihr Liebling und wurde von ihr mit allen möglichen Kosenamen benannt; der häufigste war „Mucki“. So wurde sie von uns kurzweg „Frau Mucki“ genannt.

„Frau Mucki“ übte grossen Einfluss auf ihre Umwelt aus. Sie blieb oben stehen bis zum letzten Augenblick. Niemand sagte ihr etwas. Sie setzte sich, trotz strengen Verbotes, mitten in den Gang. Niemand wagte

sie daran zu hindern. Sie wusste, dass sie allen imponierte und nutzte das ohne Gewissensbisse aus. Versuchte wirklich einmal einer, ihr etwas zu sagen, so stand sie gleich auf, ging ihm mit gewinnendem Lächeln entgegen und erkundigte sich teilnehmend nach irgend jemand aus der Familie. Und siehe, sie schaffte es! Alle blieb, wie’s war. – Wir freuten uns immer, dass nicht nur an unserer, sondern auch an der Erziehung ihrer beiden Kinder „etwas daneben gegangen“ war, unserer Meinung nach. Ein Bunkerstühlchen wurde mitgebracht und ich habe nie gesehen, dass „Frau Mucki“ darauf gesessen hätte, stets nahm eines ihrer Kinder den Platz ein, was uns so seltsam vorkam. Wagte tatsächlich Mucki einmal, ihr den Platz anzubieten, so hiess es nur: „Noin, Mucki, danke, ich kann noch stehen!“ Und das in einem Tonfall, der uns immer zu sehr amüsierte und den ich beim Schreiben leider (!) nicht nachahmen kann. Ich habe den Ton noch so richtig im Ohr.

 

Ja, „Frau Mucki“ war eine von denen, die nicht in die Bunkeratmosphäre mit Dreck, Nässe und Schimpfen passte. Aber wer denkt auch daran, wenn’s um’s Leben geht?

Ich könnte noch viel erzählen von allen möglichen Bunkerbekanntschaften. Doch langt’s mir. Erwähnt werden muss nur noch kurz die Kinderschar, die stets zum Ärger sämtlicher Bunkerwarte in einem Klumpen zusammenstand und das schnelle Durchgehen hinderte. Da war der Dieter, der Bobschlitten, der dünne Blitzig oder Blitzableiter, der freche Speckkrabbel, die Gebrüder Fettmolch, kurz „Fett“ genannt, die laute Ulla und das hübsche, vielbegehrte „Tanzpüppchen“, im allgemeinen „Tütti“ genannt und noch so manche andere.

Einst war es Renates grösste Wonne, in diesem Kreis der „Grossen“ aufgenommen zu werden. Nun gefällt’s ihr dort

aber nicht so sehr und sie ist zurückgekehrt in den Kreis der Kleinen, in dem sie nun unbestrittene Herrscherin ist. Am liebsten ist ihr der Friedrich Wilhelm, der einst Friedhelm und nun schon Fred genannt wird. Die beiden Wilden verstehen’s halt miteinander.

Da werde ich wieder erinnert an meine Kameradinnen und an meine Schulzeit, die doch so schön war und die ich so genossen habe (obgleich die Ferien natürlich immer die schönsten Zeiten waren.)

 

Erinnerungen an die Essener Schulzeit.

(Von 1937-1943 in der Maria-Wächtler-Schule. Von Sommer 1943-Frühjahr 1944 auf der „Privatquetsche“ Passmann.)

[Foto] Inge Jenner   Edith Koog   Dagmar Hader   Erna Speitmann   Olga + Inge Draid
Eta Hohndahl   Margot Hußmann   Helga Gonlich   Dütti   Karola Goldschmidt   Doris Hilgert   Elfi u. Inge Bender   Hannelore Homm   Iris Junttert   Erika Kreiner
Eine Hälfte der Klasse 5 a in der Kaube unseres Schulhofes. (Maria-Wächtler-Schule.)

[Foto] Klasse 5 a bei einem Ausflug in die schöne Umgebung unserer Heimatstadt.

 

[Foto] Unsere Klasse 6 a mit unserer „Mathe“lehrerin Ilgen, genannt „Minka“.

[Foto] Unsere Klasse mit dem allseits umschwärmten Lehrer Rausch.

[Foto] Klasse 6 a mit der Turnlehrerin Frau Kissenkötter, kurz genannt „Kiki“. (Sommer 1943 gestorben.)

Ach ja, es war schön, so zu dreien zusammen zur Schule zu pilgern. Langweilig wurde uns der Weg nicht, zumal er nach alter Tradition ja meistens im Eiltempo zurückgelegt wurde.

„Es war seit Generationen so,
man hat es nie anders gekannt,
die Büschlein nie zur Schule gehn,
bei denen wird immer gerennt.“

Dieser Vers wurde bei uns volle Wahrheit. Man stand halt ein wenig zu spät auf, weil’s im Bett gar zu gemütlich war, frühstückte in Ruhe, hielt Andacht und die Zeit verging wie im Fluge. Wenn Papa und Renate uns dann bis zu den „Pünkten“ (gegenüber von Streuff) begleiteten, ging’s auch immer im gemütlichen Schneckentempo. An den Pünkten ein schneller Kuss, ein Hitlerabschiedsgruss und fort sausten sie und wir. An der Ecke gab’s meist ein Zusammentreffen mit Erika Hohndahl und Toni Bock und bis zur „grossen Uhr“ blieb das Tempo gemässigt. Dann sahen wir im-

 

mer zu unserm grossen Schrecken, wie spät es schon war und dass nur ein atemloser Lauf uns retten konnte. So trabten wir los und kamen gerade noch recht zum Beginn der Stunde.

Wenn’s Deutsch bei Frl. Dr. Rieger war, so freute ich mich im allgemeinen drauf. Fing der Tag aber mit „Mathe“ an, sei’s bei Becking, bei Precht oder beim Direx, so war’s ein schlechter Anfang, denn Mathe, Chemie und Physik waren meiner Behauptung nach immer „3 Nägel an meinem Sarge“. Wir hatten so die verschiedensten Typen von Lehrern. 6 Jahre lang hatten wir Frl. Neuhoff als Klassenlehrerin. Sie war B.D.M. Führerin und begeisterte, idealistisch gesinnte Nationalsozialistin, eine von den „Gefährlichen; die noch etwas wollen“, wie Papa zu sagen pflegte. Sie war von allen sehr geliebt, obwohl ihr Unterricht (Englisch und Erdkunde) zwar ganz schön, aber nicht bedeutend war. Immerhin muss ich anerkennen, dass sie in den ganzen 6 Jahren nie

ein Wort darüber gesagt hat, dass ich nicht im B.D.M. bin, mich auch niemals deshalb weniger beachtet hat. –

Die Maria-Wächtler-Schule war früher evangelisch und hatte die nettesten Lehrer u. Lehrerinnen. Ich brauche da nur an Frl. Serno, Frl. Nettlenbusch und Frl. Herzog zu denken, die einem die Schule wirklich schön machten. Dann wurde die Schule städtisch und die nettesten Pauker kamen weg. Dafür traten Menschen wie Oma Schmidt, Oma Klein, Oma Becking und Oma Digkhoff an ihre Stelle. Die Bezeichnung Oma war charakteristisch für alle: Sie standen alle vorm oder im Pensionsalter, waren daher stinklangweilig und hatten kein Elan mehr, die Klasse in Schuss zu halten.

Allerdings waren da auch noch etliche nette, tüchtige Lehrer, wie Dr. Rausch, dem Christa Wesemann sein Ein und alles war, Frau Kissenkötter („Kiki“ genannt), die uns Turnen und Schwimmen lehrte, Frl. Marks, die angab wie ’ne Tüte Fliegen, uns nebenbei aber

 

das Nähen beibrachte, Frl. Dr. Rieger, die so phantastischen deutschen und englischen Unterricht erteilte, Minka (Frl. Ilgen), die uns stets versuchte, mathematisch zu schulen, dabei aber meistens fehlging, Frl. Erdnüss die Dürre mit den krummen Beinen, die uns in die Anfänge der Chemie einführte und an unserer Dummheit fast zerschellte, Dr. Winter, der nicht viel sprach, uns aber viele biologische Kenntnisse vermittelte, Frl. Upmann, die uns das Zeichnen beibringen wollte und die Zensuren nur nach dem Betragen gab, Frl. Tigges, die grosse Nationalsozialistin, die uns phantastischen Geschichtsunterricht gab, in ihren Ausdrücken aber oft ordinär wurde („der schwache Unterleib Deutschlands wurde in ein Korsett gezwängt“ und noch so etliche andere.

Neben den Stunden lief noch immer so etliches andere: Die Kartoffelschalensam-

mlung, die Altmetallsammlung, Hilf-mit und Jugendbürgbestellungen, V.D.A. Sammlungen und dergleichen. Das gab Abwechslung. Doch das Schönste waren immer die Ferien, die wir im Sommer immer auf der schwäbischen Alb zubrachten. Wie viele herrliche Tage haben wir dort erlebt, von denen ich jetzt ein wenig erzählen will.

 

Erinnerungen an das Ferienparadies in Hülben.

Das alte Hülben, in dem wir so viele schöne Stunden verbrachten.

[Foto] Das Armenhaus hinter der Kirche, die Heimat des Kech, der so schön singen konnte: „Ich singe dir mit Herz und Mund“ mit der doppelten Wiederholung am Schluss als Höhepunkt.

[Foto] Blick vom Milchhäusle auf den nun verschwundenen Dorfteich und auf die Kirche, in der wir jeden Ferien-Sonntagmorgen verbrachten.

 

Postkarte] Das vielgeliebte „alte Schulhaus“, dessen Bild in uns die Erinnerungen an die schönsten Ferienabende wachruft.

[Foto] Der alte Brunnen im „Gängele“, das wir jeden Sommer unzählige Male durchschritten und das von unsrer schönen Schlafstatt bei „Königs“ zum vielbegehrten Bäckerkraut führte.

[Foto] Die Villa.

Jeden Sommer wurden wir von neuem mit offenen Grossmamaarmen im Villagarten empfangen. Ach, wie wohl fühlten wir uns doch dort in der Weltabgeschiedenheit und der herrlichen Landschaft. Wie freuten wir uns immer aufs Essen „unter den Buchen“, die uns vor der heissen Sonnenglut immer kühlen Schatten spendeten. Morgens brachte man seine Zeit meist mit Spaziergängen in die nähere Umgebung zu. Da führte der Weg zum Reihenkäpfle mit dem herrlichen Blick ins Pfählertal, zur schönen

 

Aussicht, die im Laufe der Jahre fast ganz zuwuchs oder etwa zum Etzeberg, der einen weiten Blick über Felder und Wiesen freiliess. Die einen lasen, die andern handarbeiteten oder suchten Erdbeeren, je nach Lust und Laune. Oder aber man tobte sich mal so richtig aus. Partner zum gegenseitigen Käbbeln waren genug da, denn die Villa war immer überfüllt und besonders mit Enkeln bis unters Dach vollgestopft.

Die beiden eingeklebten Bilder zeugen ein wenig von der Gemütlichkeit eines Ferienmorgens auf dem Etzeberg.

Hatte man so einige Tage in Faulheit verbracht, so kam einen die Lust zum Wandern an. Welch herrliche Touren haben wir miteinander gemacht: zum Hohen-Urach, Hohen Neuffen, zur Teck und zum Lichtenstein. Auch sämtliche Monatsstunden in der Umgegend waren ein beliebtes Ausflugsziel. Gern denke ich noch immer an die Wanderungen zur Reutlinger Monatsstund, über Skt. Johann, wo immer gesungen werden musste, über den Fohlenstall und weiter über die Hochfläche, bis man Reutlingen im Tal liegen sah. Dann mit der meist grossen Schar zur Stund, die meist so voll war, dass wir draussen im Flur stehen mussten und oft garnichts verstanden. Das machte aber garnichts, denn schon das ganze Drumherum genossen wir so sehr. Nach der Stund zog man ge-

 

[Foto] Auf fröhlicher Tour zum Lichtenstein. (Im Jahre 1940.)

 

meinsam zu Elsa Ruoss und verschmauste die guten Kimmicher, die sie jedes Jahr für uns bereit hielt. Gegen Abend zogen wir dann befriedigt und voll schöner Eindrücke und Erinnerungen zur Villa zurück.

Sehr beliebt war auch immer das Jusifest, das jedes Jahr wieder stattfand und zu dem sich alles Volk des Herrn einfand.

 

[Foto] Ein kleiner Ausschnitt aus einer Jusiversammlung.

Das gemeinsame Leben gab Lust zu gemeinsamen Aufführungen. So wurde es zur Tradition, dass die Köngener und wir jedes Jahr ein Märchenspiel einübten, für das wochenlang geprobt wurde und das zum Schluss der Ferien gezeigt wurde.

 

[Fotos] Hier 2 Abbildungen der „goldenen Gans“.

 

Fahrt nach Hülben!
Jedes Jahr waren wir noch mit der Bahn gefahren. Nun beschlossen wir, es mit dem Rad zu versuchen. Bei herrlichem Wetter fuhren wir, d. h. Papa, Wilhelm, Hanna und ich los nach Württemberg. (Sommer 1941.) Erster Tag: Über Hattingen, Witten bis Altenhundem. Am nächsten Morgen mit dem Zug bis Siegen, Besuch auf dem Rödgen bei Missionsinspektor Hoffmann, der uns garnicht wieder loslassen will und uns einen herrlichen Kaffee in der Kaube vorsetzt. Weiter ins Siegerland hinein mit Papas Erzählungen über Tillmann Siebel und die Erweckungsbewegung, ins Dilltal hinunter nach Dillenburg, bei blauestem Himmel Besuch auf der Burg, in der Mittagshitze bis Herborn, Rundgang durchs Städtchen bis zum Eintreffen des Zuges nach Frankfurth. Nach erfrischendem Abendbrot Rundfahrt durch Frankfurth (Luckaskirche, „faule Eierwasserfrau“, Römer, alte spitzweg’sche Fachwerkbauten.) Papas Farradunglück und seine Rettung durch „Friedsche“. Die Nacht im

„Schweizer Hof“ mit dollem Alarm. Am nächsten Morgen um 6 Uhr zu Grosspapas und Theodors Grab, dann auf der Landstrasse durch den Frankfurter Stadtwald. Auf einem einsamen, gefällten Baumstamm Morgenandacht. In der allmählich wachsenden Hitze nach Grossumstadt. Appelsafttrunk auf der Strasse unter andächtigem Zusehen der Dorfjugend.

Fahrt zum auswärts liegenden Bahnhof. Nahrhaftes Frühstück im leeren Zug, wegen verklebter Bänke Übersiedlung ins nächste Abteil. Fahrt in den Odenwald. Auf nach Heidelberg! Herrliches Radeln in der heissen Sonne durchs Neckartal an Neckarsteinach vorbei. Erfrischendes Bad im Neckar. Hanna lässt ihre Uhr mitbaden. Weiterfahrt bis Heidelberg. Entzückender Abendspaziergang zur Molkenkur und anschließend zum Schloss. Herrliche Aussicht. Bei der Rückkehr Begegnung mit dem „Erfinder“. (Bubeck)

Am nächsten Morgen um 6 Uhr Weiterfahrt nach Karlsruhe. Das schöne „Heil Hitler“erlebnis. Besichtigung des Schlosses. Eilige Fahrt zum

 

Hardthaus. Mit dem Bimmelbähnchen nach Herrenalb in den Schwarzwald. Grosse, blühende Wiesen mit kleinen Bächlein, dunkle Tannen. Das Murgtal entlang nach Langenach am Fuss der Hornisgrinde. Herrliche Aussicht auf die Talwiesen, ringsum das Schweigen der hohen Tannen. Wir übernachten im einsamen „Auerhahn“.

Am nächsten Morgen Aufstieg zur Hornisgrinde. 17 km. bergauf. Am Westwall vorbei. Spannung auf den berühmten Mummelsee. K.L.V. Lager. Oben Flack. Herrliche Aussicht über den ganzen Schwarzwald. 17 km bergab nach Gernsbach. Von da heisser, steiler Weg nach Freudenstadt. Hannas Geburtstagessen mit Eis. Allmählich weiter der Alb zu. Ankunft in Oberndorf. Kaffee, Essen, Spaziergang. Am nächsten Morgen kaltes Bad im Neckar. Weiterfahrt nach Rosenfeld. Besuch bei den tief gerührten Sülzles. Weiter zum Hohenzollern. Auf halber Höhe zum 1. mal ein Gewitter. Wir sind klatschnass und machen uns nichts drauss.

Hohenzollern, weiter Bau, viele Türme. Führung durch die Räume und Kapelle. Weite Aussicht. Gefährliche Bergabfahrt. Über Hechingen, Reutlingen, Metzingen nach Dettingen. Kurzer Imbiss. Dettinger Steige hinauf. Grosse Bremsenplage. Ankunft in Hülben. Grosses Begrüssen. Abends im Schulhaus Erzählen.

 

Erinnerungen an die Zeit auf der Privatschule Passmann.

Wenn ich an die Zeit zurückdenke, kann ich nur lachen. So etwas nannte sich Schule! Aber was blieb mir anderes übrig, als sie zu besuchen?

Im Oktober 1943 wurden unsere Oberklassen, die bis jetzt noch im Gebäude der Victoriaschule existiert hatten, ins Protektorat verschickt wo sie heute (April 1945) in dieser schwierigen Lage noch sitzen. Das war für uns nun sehr schade.

Hanna fing nun im Huyssenstift als Krankenpflegeschülerin an während ich bis November zu Hause blieb. Doch dann fürchteten wir zu sehr das Arbeitsamt und so beschloss ich, trotz meines Widerwillens, in die „Privatquetsche Passmann“ einzutreten. Früher hätte ich so etwas niemals getan, denn die Schule stand nicht im besten Ruf. Das Schulgebäude war zu 70° [%] zerstört, d. h. es stand nur noch eine Etage. Das bewirkte, dass wir der Aufbauarbeiten halber die meiste Zeit Ferien hatten und das ausserdem die Klassen riesen-

 

gross waren. Wir hatten 31 Mädels und etwa genau so viele Jungens. Vor der Verschickung waren’s nur 4 Mädels und nun auf einmal 31. Alles reaktionäre Volk, das zur Evakuierung keine Lust hatte, traf sich hier also.

Sehr merkwürdig fand ich, dass niemand einen hinderte, zu gehen oder zu kommen, wann man wollte. Wer fehlte, brauchte keine Entschuldigung. Man kam, wann und so oft man wollte, oder liess es auch bleiben. Die Lehrerschaft bestand aus einer 19 jährigen, beim Abitur durchgefallenen jungen Lehrerin, einem 21 jährigen Argentinier, genannt Orlando, einem alten Opa, 2 Volksschullehrerinnen und einem jungen Lehrer, der sich aber in dieser riesigen Klasse nicht durchsetzen konnte und immer nur schrie und schimpfte. Das also war das Lehrerkollegium.

Englisch etwa hatten wir bei „Orlando“. Er liess uns etwas lesen, sah, dass ein paar der Jungens Schach spielten, setzte sich dazu,

spielte mit und überliess uns unserem Schicksal.

Aufgaben bekamen wir in dem Vierteljahr nur zweimal auf. Im übrigen hatten wir nie etwas zu tun. Mit zwei Worten gesagt: Lernen tat man nichts, wofür man aber 32 RM im Monat bezahlen durfte. Im Februar wurde die Schule verboten. Nun sass ich wieder auf dem Trockenen.

Dazu kamen die Gerüchte, die Schüler, die am ersten März in keiner Schule wären, würden vom Arbeitsamt eingezogen. Mitten in diese Schulangelegenheit platzte die Nachricht von Wilhelms Tod.

Noch selten hat mich etwas so erschüttert wie diese Nachricht. (24. Febr. 44)

 

[Todesanzeige:]

Unser lieber Sohn und Bruder
Grenadier
Wilhelm Busch
stud. mus.
ist am 7. Februar im Osten gefallen, „Christus aber hat dem Tode die Macht genommen“
W. Busch, Pfarrer, und Frau Emmi, Hanna-Maria, Elisabeth, Margarete, Renate.

 

2 Tage vorher hatten wir noch zwei Briefe bekommen, (vom 2. und 4. Febr.) in denen er schrieb, dass er so Schreckliches erlebt hätte, so wunderbare Führungen Gottes erlebt hätte und nun daran wäre, einen Aufsatz über den Un-

 

terschied von klassischer und Schlagermusik zu schreiben.

2 Tage nach diesen Briefen, die uns nach dreiwöchiger Wartezeit so sehr erfreut hatten, kam die Todesnachricht, die ein Parteimann von der Ortsgruppe Wasserturm brachte. Wilhelm war am 4. Febr. 1944 zu neuem Einsatz nach vorne gefahren worden, als eine russische Granate sein Auto traf. Mit vielen Granatsplittern im Gesäss und in den Oberschenkeln wurde er auf dem Hauptverbandsplatz Luga eingeliefert und ist dort am 7. Febr. gestorben und begraben worden. Von seinen letzten 3 Tagen wissen wir nichts mehr. Nach einiger Zeit kam sein Nachlass: Eine Bibel, Waffen des Worts, Feldgesangbuch, Portmonnai und Briefmappe. Die Sachen beim Tross fielen in die Hände der Russen. –

Am 28. Febr. wurde beschlossen, dass ich auf die Bielefelder Schule gehen solle, um dem Arbeitsamt zu entrinnen. Das fiel mir in diesem Augenblick natürlich schwer, war im Augenblick aber die günstigste Gelegenheit.

So reiste ich am 28. Febr. nachmittags ab, um festzustellen, ob ich noch aufgenommen würde. Erst war der Direktor sehr zurückhaltend, als Frl. Pape aber so sehr bat, erlaubte er mir den Eintritt in die sprachliche Klasse 6 unter der Bedingung, dass ich im Sommer vor den Ferien die Eintrittsprüfung ablegen solle.

So trat ich am ersten März in die Cecilienschule ein.

 

Erinnerungen an meine Bielefelder Schulzeit.
(1. März – 23. Sept. 1944.)

[Fotos] Von nun an besuchte ich also die „Cecilia“. Ich wohnte bei „Ompa“ (Oma + Opa) und Tante Ine, mit denen ich mich fabelhaft verstand.

Jeden Morgen musste ich rennen, um die Strassenbahn noch zu erwischen, mit der ich bis zum Jahnplatz, dem Zentrum Bielefelds,

 

fuhr. In meiner Klasse fühlte ich mich sehr wohl, denn ich hatte sehr nette Kameradinnen, die mich gleich in ihren Kreis aufnahmen. Unter ihnen waren etwa die Hälfte von Bethel (Diakons- und Pfarrertöchter.) Mit ihnen verstand ich mich natürlich besonders gut. Sie waren allesamt Kindergottesdiensthelferinnen. Die Lehrer waren im grossen und ganzen auch sehr nett. Als Klassenlehrerin hatten wir Frl. Dr. Bork, aus der selbst die Lehrer und noch viel weniger wir Schülerinnen klug wurden. Beim Sprechen sah sie stets über die Klasse hinweg in irgendeine Ecke. Sie liebte uns innig und verteidigte uns sämtlichen Lehrern gegenüber mit glühender Begeisterung, während sie uns gegenüber stets behauptete, wir wären im Absinken und machten ihr gar keinen Spass mehr. Englisch erteilte uns Herr Graf, der schon Mama unterrichtet hatte. Einst fragte er mich, ob ich auch so begabt sei wie meine Mutter? Auf die

 

uns immer königlich, sie waren auch wirklich schön. Ihre Lieblingswörter waren: „betrüblich“ und „erfreulich“. Die Klasse hatte immer grossen Spass dran. Ich erzählte es Tante Ine und die verriet es Frl. Cremer. Nun zog sie mich viel damit auf. Noch schrecklicher war, dass sie nun als Lieblingsausdruck das Wort „kummervoll“ wählte, das natürlich noch einen grösseren Reiz auf die Klasse ausübte.

Als es hiess, sie solle fortkommen ins K.L.V. Lager war die ganze Schule tiefbetrübt und alles atmete auf, als sie nun doch dablieb. –

Herrlich waren auch die Musikstunden bei Herrn Feldmann, Zum erstenmal in meinem Leben vernünftiger und oft zu grossen Auseinandersetzungen führender Musikunterricht. Er verstand es wirklich, einem etwa Bach näher zu bringen. Noch schöner war Donnerstag morgens um 7 Uhr die Schulorchesterstunde. (17 Geigen, 3 Celli, 2 Bratschen.) Wir spielten die schönsten Sachen, besonders beliebt waren die

Haas’schen Kantaten mit dem grossen Schulchor zusammen. (Zum Lob der Arbeit, zum Lob der Musik.) Aufs Orchester freute ich mich immer aufs neue. –

Witzig war der Lateinpauker. Klein, kugelig, mit einer leise beflaumten Glatze, stürmte er immer im Eilschritt in die Klasse, Mantel, Hut und Mappe überm Arm, schmiss die Tür mit Schwung zu, rief an der Türe schon sein „Heil Hitler“, bei dem ihm oft von seinen Sachen etwas hinkollerte, stürzte um die Tafel, mit einem Stück Kreide bewaffnet, schrieb irgend eine Form an und sagte (er sprach sehr schnell und überstürzt): „Jetzt woll’n wir mal ein paar Förmchen machen.“ Er redete stets nur in Verkleinerungen: Deklinatiönchen, Förmchen, Konjugatiönchen, Sätzchen u. s. w. Trotzdem ich noch garkein Latein konnte, sondern nur im Lauf der Zeit langsam nachholte, nahm er mich stets so oft dran wie die andern. Da half kein Widerstreben, er sagte nur: „Ach, klar, Sie kön-

Haas’schen Kantaten mit dem grossen Schulchor zusammen. (Zum Lob der Arbeit, zum Lob der Musik.) Aufs Orchester freute ich mich immer aufs neue. –

Witzig war der Lateinpauker. Klein, kugelig, mit einer leise beflaumten Glatze, stürmte er immer im Eilschritt in die Klasse, Mantel, Hut und Mappe überm Arm, schmiss die Tür mit Schwung zu, rief an der Türe schon sein „Heil Hitler“, bei dem ihm oft von seinen Sachen etwas hinkollerte, stürzte um die Tafel, mit einem Stück Kreide bewaffnet, schrieb irgend eine Form an und sagte (er sprach sehr schnell und überstürzt): „Jetzt woll’n wir mal ein paar Förmchen machen.“ Er redete stets nur in Verkleinerungen: Deklinatiönchen, Förmchen, Konjugatiönchen, Sätzchen u. s. w. Trotzdem ich noch garkein Latein konnte, sondern nur im Lauf der Zeit langsam nachholte, nahm er mich stets so oft dran wie die andern. Da half kein Widerstreben, er sagte nur: „Ach, klar, Sie kön-

 

nen das schon!“ Da half mir nur, dass ich in der letzten Bank sass und von allen Seiten Hilfe bekam.

Wir lernten in diesem Vierteljahr 2 latein. Lieder, das eine war eine Übersetzung von „der Mai ist gekommen.“ Mit immer neuer Begeisterung schmetterten wir am Anfang aller jener Stunden das „advenit mensis maius“ in die Gegend hinein. –

Kunstgeschichte gab Frl. Kuhle. Ich glaube, es war selten eine Lehrerin zu finden, die so sanften Geistes war wie sie. Es lag immer ein leiser Geruch von Langweiligkeit über ihren Stunden, doch war sie rührend bemüht, uns etwas beizubringen, aber stets ängstlich abwehrend, uns ihre Meinung aufzudrängen. Mit ihr besuchten wir noch die Kirchen Bielefelds, kurz bevor sie der Zerstörung anheimfielen. –

Am 1. Juni wurde ich mit Scharlach in „Kapernaum“ in Bethel eingeliefert. Ich war furchtbar unglücklich, nun 6 Wochen fest daliegen zu müssen.

Lieblingswörter waren: „betrüblich“ und „erfreulich“. Die Klasse hatte immer grossen Spass dran. Ich erzählte es Tante Ine und die verriet es Frl. Cremer. Nun zog sie mich viel damit auf. Noch schrecklicher war, dass sie nun als Lieblingsausdruck das Wort „kummervoll“ wählte, das natürlich noch einen grösseren Reiz auf die Klasse ausübte.

Als es hiess, sie solle fortkommen ins K.L.V. Lager war die ganze Schule tiefbetrübt und alles atmete auf, als sie nun doch dablieb. –

Herrlich waren auch die Musikstunden bei Herrn Feldmann, Zum erstenmal in meinem Leben vernünftiger und oft zu grossen Auseinandersetzungen führender Musikunterricht. Er verstand es wirklich, einem etwa Bach näher zu bringen. Noch schöner war Donnerstag morgens um 7 Uhr die Schulorchesterstunde. (17 Geigen, 3 Celli, 2 Bratschen.) Wir spielten die schönsten Sachen, besonders beliebt waren die

[Stempel:]

Fahrkarten-Ausgabe Bielefeld-Hbf.
19. Aug. 1944
Schalter 4

Fahrkarten-Ausgabe Bielefeld-Hbf.
19. Aug. 1944
Schalter 4

Fahrkarten-Ausgabe Bielefeld-Hbf.
Sept. 44
Schalter 5

13. Okt. 1944 gestrichen

 

Ein bedeutungsvolles Stück Papier, das mir auch nach der Reisesperre erlaubte, wenigstens einmal im Monat meine „Lieben in der Heimat“ wiederzusehen.

 

Zuerst gefiehl’s mir garnicht, weil ich mich mit 2 von den 6 andern Insassen garnicht verstand. Doch als die beiden kurz nacheinander entlassen wurden, fühlte ich mich dort ganz wohl, bekam ich doch fast täglich 3-4 Postsachen, von zu Hause, von Klassenkameradinnen, von Lehrerinnen, von Verwandten und Bekannten. Alle beneideten mich darum, denn auch Besuch bekam ich mehreremale täglich. Besonders Dorle Hege liebte es, stundenlang die Unterhaltung zwischen dem Fenster und dem Weg unten, wo sie stand, fortzusetzen. Das Essen war vorzüglich und sehr reichlich, sodass ich sogar 3 Pfd. zunahm und, wie jeder behauptete, so gut aussah, wie selten in meinem Leben. Mama kam 2 x von Essen, einmal mit Papa, was mich besonders freute. So wurde mir die Zeit nicht arg lang, obwohl ich natürlich sehnsüchtig auf das Ende der Zeit wartete. In den ersten Tagen meiner Scharlachzeit kam die englische Invasion in der Normandie. Ich fürchtete den schnellen Vormarsch, ein Eindringen ins Ruhrgebiet

Dr. med Genner   Facharzt für innere Krankheiten
Essen, den 21.9.44.
Hohe Buchen 8   Telefon 423 50

Aerztl. Attest

Frl. Elisabeth Busch, geb. 21.1.27, aus Essen
leidet im Gefolge einer schweren Scharlacherkrankung noch an einer Herzmuskelschwäche (Myocarditis, Systolicum-Hypotonie) mit Kreislaufschwäche.
Sie ist vom Turnunterricht und allem anstrengenden Dienst zu befreien, auf die Dauer von 3 Monaten.

Dr. Genner.

 

und im Abgeschnittenwerden von Daheim. Wer hätte gedacht, dass das Erwartete fast ein ganzes Jahr später erst eintreffen würde?

Einen Tag vor den grossen Ferien wurde ich entlassen. Wirklich eine günstige Zeit. So brauchte ich auch den von allen Schülerinnen geforderten Einsatz nicht zu machen, sondern durfte mit den „andern“ zusammen 4 herrliche Ferienwochen teils in Essen, teils in Hülben erleben.

Doch fühlte ich mich in der neu beginnenden Schulzeit nie richtig wohl, frohr immer und war stets zum Schlafen aufgelegt.

So besorgte ich mir dieses Attest, das auch in andrer Beziehung für mich wichtig war. Im August-September kamen die Schüler und Schülerinnen der Umgegend zum Westwallschippen fort und auch uns drohte die Schipperei. Nun war ich wenigstens vorläufig gesichert.

Ende September kam dann der erste Angriff auf Bielefeld. Ich war grad in Bethel

[Karte:]

Deutlich schreiben!
Lebenszeichen von Busch Wilhelm
aus Essen Wallotstr. 13
Datum: 27.4.

Alle freundlich be[.?.]. Herkommen wegen Reiseschwierigkeit lieber unterlassen.
Mama

Diese wichtige Karte kam glücklicherweise erst an, nachdem ich die gewöhnliche, alle 14 tage steigende Fahrt über Samstag-Sonntag schon angetreten hatte. Allerdings fuhr ich nun in die Ungewissheit hinein. Zu Hause traf ich alles mit „deutschem Normalschaden“ = „NS Einheitsschaden“ an. (Allerdings nicht die Menschen.)

 

bei einer Klassenkameradin zu Besuch, als das Verhängnis über Bielefeld hereinbrach. Bei „Ompa“ blieb glücklicherweise alles heil, auch in Bethel, aber mit der Schule war’s natürlich aus, obwohl das Gebäude noch stand. Ich wurde zusammen mit Ruth Speck, einer Pfarrertochter aus Lyck, im Ernährungsamt Weidenschule eingesetzt, wo es mir eigentlich ganz gut gefiehl. Ich gab mit Lebensmittelkarten aus, stempelte Karten ungültig, suchte Sonderkarten mit aus und dergl. Ich arbeitete mit einer Frl. Greve zusammen, deren Schwester in Mamas Klasse gewesen war und die Papa von früher her kannte; das war mein Glück. Sie war rührend um mich besorgt und ich wurde wie eine Nichte von ihr behandelt. Fast täglich brachte sie mir irgendetwas Gutes mit, mal ein Ei, das sie beim Gaumeister kochen liess, mal einen Apfel oder eine Birne, oder auch ein paar Scheiben Weissbrot und herrlichen, selbstgemachten Gelee. Zu Hause, d. h. bei „Ompa“, [...]

[Ausweis:]

Reichsarbeitsdienst-Pflichtausweis
Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend

Der RAD-Pflichtausweis ist von der Inhaberin bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres sorgfältig zu verwahren und auf Verlangen den Dienststellen des Reichsarbeitsdienstes, den Behörden der allgemeinen und inneren Verwaltung und im Ausland den Auslandsvertretungen des Deutschen Reiches vorzulegen.

Der RAD-Pflichtausweis ist eine öffentliche Urkunde und ist nur mit der eigenhändigen Unterschrift der Inhaberin gültig. Eintragungen dürfen nur durch Dienststellen des Reichsarbeitsdienstes erfolgen. Fälschung oder mißbräuchliche Benutzung des RAD-Pflichtausweises wird strafrechtlich verfolgt.

Der Verlust des RAD-Pflichtausweises ist unverzüglich dem für die Wohnung der Pflichtausweis-Inhaberin zuständigen RAD-Meldeamt schriftlich unter Angabe von Vor- und Familiennamen, Geburtsdatum, Geburtsort und genauer Anschrift anzuzeigen. Außerdem ist von der Verliererin eidesstattlich zu versichern, daß der RAD-Pflichtausweis verloren oder vernichtet ist und alle Bemühungen zur Wiedererlangung erfolglos blieben. Die Zweitausfertigung ist gebührenpflichtig. Bei nachweisbar schuldlosem Verlust erfolgt gebührenfreie Ausstellung.

 

Bielefeld, Datum des Poststempels

Gestellungsaufforderung!
Sie werden hiermit aufgefordert, sich zu dem umseitig näher bezeichneten Termin pünktlich zur Musterung der weiblichen Jugend für den Reichsarbeitsdienst zu stellen.

Es sind mitzubringen:

a) Geburtsschein (Familienbuch, Ahnenpaß, Taufschein);
b) Schulabschlußzeugnisse, Lehrverträge, Nachweise über die Berufsausbildung;
c) Arbeitsbuch, soweit es ausgestellt ist; dieses hat der Unternehmer der Dienstpflichtigen zu diesem Zweck auszuhändigen;
d) Ausweise oder Bescheinigungen über die Zugehörigkeit zum BDM; zur NSDAP; zum RLB (Reichsluftschutzbund); zu einer Gliederung des Deutschen Roten Kreuzes (dazu auch Nachweis über die Ausbildung, Sanitätsschein oder Personalausweis DRK):
e) Nachweis über den Besitz des Reichssportabzeichens;
f) Freischwimmerzeugnis, Rettungsschwimmerzeugnis, Grundschein, Leistungsschein, Lehrschein der Deutschen Lebensrettungsgemeinschaft (DLRG);
g) für einen etwaigen Zurückstellungsantrag die erforderlichen Beweismittel, soweit noch nicht eingereicht;
h) Brillenrezept;
i) Erfassungsbescheinigung.

Fahrtkosten werden vom Reichsarbeitsdienst nicht erstattet.

Wenn Sie durch vorübergehende Abwesenheit von Ihrer Wohnung am Erscheinen gehindert sind, so haben Sie unter Angabe der Gründe und Dauer der Abwesenheit sofort Mitteilung zu machen und nach Rückkehr unverzüglich, Viktoriastr. 9, Zimmer 10, zu erscheinen. Bei Verhinderung Ihres Erscheinens durch Krankheit ist ein vom Amtsarzt bescheinigtes ärztliches Zeugnis einzureichen. Sie können für die Dauer der Erkrankung von der Pflicht zum Erscheinen befreit werden. Völlig Untaugliche (Geisteskranke, Krüppel usw.) können nach Beibringung des vorgenannten Zeugnisses von der Pflicht zum Erscheinen befreit werden.

Unentschuldigtes Fernbleiben zieht Bestrafung nach sich.

Diese Ladung ist mitzubringen.

Der Oberbürgermeister als Kreispolizeibehörde.

 

Wie froh bin ich, dass mich dieser Verein nicht mehr erwischt hat und ich ohne B.D.M. und R.A.D. durchs 3. Reich gekommen bin.

[...]herrschte jetzt reger Betrieb. Onkel Paul war beim Angriff total ausgebombt und mit Tante Klara und Frau Koselski, seiner Schwiegermutter, ganz zu Opa übergesiedelt. Mit Onkel Paul war’s nett, aber die beiden Frauen übertrafen sich gegenseitig in ihrer Nervosität und fielen uns mit ihrem lauten, lebhaften Organ bald auf die Nerven. Besonders schwer trug Opa daran, als Tante Elisabeth ihr 11. Kind, einen Traugott, zur Welt brachte und dabei fast selber ums Leben gekommen wäre. Auch den 2. Angriff machte ich in Bielefeld (Innenstadt) mit. Die Angriffe waren insofern fürchterlich, als sie so unerwartet kamen und soviel Menschen dabei ums [..] kamen, auch eine unserer Lehrerinnen und eine ganze Anzahl von unsern Schülerinnen, die noch am Morgen mit uns ahnungslos zur Schule gewandert waren.

Am 15. Oktober kehrte ich nach Essen zurück, da es mit der Schule vorläufig doch aus war.

 

Erinnerungen an das letzte halbe Jahr vor der Besetzung durch die Nordamerikaner.

Nach Hause zurückgekehrt schrieben wir erst mal an den Bielefelder Bann, ob mein Einsatz auch hier möglich sei. Keine Antwort kam. Auf nochmalige Anfrage erhielten wir im Dezember die Antwort: „Hiermit überweisen wir dich an den Bann Essen, der dich zum Einsatz heranziehen wird“.

Weiter erfolgte nichts und ich hoffte, der Brief sei durch die Angriffe verlorengegangen. Weihnachten durften wir noch gemütlich miteinander feiern, in einem noch halbwegs heilen Hause. Nur Wilhelm fehlte uns natürlich sehr dabei.

Mitte Januar bekam ich Bescheid, ich würde zum Einsatz im Volksturmlager verpflichtet. Oh, Schreck!

So tackelte ich ich jeden Morgen ins Lager nach Steele, wo etwa 60-80 Jungen in 4 tägigen Lehrgängen ausgebildet wurden. Mit 7 andern Mädeln ersetzte ich Putzfrau und Spülmädchen. Die Arbeit war nicht immer angenehm, doch brauchte ich auf Grund meines Attestes nur halb-

 

tägigen Einsatz zu machen. Dichte Schuhe besass ich nicht, so konnte ich natürlich oft bei dem Schnee und der Matsche nicht gehen. Nach 3 wöchigem Einsatz wurde ich wegen Überfülle von Kräften entlassen und zu neuem Einsatz bereitgestellt.

Doch nichts geschah, so ging ich hier im Haushalt wieder zur Hand. Am 11. März. 45 erlebten wir unsern letzten Angriff, der aber auch der Schrecklichste war. Nun wurde der grösste Teil von Essen wirklich „plattgelegt“. Vor unserem Hause waren und sind noch 3 riesige Trichter. Das Nebenhaus Hanewinkel ist ein Trümmerhaufen und auch unser früher liebliches Gärtchen ist nunmehr ein grosser Krater. Das ist unser grösster Schmerz. Es ist ein Wunder, dass unser „Puppenhäuschen“ überhaupt noch steht, obwohl nun natürlich verschiedene Mauern eingestürzt sind, keine von den wieder zusammengenagelten Türen mehr richtig schliesst und das Dach mitsamt dem ganzen oberen Stockwerk hoffnungslos aussieht. Trotzdem sind wir

dankbar, dass das Häuschen doch noch steht und wir noch eine Bleibe haben.

Das Weiglehaus bekam bei diesem Angriff seinen Rest. Es wurde von mehreren Bomben getroffen, sodass wir nur noch im Keller unsre nun so vollen Gottesdienste halten können. Die Zahl der Todesopfer war enorm gross. Besonders erschütterte uns der Tod der ganzen Familie „Paule“, die jeden Sonntag im Gottesdienst gewesen waren und nun in ihrem Eisenbahnbünkerchen mit sämtlichen andern Insassen den Tod fanden.

Dieser letzte Angriff machte die Essener Bevölkerung mürbe, sodass es nicht mehr zu einem grossen Schlusskampf kam.

 

Essen, als es noch in seiner ganzen Schönheit stand.

Unser liebes, altes Pfarrhaus in der Weiglestrasse, das 15 Jahre lang unsere Heimat war.

Gemütliche Studierzimmerecke in der Weiglestrasse.

Unser Esszimmer in der Weiglestrasse.

 

Die Auferstehungskirche am Kurfürstenplatz. 7 Jahre lang wanderte ich Sonntag für Sonntag dorthin zum Kindergottesdienst.

Der „Ruhrblick“, der jeden Sonntag Nachmittag unser beliebtes Ausflugsziel war.

Das Weiglehaus, das einst der Sammelplatz der hiesigen Jugendarbeit war und nun in Trümmern liegt.

Auch das nennt man Evangeliumsverkündigung! Einige Proben aus dem deutsch-christlichen, kirchlichen Anzeiger.

 

Gottesfeier der Deutschen Christen (National-kirchliche Einung), Essen-Rüttenscheid, am Sonntag, dem 12. September, 16 Uhr, im Gustav-Adolf-Haus, Margarethenhöhe, durch Pfarrer i. R. Schneider. Thema: Mobilisierung der tiefsten seelischen Kräfte des deutschen Volkes im Kampf gegen die satanischen Mächte des bolschewistischen Untermenschentums und des jüdischen Kapitalismus. Das ist der Kirche göttlicher Auftrag und völkische Pflicht. Text: Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten u. Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.

Essen-Rüttenscheid, am Sonntag, d. 13. Februar, nachm. 16 Uhr, in der Reformationskirche. Thema: Gott führt uns dem erwachenden Lichte entgegen – das ist unser froher, sieghafter Glaube. Pfarrer Adolf Schneider.

Samstag 15.45 Holtschmidt
Ev.-lutherische Kirche, Moltkepl. 19: 10 mit hl. Abendm., Beichte 9.30, P. Greve-Bochum.
Gottesfeier der deutschen Christen (National-kirchl. Einung) am Sonntag, dem 10. Dezember 1944, 10 Uhr, in Werden im ev. Gemeindehaus im Lutherzimmer. Thema: Als der Heiland in die Menschheitsgeschichte eintrat, ward der Welt ungeahntes Glück zuteil, und doch ging es nicht ohne gewaltige Erschütterungen und schreckliche Nöte. – So geht es auch in unserem Schicksalskampf gegen Untermenschentum und jüdische Plutokratie.

- - - - -

Solche Zitterzuteilungen gab’s als Entschädigung nach jedem Angriff.

Sonderzuteilungen
Nach Maßgabe des Eingangs der Ware werden in den zugelassenen Einzelhandelsgeschäften abgegeben:
120 g ungeröstete Kaffeebohnen auf den Abschnitt Z 1 der Grundkarte des 73. Versorgungszeitraums für Erwachsene;
1 Ei auf den Abschnitt Z 2 des 73. Versorgungszeitraums;
125 g Süßwaren an Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren auf die Abschnitte Z 4 der Grundkarte für Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren des 73. Versorgungszeitraums.
Verteiler erhalten die erforderlichen Bezugscheine beim Ernährungsamt im Deutschlandhaus.
Für Gemeinschaftsverpflegte erhalten die Gemeinschaftsverpflegungsträger entsprechend der Zahl der Gemeinschaftsverpflegten Bezugscheine bei der Hauptstelle des Ernährungsamtes im Deutschlandhaus nach dem Stichtage vom 30. März 1945.
Abrechnung erfolgt in der bekannten Weise zu einem noch bekanntzugebenden Zeitpunkt.
Essen, den 30. März 1945.
Der Oberbürgermeister.

 

Erinnerungen an die letzten Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner.

[Zeitungsartikel:]

Die militärische Führung verlangt es!
Befehl der Heeresgruppe zur sofortigen und totalen Räumung unserer Stadt
An die Bevölkerung von Groß-Essen!
Die Heeresgruppe hat befohlen, daß unter allen Umständen der Raum von Essen sofort total zu räumen ist, wenn notwendig unter Anwendung von Gewalt
Essen, den 30. März 1945
Der Reichsverteidigungskommissar

[Handschriftlicher Zusatz:]

Wo bleibt der Name?

 

Zwangsevakuierung! Schreckliches Wort. Ich lag gerade mit einer Grippe im Huyssenstift, als dieser Befehl kam. Alle Leute sind kopflos. Es sollen Trecks losgehen. Auf der Landstrasse nach Mitteldeutschland tippeln, um zum Schluss doch noch von den englischen Panzerspitzen überholt zu werden! Zum Zeichen, dass wir dableiben, pflanzt Papa Stiefmütterchen in unsere Blumenkästen. Noch heute erfreuen sie uns mit

 

ihrer herrlichen Blüte täglich von neuem. Trecks werden zusammengestellt und ziehen los, in den Abend hinein. Alte und junge Leutchen mit z. T. riesigen Rucksäcken. Beim Aufwachen am nächsten Morgen fällt mein Blick nach draussen: Ein trostloses Regenwetter. Die armen Leute! Die meisten kehren am nächsten Tag wieder zurück, durchnässt, hungrig und verfroren. Sie bekamen unterwegs weder Brot noch Wasser noch sonst irgendetwas, so steckten sie’s auf. Und es war das Beste so. Der Kessel Ruhrgebiet war ja längst zu. Sie kamen höchstens noch bis zum Sauerland und sitzen nun dort noch mehr im Schlamasssel als wir.

Die meisten Menschen hatten auf diesen Aufruf garnicht reagiert. Er war ja ohne Namensunterschrift und später stellte es sich auch heraus, dass das mit der „militärischen Führung“ von unserm Gauleiter Schlessmann frei erfunden war. So blieben die meisten, obwohl die doll-

sten Gerüchte gingen: Essen wäre als tote Stadt erklärt. Es gäbe weder Strom, noch Wasser, noch Lebensmittelzufuhren, ausserdem würde hier im Ruhrgebiet die neue Waffe (es glaubten noch immer welche daran!) ausprobiert.

Als sich’s jedoch zeigte, dass mit der Essener Bevölkerung nichts zu machen sei, wurde die Anordnung zurückgezogen. Alles atmete auf. Diese Krisenstunde war mal wieder glorreich überstanden.

Wo steht der Tommy?
Oh, der arme Tommy! Wir „liegen“ in der Hauptkampflinie und er steht, steht sich seit 14 Tagen am Kanal die Beine in den Bauch. Kommt er auch zu uns? Die dollsten Gerüchte gehen: „Sie“ sind an der Thomaestrasse, nein, am Karlsplatz, der dritte behauptet, am Schlachthof, keiner weiss etwas Genaues. Und dann rücken sie langsam weiter vor: Katernberg, Karnap, Steele, bis zum Schwanenbusch. Dort stehen

 

sie und warten ab. Das Merkwürdige ist, dass jeder ungehindert durch beide Hauptkampflinien gehen kann, es passiert ihm nichts. Als am Abend dann Ritta (Rieta Korf) angestürzt kommt und erzählt, „sie“ wären, einer Aussage Dr. Scheers nach, schon am Elisabethkrankenhaus, machen wir mit Papa im Huyssenstift Patrouille. Und obgleich wir auf den höchsten Turm klettern, sehen wir doch nichts weiter als das weite Trümmerfeld unserer lieben Heimatstadt.

In der Nacht setzt ein mörderliches Artilleriefeuer ein. Man hat das Gefühl eines ununterbrochenen Terrorangriffs. Wir haben im Keller ein „Nachtlager von Granada“ eingerichtet, aber man hört jedes Geräusch und Renate fängt an zu weinen: „Ich kann einfach nicht mehr.“ Da bringt Papa sie und Gretel in einer Ruhepause ins Huyssenstift rüber. Für uns wurde die Nacht nicht mehr viel ruhiger, so blieb ich am nächsten morgen mit Renate, die inzwischen wieder

eingetrudelt war, im Luftschutzbett liegen und schlief durch bis ½ 2 Uhr. So sparten wir das Frühstück und kamen gerade recht zum Kartoffelklössemittagessen. Nun machte Gretel die Fortsetzung im Luftschutzbett.

Am nächsten Tag tauchten die wildesten Gerüchte auf: „Gauleiter Schlessmann hat sich erschossen. Oberbürgermeister Dillgardt will um 2 Uhr (später hiess es, um 5 Uhr) die Stadt kampflos übergeben. Man hoffte und war enttäuscht, als auch um 5 Uhr noch Aribeschuss kam.

10. April 1945.
Am Abend dieses Tages geschah es, dass zum ersten mal amerikanische Panzer die Ruhrallee entlangrasselten. Wir standen auf einem Balkom im 4. Stock des Huyssenstiftes und sahen sie mit gemischten Gefühlen ihren Einzug halten. Man empfand als guter Deutscher doch die Schmach des Vaterlandes. Doch man hatte immer gehofft: „Wenn’s doch schnell vorbeiginge!“ Und nun gings für uns so ohne

 

Kampf und noch weitere Terrorangriffe ab. In Steele fanden wohl noch Strassenkämpfe statt und Werden, das sich verteidigen wollte, hatte noch eine ganze Woche unter Aribeschuss zu leiden; doch bei uns verhielt sich die Bevölkerung sehr ruhig. Wie dankbar waren wir, denn wir hatten uns das Ende sehr viel schrecklicher vorgestellt.

Vor solchen letzten Schrecken hatten wir uns immer gefürchtet. Doch traten bei uns keine „Werwölfe“ in Erscheinung.

Gerichtet
[Zeitungsartikel:]

Berlin, 1. April.
Wie das amtliche englische Nachrichtenbüro Reuter bekanntgibt, wurde der von den Alliierten als Bürgermeister von Aachen eingesetzte Franz Oppenhof in der Nacht von deutschen Freiheitskämpfern getötet.
Ergänzend wird hierzu mitgeteilt, daß ein Gericht zur Wahrung der deutschen Ehre den im Solde des Feindes Stehenden sofort nach Antritt seines Amtes zum Tode verurteilte. Das Urteil wurde durch Erschießen vollstreckt.

Freiheitsbewegung in den besetzten Westgebieten
Berlin, 1. April.
Das deutsche Volk erfuhr heute zum erstenmal von der Erhebung einer deutschen Freiheitsbewegung in den vom Feind besetzten Westgebieten. Als Werwölfe haben sich beherzte deutsche Männer und Frauen, tapfere Jungen und Mädel zusammengetan und sind entschlossen, dem nationalen Freiheitskampf gemeinsam mit unseren Soldaten zu führen. Der Abwehrkampf aller Deutschen in den feindbesetzten Gebieten ist getragen von der Entschlossenheit des ganzen Volkes, den Widerstand mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten und im Kampf um das Dasein Sieger zu bleiben. Haltung und Einsatz der Werwölfe geben einen Maßstab ab für die Bewährung des ganzen deutschen Volkes im Kampf um seine Selbstbehauptung. Den Freiheitskämpfern ist es gelungen, einen Sender zu errichten, der sich heute in den ersten Abendstunden mehrfach mit einem Aufruf an das deutsche Volk wandte.

15. April.
Nun hörten wir doch von einigen Opfern des Aribeschusses. Herr Merlau liegt seit einigen Tagen schwerverwundet im Huyssenstift. Frl. Ruprecht kam in Neviges um und Martha Hartmann, die Tochter von Herrn Böhm, in Gelsenkirchen. Das hat uns alles sehr erschüttert.

20. April.
Die Bevölkerung kann sich nicht mehr retten vor Plünderungen. Schon in der Nacht nach dem Einzug der Amerikaner plünderten die Ausländer die grösste Anzahl der Läger und Läden, sodass nun die Versorgung der Bevölkerung sehr schwierig ist. Mit Säcken voll geplünderten Gutes zogen die Polen und Russen hier am Haus vorbei. Niemand hinderte sie daran. Und noch immer gehen die Raubzüge weiter. Was die Bauern der Umgegend noch haben, schlachten sie ab, damit die Ausländer das nicht mehr tun können. So sitzen wir nun

 

mit der Ernährung auf dem Trockenen, denn die Brücken über Ruhr und Lippe sind gesprengt, sodass nichts hereintransportiert werden kann. Die Nahrungssorgen sind schon eine grosse Not hier in Essen und wir sind dankbar, dass Gott an uns soviel Speisungswunder tut. Sobald wir sorgen, schickt er uns wieder Nahrungsmittel ins Haus. So wollen wir also nicht sorgen.

24. April.
Papa ist ganz „in Rage“. Mit dem Einzug der Amerikaner fallen ja sämtliche Ver- und Gebote der Gestapo fort. Er kurbelt seine Jugendarbeit ganz neu an (mit Spielbetrieb u. s. w.) und reist in den umliegenden Jugendkreisen bibelstundenhaltend herum. Seine Gottesdienste, nun im Hotel Vereinshaus und im Josef-Hommer-Weg, blühen mächtig auf. So tritt eine neue, aber eigentlich erfreuliche Sorge auf: Die Säle werden zu klein. Doch es sind nirgends grössere zu finden, so behilft man

sich halt. Papa lebt ganz auf, ist er doch nun aus dem Hausvater und Gartenarbeiter wieder Pfarrer geworden.

4. Mai.
Adolf Hitler ist tot!

Wie hätte einen diese Nachricht noch vor einem halben Jahr erschüttert, hätte sie doch wahrscheinlich den Krieg grundlegend beeinflusst. Nun ist das Spiel ja sowieso verloren. Merkwürdig sind allerdings die verschiedenen Aussagen über den Tod des ehemaligen Führers Grossdeutschlands.

Admiral Dönitz, der Nachfolger Hitlers, erklärt, Hitler habe bis zum letzten in Berlin gekämpft und sei den Heldentod gestorben.

Der Tommy berichtet, Himmler habe 2 Tage vor Hitlers Tod ausgesagt, Hitler sei schwer an Gehirnbluten erkrankt und habe nur noch Tage zu leben. Was stimmt nun? Merkwürdig ist ja auch:

 

Wie drang die Nachricht aus Berlin, das doch längst umzingelt und zum grossen Teil schon erobert war?

Der russische Sender gibt bekannt: „Hitler ist entflohen und hält sich zur Zeit in Japan auf.“ Man möchte wirklich am liebsten hinter die Kulissen dieses Schauspiels schauen.

Auch Mussolini, der Duce Italiens, ist tot. Er versuchte, in die Schweiz zu fliehen, wurde erkannt, festgenommen und von italienischen Freiheitskämpfern mitsamt seiner Liebsten erschossen. 2 erschütternde Schicksale!

[Zeitungsartikel:]

Auch Goebbels tot?
Radio Moskau gab bekannt, daß Hans Fritsche, der Chef des deutschen Rundfunks und einer der bekanntesten deutschen Rundfunksprecher, gefangengenommen wurde. Fritsche erklärte nach seiner Gefangennahme, daß Adolf Hitler Selbstmord begangen hatte.
Er behauptete ferner, daß Josef Goebbels, Deutschlands Reichsminister für Propaganda und „Volksaufklärung“ und Gauleiter von Berlin, auch durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Ebenso soll General Krebs, der vor kurzem zum Stabschef der deutschen Wehrmacht ernannt worden war, nach Aussagen von Fritsche Selbstmord begangen haben.

5. Mai.
Dönitz, Hitlers Nachfolger, führt den Krieg weiter. Gebietet denn keiner Einhalt? Der grösste Teil Deutschlands ist besetzt, nur Schleswig-Holstein, Berlin und das Protektorat sind noch Kriegsschauplätze. Der Kampf um Berlin tobt in entsetzlichen Ausmassen. Ununterbrochen Angriffe, Aribeschuss, die Bevölkerung hockt seit Tagen in den Bunkern, ohne Licht, ohne Wasser, ohne Nahrungsmittel, völlig apathisch. Wie dankbar sind wir, dass uns das erspart blieb!

Heute hörten wir’s mit eigenen Ohren: Bei der Einnahme von Dachau wurde auch Pfr. Niemöller, der Leiter der evgl. bekennenden Kirche, aus dem K.Z. befreit. Wie mag es dem zu Mute sein nach 6 jähriger Gefangenschaft? –

9. Mai.
Der Krieg ist zu Ende! Deutschland hat bedingungslos kapituliert und ist auf

 

Gnade und Ungnade seinen Gegnern ausgeliefert. Was mag nun für eine Zeit kommen? Überall in der Welt sind Dankgottesdienste und man könnte heulen, wenn man von den grossen Siegesfeiern hört. Was hat der Hitler uns angetan!

11. Mai.
Nun hatten wir wieder so einen richtigen Höhepunkt: Das Missionsfest. Gestern war ja Himmelfahrt, und da man nach Barmen noch nicht kann, war’s abermals in Steele. Es war so, wie man sich’s in seinen kühnsten Träumen nicht besser wünschen konnte: Blauer Himmel, 30° Hitze, Vogelgezwitscher, ein Riesengewimmel von rund 1000 Jugendlichen und eine pfunds Stimmung. Um 11 Uhr Festgottesdienst, bei dem zu unsrer Freude Putschi wieder reden durfte, dann 1 Stunde Mittagspause, allseitiges Begrüssen der vielen Bekannten und Speisen aus Kartoffelsalatpöttchen. Anschliessend

Singen und um 2 Uhr Missionsversammlung. Die Freudigkeit, die über allem lag, fand ihren Ausbruch in der Kollekte: 6053 RM. Alles war platt, wir auch.

Wir waren alle so begeistert und in Feststimmung und waren deshalb doch etwas geschlagen, als wir hörten, mittags um 2 Uhr sei ein Plakat angeschlagen worden, Himmelfahrt sei Arbeitstag. Zur Strafe, dass so viele Betriebe gefeiert hätten, würden die Lebensmittelgeschäfte für 24 Std. geschlossen und müssten am nächsten Sonntag alle arbeiten. Das also nannte sich „religiöse Freiheit“. Man vermutete kommunistische Einflüsse.

Am darauffolgenden Samstag Nachmittag erschien eine kurze Notiz: Die Verfügung sei aufgehoben und der Sonntag arbeitsfrei. Wir kamen nie dahinter, wer das ganze angezettelt hatte.

Es war das erstemal, dass wir etwas ahnten von der Hilflosigkeit, mit der auch die Amis dem ganzen Betrieb hier gegenüberstehen.

 

15. Mai.
Nun haben wir’s in dieser Woche schon 4 x in der Wallotstrasse erlebt: Nächtliche Überfälle und Einbrüche von Russen oder Polen. Das Ausländerlager ist ja dicht vor unserer Nase und so können sie’s trotz des Ausgehverbotes immer wieder wagen. Aber es ist unheimlich, wenn man nachts aufwacht von Trillerpfeifen, Deckelaneinanderschlagen, Geschrei und Hilferufen. Bei uns waren sie noch nicht, hoffentlich bleiben wir verschont.

21. Mai.
Nun ist etwas Unerhörte geschehen. Die Häuser im Joseph-Sommer-Weg und die umliegenden Strassen mussten geräumt werden. Die Leute mussten alles zurücklassen und sogar die Betten frisch beziehen. In die Wohnungen kommen Polen, die im Lager geheiratet haben. Die armen Leutchen, die ihre Sachen durch den Krieg ge-

rettet haben und nun so alles aufgeben müssen!

[Foto] Herr Hanewinkel, unser Nachbar zur Linken, der beim letzten Angriff eine Bombe aufs Haus bekam. Er ist eine Witzfigur, faul „wie die Sünde“, sein Vater ein bedauernswertes, immer fleissiges, gebeugtes Alterchen, seine Schwester ein immer sauer dreinsehendes, „jüngeres älteres“ Fräulein. Sie spielen keine grosse Rolle in unserem Dasein, aber sie gehören halt zu unserm Leben in der Wallotstrasse dazu.

24. Mai.
Heute morgen hatten wir zur Abwechslung mal wieder eine Aufregung:

Es erschienen verschiedene Polen mit Handkarren und Schaufeln in der Wallotstrasse und klauten sämtliche Blüten und blühenden Sträucher aus Gärten und Vorgärten.

 

Auch bei uns erschienen etwa 6 dieser Kerle mit 2 polnischen Legionären in am. Uniform und nahmen sämtliche, mit Stiefmütterchen bepflanzten Blumenkästen und außerdem sämtliche Agaven mit. „Für [.?.].“ Wir konnten nichts machen als trauernd hinter der Zierde unserer schöner Veranda hersehen. Besiegtes Volk!

Für Papa ist es so schwer, dass der Joseph-Hommerweg von Polen belegt wurde. Er hatte dort im Gemeindesaal solche einen netten Gottesdienst und Kindergottesdienst eingerichtet. Beides war so am Aufblühen. Nun ist’s schon wieder aus.

Nun kommen also die Amis fort und wir werden zum britischen Imperium geschlagen.

[Zeitungsartikel:]

Großbritanniens Zone
Radio Luxemburg meldet, daß die Streitkräfte Großbritanniens ungefähr die Häfte des bisher von Streitkräften der Vereinigten Staaten besetzten Rheinlandgebietes vor dem 15. Juni übernehmen werden. Zu dem Gebiet, das in die derart vergrößerte Besatzungszone der Engländer fällt, gehören die Großstädte Köln, Wuppertal, Essen und Düsseldorf.

[Zeitungsausschnitte:]

Das ist V 1
England erwartet in Bälde den deutschen Angriff
unsagbare Furcht vor der vernichtenden Wirkung „geheimer Waffe“

Ein paar Ausschnitte aus Zeitungen von 1940 und 1941. V 1 war der grösste Reinfall und Bluff, den das dtsch. Volk je erlebte. Und doch glaubten 90° [%] der Bevölkerung mit Unerschütterlichkeit an seine

 

Wirkung und an andere geheime Waffen, die Goebbels prophezeit hatte, sogar noch, als die Tommis schon am Kanal standen.

28. Mai.
Die Lebensmittelversorgung der Ruhrbevölkerung, besonders aber der Bevölkerung von Essen, ist „unter aller Kanone“. Kaum einer hat noch Kartoffeln im Keller, neue gibt’s nicht. Dann: 2/3 Brot für die Woche, kein Fleisch und 50 g. Fett. Gemüse gibt’s nur nach mindestens 4 stündigem Schlangestehen. Und wir haben’s so gut. Die „Raben“ fliegen häufiger als je zuvor, so haben wir genug zum Leben und gar keinen Grund zum Sorgen.

2. Juni.
Es war eine bewegliche Sache, dass nun dieses Jahr die Teerstegensruhkonferenz wieder stattfinden konnte, nachdem sie vor etlichen Jahren von den Nazis verboten worden war. Es war ein recht gesegneter Tag mit vielen, überfüllten Versammlungen dort im Hotel Vereins-

haus und es lag eine grosse Freudigkeit über allem.

-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.

Jeden Abend ertönen 2 x die Sirenen, um uns anzuzeigen, dass nun die Ausgangszeit abgelaufen ist. Es ist ein schaurig-schönes Gefühl sie zu hören und doch nicht mehr in den Bunker rasen zu müssen. Sie erinnern uns immer wieder an die schreckliche Zeit damals, die auch Renate in ihren „Erinnerungen“ beschrieben hat. Weil die kleine, 11 jährige Person solch eine Erzählergabe hat und so köstlich schreibt, möchte ich hier etwas davon abschreiben.

Unser Bunker.
Wenn man die Schinkelstrasse entlangläuft, kommt man zu unserem Bunker. Unwillkürlich wirft man einen Blick in den jetzt so dunklen, stillen und tiefen Bunker. Wie herrlich, dass man da nicht mehr rein muss!

Damals, ja, da war es schrecklich. Jeden Tag, wenn die schrillen Sirenen heulten, musste man

 

in den Bunker fliehen. Wenn die Menschen zum Bunker strömten, gab es ein fürchterliches Gedränge. Besonders wenn es eilte und die Flieger schon in der Nähe waren, wurde immerzu nach unten gerufen: „Schneller gehen, schneller gehen, wir wollen alle rein!“ Unten im Bunker war eine grausame Patsche. Überall waren grosse Pfützen, man musste sie überspringen, wenn sie klein genug waren; oder man musste durchstapfen, ob man wollte oder nicht. Es tropfte von der Decke herunter und man wurde klatschnass. Draussen wartete die Sonne mit einem wolkenlosen Himmel auf uns. Wenn die Gefahr vorbei und Vorwarnung war, steig man mit frohem Herzen, dass wir keinen Angriff bekommen hatten, die Treppen (108 Stufen.) wieder hinauf. Aber kaum war man oben, rief eine Frau zum Fenster hinaus: „Neue Kampfverbände im Anflug bei Aachen mit NO Kurs!“ Da kam auch schon wieder Vollalarm. Alles stürzte sich wieder auf den Bunker. – Wir hatten dort viele Bunkerbekanntschaften, z. B. Frau Lauffer, die Krankenschwester mit ihrer

Wichtigtuerei. Wenn eine ohnmächtig geworden war, kam Frau Lauffer, fühlte erst den Puls, dann gab sie der Ohnmächtigen Baldriantropfen und sagte: „Ich komme gleich wieder.“

Dann war da Herr Schüssler, der ewige Schreier. Er trat die Ausländer, schimpfte und schrie umher, dass alle, die ihn sahen, ein Grauen empfanden. Dass alles hörte auf, als die Amerikaner einzogen.

-.-.-.-.-.-.-.-.-

[Zeitungsausschnitt:]

Berlin. – Sobald die anglo-amerikanischen Truppen aus Sachsen, Thüringen und Anhalt zurückgezogen sind, werden Sowjettruppen diese Gebiete, die zur russischen Besatzungszone gehören, besetzen. Die Abgrenzung der britischen, amerikanischen und französischen Zonen in Deutschland ist noch nicht festgesetzt. Die Grenze der russischen Zone beginnt im Norden an der Lübecker Bucht, wo Mecklenburg und Schleswig-Holsein aneinanderstoßen, läuft dann entlang der Westgrenze der Provinzen Sachsen, Anhalt und Thüringen und führt dann entlang der Nordgrenze von Bayern bis zur tschecho-slowakischen Grenze von 1937. Die Bekanntgabe der russischen Besatzungszone erfolgte vierundzwanzig Stunden nachdem der alliierte Kontrollrat in Berlin gebildet wurde, der die Staatsgewalt in Deutschland übernommen hat und bis auf weiteres die Geschicke Deutschlands lenken wird.

Ein erschütternder Zeitungsausschnitt. Ganz Mitteldeutschland wird also russisch. Was mag da für eine Massenabwanderung hier zum We-

 

sten hin stattfinden von all den evakuierten Familien! In Wirklichkeit scheint also Russland gesiegt zu haben.

[Formular:]

LS.-Reviergruppe Steinplatz (15)
Unterw.-Abschn. .......(gehört zur Hausgemeinschaft Haus Nr. 30)
Zust. Luftschutz (Polizei)-Revier Nr. 15, Rellinghausener Str. 54
Meldesammelstelle Weiglehaus
Rettunsstelle Huyssenstift
Standort des Löschkarren .....Str.....
Nächstgelegene Wasserentnahmestelle .......Str.....
Selbstschutzkräfte:   ausgebildet ja / nein
LS.-Hauswart Busch, Emmi   ja
Stellv. LS.-Hauswart van Hant
LS.-Hausfeuerwehr Auffermann, Elisabeth

Diesen Ausschnitt aus einem Luftschutzregistrierblatt rettete Papa mir von einem gewissen Örtchen: Eine Erinnerung an die ersten Luftschutzmonate in der Weiglestrasse, als es mit dem Bombenterror noch nicht so arg weit her war.

25. Juni 1945.
Wir haben Wasser! Was war das für ein Jubel, als man nach einer Pause von 106 Tagen mit Erfolg wieder die Wasserhähne öffnen konnte! Nun braucht man nicht mehr jeden Tropfen vom Huyssenstift herschleppen. Ich komme mir wie ein Verbrecher vor, wenn ich das Spülwasser fortschütte. Der Mann, dem wir das verdanken, ist Herr Weydandt, unser Nachbar, dem als Anerkennung dafür folgendes Gedicht überreicht wurde:

Wasser.   W. Busch.

„...das hat nicht Ruh bei Tag und Nacht,
ist stets auf Wanderschaft bedacht,
das Wasser, das Wasser!...“

So heisst’s im alten Wanderslied.
Und sieh, aus unserm Haus
das Wasser – wie’s im Liede steht -
auf Wanderschaft zog aus.

Ganz pflichtvergessen ging es weg,

 

„auf Wanderschaft bedacht.“
Und rechts und links im Nachbarhaus
hat’s ebenso gemacht.

Wir liefen keuchend hinterdrein
zum Huyssenstift hinauf. -
Das Wasser aber setzte frech
zur Schürmannstrass’ den Lauf.

Was wäre wohl mit uns geschehn,
wenn nicht Herr Weydandt wär? -
Der brachte stark und zielbewusst
das Wasser wieder her.

Nun ist rings in der Wallotstrass’
Die Freude riesengross:
„Herr Weydandt, lieber Wassermann,
das machtest du famos!“

Nun klingt es rechts, nun klingt es links:
„Hoch, Nachbar Weydandt! Hoch!“
Trotz Widerstand und Pech und Dreck,
du zwangst das Wasser doch!“

Nun rinnt es klar aus jedem Kran.
So oft ich drehe auf,
Da nehmen die Gedanken schnell
dankbar zu dir den Lauf.

.-.-.-.-.-.-.

Und steh ich sinnend vor dem Quell
dann denk ich an den Mann,
der noch viel beß’res Wasser uns,
den durst’gen, geben kann:

Der Heiland ruft in alle Welt:
„Wen dürstet, komm zu mir!“
O Herr, ich dank dem Lebensquell
in Ewigkeiten dir.

Ich wünsche, lieber Nachbar, dir
für deine Tat als Dank,
daß Er dir Lebenswasser schenk,
jetzt und dein Leben lang!

Sennetreffen! Wenn ich das Wort höre, steigen jetzt die lieblichsten Erinnerungen in mir auf. Die ganze Woche regnet es und am Sonntag ist der Himmel „so blau, wie er nicht blauer sein kann“. Eine entzückende Fahrt mit unserm „Jonathan“ lag hinter uns, als wir in die Sandwege der Senne einbogen, wo im blühenden Heidekraut auf einer grossen Lichtung tausende und abertausende von Menschen sich gelagert hatten. Und als Redner (ausser Präses Koch) die „Gebrüder Busch“. Wer hätte gedacht, dass wir so etwas nochmal erleben würden?

Es war ein unvergesslich schöner Tag!

8. September.
Vorige Tage kam Papa mit einem ganz grossen Fund nach Hause: Die Akten der Gestapo über die Essener Pfarrerschaft waren in seine Hände geraten. Leider fanden wir

 

[Flugblatt:]

Sennetreffen 1945
der evang. Gemeinden und ihrer Jugend [...]
Sonntag, den 19. August
bei ungünstigem Wetter am 26. August

nicht viel über Papa, da seine Schandtaten eigene Akten umfassten.

Beiliegend einige Auszüge aus den Akten.

14. Sept. 1945
Gestern stieg Hannas Krankenpflegeexamen, das vorher mit viel Aufregung und nachher, nach glorreicher Beendigung, mit viel Feierei verbunden war. So veranstalteten auch wir hier am Samstag Abend eine Feier mit Tee und Gebäck, zu der Papa von verschieden Examina seines Lebens erzählte und zum Schluss unter „allgemeiner Beteiligung“ folgendes Lied vorbrachte:

1.) Horch, was kommt von draussen rein
holla hi
Ach, das sind die Schwesterlein.
Gehn herbei und kommen rein,
sollen wohl willkommen sein.

2.) Jetzt ist das Examen rum.

 

allen ist im Kopf ganz dumm.
Alle Sorgen sind vorbei
und das Herz ist wieder frei.

3.) Schwester Helmi ist ganz stolz;
Köpfchen waren nicht von Holz.
Alle wussten furchtbar viel,
Alles schrie: „Ein Kinderspiel!“

4.) Und der Pro[=?], der sagte vor,
So was darf nicht kommen vor.
Alles sagt mit stolzer Brust:
„hätten es auch so gewusst.“

5.) Und die Schwester Oberin
kommt von Barmen mit frohem Sinn.
Lässt den Urlaub Urlaub sein,
will sich mit den Schwestern freu’n.

6.) Und sogar der Pfarrer Badt
lacht in’n Bart, den er nicht hat.
                   (allgemeine Heiterkeit!)
Was er selten tut, er lacht

wie der Mond in der Sommernacht.

7.) Ja, der ganze Bau, oh schaut!
freut sich wie ’ne junge Braut.
Ja, wir lieben dieses Haus,
Nun ist die Geschichte aus.

*******

[Zeitungsartikel:]

Das Jahr 1944 zeigte eine weiter sinkende Tendenz. Die Statistik der Kartenempfänger des Jahres 1944 weist folgende Zahlen aus: 415, 411, 410, 408, 391, 387, 379, 372, 373, 374,

379, 357 und 328 000. Den vorübergehenden Erhöhungen der Bevölkerungszahlen folgte nach weiteren Angriffen ein weiterer Zahlensturz, der sich 1945 über 303, 306 und 282 000 fortsetzte. Der 1. Mai 1945 brachte den niedrigsten Stand der Zahl der Kartenempfänger mit 278 987, es waren jene, die die zweieinhalbtausend Alarme und 272 Luftangriffe, davon 15 größere und 15 Großangriffe, überstanden hatten.

Das haben wir also alle lebend überstanden. Das reinste Wunder!

[Zeitungsartikel:]

Jugendfest der evgl. Kirchengemeinde Essen-Altstadt: am Sonntag, 3. Dez. (1. Advent), Festpred. P. Karl Krämer, Düsseldorf, Festgottesdienst: 8.30 Uhr Kirchsaal Hotel Vereinshaus (am Hbf.) gr. Festfeier: 14.30 Uhr in der evgl. Kirche Essen-Werden. Ansprachen: P. Karl Krämer, Düsseldorf, P. Moog, P. Schauen, Jgd.-Pfarrer Busch, Orchester, Orgel, Posaunenchor.

Doll, dass sogar so etwas wieder unter den „Kulturveranstaltungen der Stadt Essen“ stand. Wer hätte das noch vorm Jahr gedacht?

 

[Zeitungsartikel:]

Evangelische Jugendarbeit
Die evangelische Jugendarbeit in Essen, die von dem bekannten Pfarrer Weigle gegründet wurde, die tausende Essener Jungen sammelte und weithin bekannt war, ist in den vergangenen Jahren sehr beeinträchtigt worden durch Verfolgung, Unterdrückung und schließlich durch den Verlust des Weigle-Hauses, das am 11. März 1945 zerstört wurde. Trotzdem hat diese Arbeit in einigen Sälen des Hotels Vereinshaus wieder einen neuen Aufschwung genommen. Schon sammeln sich wieder mehrere hundert Essener Jungen unter Leitung von Jugendpfarrer Busch. Auch die Arbeit der weiblichen evangelischen Jugend ist stark im Aufblühen. Sie wird geleitet von Frau Vikarin Kaufmann.
Wie in den vergangenen 50 Jahren, soll am 1. Advent (2. Dezember) das „Jugendfest“ der evangelischen Jugend Essen-Altstadt gefeiert werden. Viele Freunde der Arbeit denken gern an die erhebenden Feierstunden in der jetzt zerstörten Kreuzeskirche zurück. Weil die Altstadtgemeinde keine Kirche mehr hat, wird die Feier am 2. Dezember um 14.30 Uhr in der evangelischen Kirche in Werden gehalten. Es werden viele alte Freunde der Arbeit, viele Rückkehrer aus Gefangenenlagern, die einst im Jugendhaus waren, viele Eltern der Jungen und namentlich die Jungen selbst zu dieser Feier kommen. Die Festpredigt hält P. Karl Krämer, Düsseldorf, der Festgottesdienst findet um 8.30 Uhr im Kirchsaal des Vereinshauses statt. Bei der großen Festfeier halten Ansprachen P. Karl Krämer, P. Moog, P. Schauen, Jugendpfarrer Busch. Es wirken mit eine Orchester-Orgel und der Posaunenchor.

 

Die Ankündigung des Jugendfestes war großartig, das Jugendfest selber noch viel großartiger. – Der Festgottesdienst morgens im Vereinshaus war trotz strömendstem Regenwetter voll, übervoll und wunderschön. Und dann die Festfeier nachmittags erst. Schon auf dem Bahnhof Schoren von Menschen und vor den Schaltern Schlangen, die alle Fahrkarten nach Werden verlangten. Man kam kaum mehr in den Zug rein. Ein erfreulicher Anblick war die große Menschenbewegung, die vom Bahnhof aus der läutenden Kirche zustrebte. In den Gängen drängte sich’s, an Sitzplätze war, als wir kamen, überhaupt

nicht mehr zu denken. Und dann das Fest selber. Es war himmlisch schön. Wie haben wir’s doch gut, dass wir so etwas miterleben dürfen. Was alles geboten wurde, ersieht man ja aus dem Programm. – Die Heimfahrt war auch herrlich. Natürlich war der Zug voll von lauter Jugendfestteilnehmern. Wir kamen nur noch im letzten Gepäckwagen unter. Plötzlich fangen in einer Ecke ein paar Jungens an zu singen, Adventslieder. Und dann fällt der ganze Wagen ein. Erst kleckerweise und allmählich immer voller. Dann ist der Wagen nur noch eine grosse, singende Gemeinschaft. Es war wirklich ein Erlebnis. In Hügel stiegen etliche „Neue“ dazu, die sich das alles voll Verwunderung anhörten.

In Süd ausgestiegen wanderten wir zusammen zum Huyssenstift, wo wir mit unserm Singen verschieden Bekannten viel Freude machten.

Wir waren ganz traurig, dass der Tag so schnell um war. Aber es ist ja immer so, wenn’s am schönsten ist, geht die Zeit am schnellsten um.

So war’s!

[Zeitungsausschnitte:]

Wir und der Führer.

Wenn er uns anschaut,
wenn seine heißen Augen
in unserer Seele brennen,
dann durchtobt uns
das Feuer heiliger Begeisterung.

Dann fühlen wir,
daß wir zusammengehören,
wir und der Führer.

 

Christmette!
S’war mal wieder ein Erlebnis. Eine Fülle, die nicht zu beschreiben ist. Der Weihnachtsbaum, der die Mitte des Saales noch zierte, wurde von 2 starken Männern kurzerhand zum Fenster hinausgeworfen, was unfeierliches, aber fröhliches Lachen bei der versammelten Gemeinde hervorrief. So konnten nochmal wieder 20 Leute mehr in den Saal hinein. Und trotzdem standen die Menschen bis auf die Strasse hinunter. Es lag eine fröhliche Feststimmung über dem ganzen Gedränge. Und wenn auch unsrerseits nicht alles klappte, was eingeübt worden war, so trug doch jeder das in Würde. Es war unzweifelhaft mal wieder ein Erlebnis.

Anschliessend Singen der Stami[=?] im Bunker Maschinenstrasse. Hoffnungsloses Elend dort. Ostflüchtlinge, die einige Tage hier verpflegt wurden und denen wir ein wenig Weihnachtsfreude ins Herz singen wollten.

Und dann ein Weihnachtstag, der so voll von Weihnachtsgemütlichkeit und –faulheit war,

wie man sich’s garnicht vorstellen kann. Wie gut haben wir’s doch!

Wir können uns garnicht vorstellen, dass Oma nicht mehr da sein soll. Sie gehörte so in das Bielefelder Niveau. Mama fuhr sofort hin. Papa hatte am Beerdigungstag morgens noch eine wichtige Besprechung. Um 12 h setzten er und ich uns in den „Jonathan“ und fuhren in die graue Regenlandschaft hinaus. Mitten auf toteinsamer Landstrasse macht es tack-tack-tack. Wir kommen zu einer Mühle, wo sich ein paar Tommies aufhalten, die uns mit Hilfe des Lexikons klarmachen, dass die Kurbel kaputt sei. „Kommen wir damit bis Bielefeld?“ Achselzucken. „Ausprobieren!“ Und wir, die wir vorher mit Stolz mit 80 km Tempo alle engl. Lastwagen überholten, die die Einzigen waren auf der regennassen Landstrasse, pirschten uns

 

nun mit 20 km Tempo nach Bielefeld, kamen abends dort an, brachten den „Jonathan“ in eine Werkstatt, wo er vier Wochen zur Reparatur stand. Die Beerdigung hatte nachmittags um 3 Uhr in strömendem Regen stattgefunden. –

Dies Jahr haben wir, d. h. Gretel, Hanna + ich unsere Ferien auf der Hohen-grete verlebt. Ein köstlicher Knurrbetrieb[=?]! Und welch verschiedene Arten von Menschen man kennenlernte! Etwa die Morsbachs, die nie ohne Küchen- oder andere Messer loszogen, Frl. Nöll, die Kleine, mit dem etwas blöden Reinhardts, der

uns nur mit B-Büschlein rief, die niedliche kleine Frau Pfarrer ..... mit ihren 2 stabilen Buben, Frau Grätsch, die im Falle des Besitzes eines Sohnes gern Hanna zur Schwiegertochter gehabt hätte (die, oder keine!) mit ihrer nervenentzündungskranken Tochter Lieselotte. Diese beiden halfen der [.?.] unseres Magens mit Stinkkäsbroten auf. Dann Frau Kromhoff, die alles hatte, mit ihrer geschwätzigen kleinen Elsbeth, die Gretel mit einem Frosch einmal den ganzen Berg hinunterjagte und dann die ganzen Pfarrer! Die rührenden alten Neuses, die ewig über das Essen knötternden Köhlers, Van der Sywaag u. s. w. Wir lagen sonnenderweise im Liegestuhl, sangen, musizierten, machten viel Spaziergänge in die weite Heide, kloppten uns und wanderten einmal zum Baden zur Sieg, was aber schief ging, da das Wasser zum Schwimmen zu flach war und von Fischen wimmelte. Eigentlich wollten wir etliche zur Auffüllung der Vorräte sammeln. Aber da keiner sich traute, solch glitschigen Dinger in die Hand zu nehmen, mussten wir auf diese „Delikatesses verzichten“. Und abends kam dann das Schönste: Im Bett liegen, lesen und an

 

einer Stulle knabbern, die 2 cm dick und mit 1 cm dicker Leberwurst bestrichen war. –

29. August 46.
Heute war Taufe in Witten. Eine kleine Lydia war angekommen. Es war ein Riesenfest. Zu aller Freude waren Hanna + Christa Stöffler da, die die Tischkärtchen malten und eine Rundreise bei allen Verwandten machten.

23. Dez. Heute kam Papa wieder von der „Hohen Mark“. Er stürzte im Frühjahr in Ostfriesland und hat nun eine elende Kopfgeschichte. 7 Wochen lag er im „Hüsen“, ohne das etwas gemacht wurde. Dann fuhr er mit Mama 3 Wochen zur Hohen-Mark, wo sie sich beide prima erholten und ganz „knurrige“ Briefe schrieben. Und nun darf Papa wieder predigen. Für uns ist es das reinste Wunder!

27. Januar.

Schade, dass ich nicht dabei sein konnte!

[Zeitungsausschnitt:]

Gottes Welt zwischen den Schloten
In den Vorlesungen im Haus der Technik kommen die exakte Wissenschaft und die Erfahrung der technischen Praxis zu Wort. Aber die Beziehung zur Philosophie und Theodizee wird eingewoben, wie sich aus dem Vortrag von Pfarrer W. Busch ergibt. Die Lebensgestaltung im Industriegebiet ist eine andere als im übrigen Lande, und die Nöte und Probleme sind verschieden von denen im weiten Umkreis. Klare Nüchternheit, fast Besessenheit befängt die Menschen technischer Arbeit, und daraus folgt die kritische Einstellung zur Glaubensbotschaft. Dennoch ist in ihnen die Sehnsucht nach letzter, innerer Geborgenheit. Dafür sind Zeugen die kulturellen Strebungen. Verhängnisvoll hat sich die Auflösung der Individualität ausgewirkt, und es muß wieder eine höhere Einschätzung der persönlichen Werte einsetzen. In Industriebezirken herrschen auch immer Strömungen revolutionärer Art. Da heißt es, den leicht Beweglichen klar zu machen, daß alle Revolutionen Maskeraden bleiben, wenn sich nicht die Gesinnung des Einzelnen umstellt zum Guten und zum Wohlerkannten. Wir müssen wieder zu rechtem Maß und Ziel zurückfinden, das Gott uns offenbart hat in der Lehre Christi, seines eingeborenen Sohnes, der auch den geringsten unter uns erlöst hat und liebt. Der Vortrag fand recht starken Beifall.

Da unser gewisses Örtchen nicht mehr abzuschliessen geht, malte Renate ein Schild.

[Zeichnung:]

Schloss kaputt. Stopp!

Da das Stopp nun mehr wie ein Storr aussieht, wurde unser Familie wortneuschöpferisch und schuf das Wort „storren“ und „entstorren“. Also hing da eines Tages ein Schild an der Innentür: „Halt, vergessen Sie nicht, zu ent-storren“. Da trotzdem sich alle nicht an das entstorren gewöhnen konnten, gabs stärkere Aufrufe: „Was A sagt, muss auch B sagen. Wer „storr“ sagt, muss auch „frei“ sagen“. Aber selbst diese zwingende Logik half nichts. Jeder konnte dem andern Schuld vorweisen. Nur ich erklärte, nie schuldig zu sein auf diesem Gebiet. Nun hing da am nächsten Tag wieder ein neues Plakat. Wir stürzen hin und lesen:

Es gibt
4 Gruppen von Menschen.

1.) Die Unanständigen: Die schreien einfach „Storr!“
2.) Die Bösen: Die kümmern sich um das „Storr“ einfach garnicht.
3.) Die Vergesslichen: Die storren, vergessen aber zu ent-

 

storren. –
                  Die schaffen viel Verwirrung.
4.) Die Lieben: Die storren und entstorren richtig.
                   Die sind selten.
Es gibt bis jetzt nur ein Exemplar in dieser Gruppe:
                   Elisabeth Busch!
         Hiermit wird jedermann aufgefordert,
         sich der Gruppe 4 anzuschliessen.
Wählt Gruppe 4!
                   Die Heimleitung.

Eines Tages hiess es: „Wer kennt von K. F. Meier: Die Hochzeit des Mönchs? Dem ist doch der Mönch Astorre bekannt. Wie ein Asozialer nicht sozial ist, so war der Mönch Astorre sicher jemand, der niemals entstorrt hat.“ Also hing am nächsten Tag an der Badezimmertür

Das Lied des Mönches Astorre.

Ei! Du grosser Bösewicht!
Sag, warum entstorrst Du nicht?!
Draussen steht ne lange Schlange -
Allen ist so angst und bange -
aber keiner wagt sich vor -

denn es steht ja „Storr“ am Tor -
Und dabei ist – leer und nett
unser Badekabinett!

Die Moral wird unterwühlt!
Hast Du das noch nicht gefühlt? -
Weil Du „Storr“ lässt, wenn es frei,
Denkt sich jeder: „Ei, ei, ei!
Warum sollte ich mich quälen!“
Und so lässt er’s auch nun fehlen
an der treuen Storrerei.
Das ist eine Schwei.......

Ei! Du grosser Bösewicht!
Änderst Du Dich wirklich nicht,
werden wir Dich schon noch kriegen:
Musst fortan im Keller liegen
in dem kalten Kabinett......  
             Ich habe keine Zeit,
             mich länger mit dir zu befassen!
             Ändre Dich!
             Wähle Gruppe 4!!!!

Der Mönch gez. Astorre.

 

Abitur! Die Klasse schwimmt, ja, ersäuft fast in Aufregung. Aber schon das Schriftliche ist halb so schlimm. Zwar sind die Aufgaben und das Thema der gefürchteten Mathematikarbeit vollständig anders, als erwartet. Nun kann ich meine ausgewendig gelernten[=?] Ableitungen der Parabel nirgends anbringen. Aber die Englischarbeit ist über Erwarten leicht. Die Lateinarbeit erscheint mir schwer, sehr schwer. Ich glaube, sie danebengeschrieben zu haben. Für den deutschen Aufsatz bekommen wir herrliche Themen.

1.) Ist Faust eine Tragödie?
2.) Zwei Welten: In Stifters „Brigitta“ und D. F. Meyers „Richterin“.
3.) Bild meiner Heimat.

Aber draussen ist es -8 Grad, die Klasse ist ungeheizt, hat Steinfussboden, die Tür schliesst nicht und wir sitzen gehüllt in Mäntel, Schawls, Handschuhe und Kopftücher. Ich sehe noch Ilserose Spiecher vor mir, mit aufgelösten blonden Haaren, eingemummelt, auf der Bank eine unendliche Reihe von fliessenden Rübenkrautbroten vor sich und eine Menge von vollgeklecksten Zetteln, auf denen sie eifrig schreibt. Da man (bez. ich) bei der Hundekälte keinen klaren Gedanken fassen kann, wähle

ich das letzte Thema und schildere Hülben und Ungebung. –

Um am 17. März steigt dann das Mündliche. Grosse Aufregung! Feierliche Begrüssung im Kreis der Lehrer. Ich komm erst am Nachmittag dran. Zuerst Deutsch. Frl. Kasselrauch hat für mich die passenden Themen ausgesucht: 1.) Der Glaube des jungen und des alten Faust. 2.) Welcher klassische oder moderne Dichter hat uns Ihrer Meinung nach heute etwas Wertvolles zu sagen? Das 1. Thema ist leicht und ausführlich besprochen. Beim zweiten wähle ich Reinhold Schneider und halte mich an seinen „Las Casas vor Karl V.“ Ein beifälliges Murmeln verkündet Zustimmung und Frl. K. flüstert mir nachher zu: „Haben sie schön gemacht, sehr schön. ne eins.“ Ich bin glücklich und habe nun keine Angst mehr. In Religion wird auf meine gewünschten Themen zurückgegriffen. 1.) Wesen, Wirken und Predigt des Apostels Paulus. 2.) „Der Pietismus, besonders bezogen auf die Gegenwart“. Ich komme gerade bis Römer 3 und darf schon wieder gehen. Und dann, zu meiner Überraschung, - Latein. Und ich habe für Latein keinen Krümmel mehr getan, für Englisch aber un-

 

mässig gepauckt. So erzähle ich manchen Mist und sehe Erdnüss lachen und lache mit. Ich glaube, die Arbeit daneben geschrieben zu haben, denn meine 4 steht doch so fest. Als ich nachher Frl. K. nach dem Grund meiner Lateinprüfung frage, sagt sie trocken: „Ja, sie hätten sich doch auf eine 2 raufarbeiten können!“ „Ich, auf ’ne 2???“ „Ja, wenn sie die Arbeit doch so geschrieben haben!“ Ich bin platt, alle lachen. Das war’s also. Die zweite lateinische 2 des ganzen Jahres! Und H. hat auch nicht das geringste durchblicken lassen!

Als ich nach Haus komme, sind R. Nell und H. Kurz da und wir feiern ein bisschen mit Musik und Kuchen. – Am nächsten Abend ist feierliche Urteilsverkündigung: 8 haben’s mit 2 bestanden, 7 mit 3, 14 mit 4 und Gisela v. d. Brinken ist durchgefallen. Das ist für uns alle ein Schlag. Man kann sich garnicht recht freuen.

Am Freitag ist Entlassungsfeier. Der Chor singt „Komm süsse Freiheit, himmlische“. So ist mir nun gerade doch nicht zu Mute. Schade, dass es nun mit der Schule ganz vorbei sein soll.

Am Samstag haben wir Commerce. Alles ist improvi-

siert. Aber es wird ganz nett. Besonders die [.?.] „fleckt“. Erdnüss erzählt aus ihrer Volksschullehrerzeit und unterhält den ganzen Tisch. Neben anderen Dingen bekam sie ein schönes Fläschchen mit Schnaps mit der Aufschrift „der Nachbarin Fläschchen“. Winter erhielt eine Population oder ein Liniengemisch, d. h. ein ganzes Säckchen mit Erbsen und Bohnen durcheinander. Minka verehrten wir ausser anderm eine dicke Zigarre, schön eingepackt, mit der Aufschrift: „Erst nach 8 Stunden öffnen“. Der bebartete Michen erfreute sich an Rasierklingen, Frl. Scheinmacher an einem zum Atom umgewandelten Ei, Frl. Kissling, die Ewig-Strickende, an Stricknadeln. Frl. Kasselrauchs Platz war mit einem Riesenkarton geschmückt, angefüllt mit allem, was man sich denken kann: Eier, Mehl, Zwiebeln, Stopfgarn, Schere, Zucker, Bücher u. s. w. Als Angela Hörr in ihrer Rede bat, die Art der Geschenke nicht als Anspielung auf den Charakter anzusehen, zog Frl. H. schweigend und grinsend eine dicke Zwiebel heraus, mit dem Gedanken: „Also dass soll ich sein!“ Es wurde gesungen, W. Busch zitiert, Oppi und Ruth Moschalski sangen wiederholt „Max u. Moritz“. Dazu

 

vertilgten wir Berge von Kuchen. – Als sittsame Schülerinnen machten wir um ½ 8 Uhr Schluss.

Papas Geburtstag am 27. März. Grosses Fest. Wir wollen feiern, aber Papa ist entsetzt. Bloss das nicht! Aber „wenn Deine Frau will, dass du vom Dach springst, so bitte Gott, dass das Dach niedrig ist, denn runter musst du“. So ist’s auch jetzt. Der Weiberstaat will etwas haben zum Feiern, also wird gefeiert. Wir wollen den Abend übernehmen und treffen gigantische Vorbereitungen. Mama will einen Männerabend und sucht aus jeder Verbindung einen Vertreter, also aus dem Bibelstundenkreis, Gottesdienst, BK, CVJM u. s. w. d. h. sie bestimmt eigentlich erst die Männer und sucht sie dann einzugliedern. Als wir die Leute einladen, behaupten wir, für ihr Seelenheil sorgen zu müssen. D. h. sie dürfen nicht kommen, wenn sie nicht vorher die Donnerstag-Abend-Bibelstunde besuchen. Sie ist ein schöner Auftakt für den Abend. Anschliessend geht’s dann hinüber zu uns, wo wir nach alter Sitte hl. [.?.] mit Tee und Brass’schem Kuchen gerichtet haben. Es ist sehr gemütlich, die Presbyter strahlten ordentlich in

dieser Feierlichkeit. Schallend klingts durch die Räume: „Dir, meine Seele, singe ...“. Bardengesang, dass die Wände zittern. Als Einleitung und zugleich Einführung verliest Gretel folgendes Gedicht:

Unser Putschi.

Fünfzig Jahre sind vorbei
als mit einem ersten Schrei
er das Licht der Welt erblickte
und uns hoch damit entzückte.
Denn, das ist die grosse Frage,
wie wär jetzt unsre Lage
wenn der würd’ge Eheherr
nun nicht unser Vater wär?
Das wär zum Verzweifeln traurig
und zum nächtgen Träumen schaurig.
Doch, weil er zu unsrer Freude
ist der Festesochse heute,
dachte nun sein Weiberstaat
die Zeit, die wäre jetzt parat
zu feiern hier ein schönes Feste
und einzuladen ein paar Gäste.
„Ach“ seufzt der Hausherr, blass entsetzt
„dass ihr mir nichts so Dummes schwätzt.

 

Das sind doch alles Kindereien,
wir laden nichts und niemand ein.“
Wisst ihr den Grund, wollt ihr ihn hören?
So will ich euch nur gleich belehren:
Der Hausherr, ja, der sieht’s nicht gern,
wenn ihn die Leut beweihräuchern.
Doch hat das noch ’nen andern Grund
und darum machet auf zur Stund.
Er seufzt: „Die armen, armen Leute,
die ihr nur eingeladen heute!
Am Tag sie haben all geschafft
und aufgezehrt ist ihre Kraft
wenn sie ihr trautes Heim erreichen,
nun müssen sie so bald schon weichen,
gebrochen sitzen sie daheim
und schimpfen: „Was ist das für’n Leim,
dass wir, beileibe nicht aus Spass,
raufturnen nun zur Wallotstrass,
zu feiern dort Geburtstag heute.
Wir armen, eingeladenen Leute.
Was geht uns dieser Pfarrer an,
für den wir alle, Mann für Mann,
nun opfern müssen unsern Abend,

der sonst erquickend und erlabend
für unsern alten Adam wär.
Nun müssen wir durch Regen her,
durch Strassen, wo so viele Krater,
ach nein, was ist das für ’ne Marter!“
So seufzen alle, tief geschlagen
und gehn – und wechseln ihren Kragen.
Verdrossesn geht’s in den Abend hinein,
daheim bleiben Frau und Kinderlein.
So hat sich’s der Hausherr ausgedacht,
doch haben wir fröhlich nur drüber gelacht.
Aber vielleicht ist’s wirklich so,
dass ihr nur seid herzlich froh,
wenn ihr euch davon könnt drücken,
uns [.?.] euren werten Rücken?
Ich hoffe, dass nicht in euch allen,
erweckt wird solch ein Missgefallen.
Wir dachten es uns nun ganz schön,
ein kleines Fest hier zu begehn.
mit Leuten, welche mit uns gehn,
am gleichen [.?.] mit uns stehn.
Wir bitten, euch mit uns zu freun,
nicht allzukritisch heut zu sein,

 

dieweil wir’s haben übernommen,
zu aller Freud und aller Frommen
den Festesabend zu gestalten
uns unsre Kräfte zu entfalten.
Seid nicht zu streng, ihr könnt verstehen,
dass alles nur wird halb so schön,
weil uns als Generalberater
ganz fehlte der Familienvater.

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Alle lachen, als es zu Ende ist. Anscheinend hat’s „gefleckt“. Dann führen wir eine Scharade auf.

1.) P = Der Pessimist, dargestellt am Festochsen.
2.) U = Upmannzigarre.

[Zeichnung:]

Die schmaucht aller Raucher.
Upmann
Die beste Zigarr der Welt.

Dies Schild halten wir hoch und singen wehmütig: „Lang, lang ist’s her...“

3.) t = Teekessel = zweierlei Ton, biblisch belegt und vorher gut durchdacht.
4.) Sch = Schattenbild. Renate tritt an die Leinwand, eine Blume in der Hand und singt: „Ward ein Blümchen mir geschenkt...“ niedliches Bild!
5.) I = immerhinque. Gretel verlas beiliegenden Artikel.

Natürlich haben’s alle geraten, aber zur völligen Sicherheit erläutert Renate noch einmal:

Ihr habt geraten, denk ich mir,
was eben wir darstellten hier.
Das erst, das war ein Pessimist,
wie’s oft der Putschi einer ist.
Doch tut er’s meistens nicht so zeigen.
Vom zweiten woll’n wir lieber schweigen,
denn ein „Upmann“ ist ein Ding,
das keinem Raucher zu gering.
Doch wolln wir machen kein Begehren.
Drum sollt ihr schnell vom nächsten hören.
Ob ihr’s geraten habet schon?
Es sollte sein zweierlei Ton.
Ein Schattenbild das nächste war,
und ich hab es gestellet dar.
Immerhinque, dieses Wort
steht für i am Abschlussort

„Putschi“ hiess’ in diesem Falle,
dieser Mann, den wir alle
(wie ich mir so denke) verehren,

 

wenn wir nur genannt ihn hören.

Dann wieder Teepause. Lachen, Schwatzen, Kuchenessen. Und draussen in der Küche liegt ein unabsehbarer Berg von Geschenken. Nach neuer Stärkung verliesst Mama Sachen aus Papas fünfzigjährigem Leben. Kindergeschichten, im Gefängnis aufgeschrieben, + Studentenzeit, aus „Vom hohen Fest der Liebe“, Amerikaerlebnisse und Gefängniszeit in Darmstadt. teils zum Lachen, teils zum Weinen. Und zwischendurch Bardengesänge. Damit schliesst der offizielle Teil des Abends und die Besucher legen langsam ihre Feierlichkeit ab. Um 11 Uhr bricht eine Reihe von ihnen auf. Doch sind da noch viele, die noch keine Lust haben. Plötzlich schellt’s, Onkel Scho steht draussen. Riesenüberraschung, Mordsgebrüll, stürmische Begrüssung. Und dann wird’s nochmal gemütlich und wir hocken bis ½ 1 Uhr zusammen. Während dieser Zeit unterhalte ich mich mit Herr Noth über Blumen. „Ja“, sagt er, „ich weiss nichts anzufangen mit Blumen. Die stehen immer nur im Wege. Schon meine Mutter hat Blumen immer zu Tode gepflegt. Eine Blume hat zwar 30 Jah-

re gelebt, aber die war auch so zäh, dass sie mit dem besten Willen nicht kleinzukriegen war.“ Na ja, ich sehe, er passt zu Gretel, die mit Blumen auch absolut nichts anzufangen weiss.

Tief in der Nacht ist auf einmal ungewohnte Stille. Nur das Tohuwabohu unsrer Wohnung zeugt von dem Betrieb, der heute Abend hier herrschte.

5 Tage Abiturientinnenfreizeit in Neukirchen! (Samstag – Gründonnerstag.) Wir alle freuen uns riesig drauf. 13 hatten sich angemeldet, 10 kamen. (Elsa Böttcher, Siegr. Mosemann, Edith Möllchen, Margot Schwager, Lilo Noack, Ruth Adolphs, Editha Mosemann, Renate Pröhs und Ilserose Spiecker. Beinahe hätte ich mich selbst vergessen!) Es waren 5 herrliche Tage. Schlafen auf steinharten Strohsäcken war das einzig negative. Da wir nachts froren, legten wir quer über je 2 Betten noch einen Strohsack, um uns „schwere Beine“ zu verschaffen. Das half. Morgens um 8 Uhr Aufstehen, Waschen an einem mittelalterlichen, brunnenartigen Gebilde im anstossenden Waschraum, Küchen- und Stubendienst, ausgedehntes Frühstück im netten Wohnraum, ausgiebige Mittagessenvorbereitungen, und, die Hauptsache, feine Bibelstunden

 

unter dem Thema „Dienst“, d. h. Besprechung von den Gleichnissen kurz vor Jesu Tod, also „böse Weingärtner“, „Arbeiter im Weinberg“ und „anvertraute Pfunde“. Phantastische Mittagessen, je nach Bedarf ausgedehnt, da wir völlig ohne Programm lebten, ausgiebige Mittagsruhe, Kaffee, wunderschöne Spaziergänge in der sonnigen Flachlandschaft, dabei Erzählen u. Fragenbesprechungen, ausgiebiges Abendbrot + gemütliche Abendstunden. Wir lernen uns richtig kennen, besonders Lilo und ich erkennen, dass wir uns ganz verkannten. „Ja“ sagt Lilo mal, „ich hab gedacht, du wärst so e’n stilles Mauerblümchen, nun hast du dich als eine Kaktee entpuppt, und zwar als eine Stachelkaktee!“ Das nenn ich Kompliment! – Neben dem, das wir so manches für unser Leben mitbekamen, stellten wir doch auch viel Blödsinn an und betrugen uns wie Backfische. Erzählt Elsa eines Abends: „Kinners, Frl. Kaufmann hat am 1. April Ordinationstag. Das müssten wir feiern.“ Gesagt, getan! Am 1. haben wir uns verschlafen, sind noch garnicht richtig fertig, als eine schreit: „Frl. Kaufmann kommt!“ Sigrid + Margot sind in der Küche, ahnen etwas und kommen nicht rauf. Elsa ist zum Einkaufen. Wir übrigen stellen uns feier-

lich auf und als sich die Tür öffnet, fangen wir an zu schmettern, ein Lied mit 8 Strophen, das Elsa aussuchte. Wir beschränken uns auf die erste. Dann schreitet Editha nach vorne, einen Teller wundervollen Pudding balancierend, und gratuliert. Erstaunte Frage: „Was glaubt ihr denn, wann mein Ordinationstag ist?“ „Ja heute!“ Lachen. „Nein, am 8. Dezember.“ Editha bleibt geistesgegenwärtig. „Och“ sagt sie, „den Pudding können sie trotzdem kriegen.“ – Wir sind empört über Elsas Aprilscherz, der schon 3 Tage vorher verkündigt wurde und geloben uns Rache. Am Nachmittag ist für uns der Eintritt in der Küche verboten. Beim Kaffee liegen dann plötzlich für jeden 7 Teilchen auf den Tellern, wundervoll mit Zucker bestreut. Wir geniessen den ungewohnten Leckerbissen. Plötzlich ein Schrei, Elsa entdeckte auf einem ihrer Teilchen Salz statt Zucker. Rache der Köchinnen! Und in der abendlichen Dunkelheit gibt’s noch eine kalte Dusche übers Gesicht. Also die reinsten Backfischstreiche. Aber bei fertigen „Abirentinnen“ zu verstehen. Am letzten Tag dichten wir unter viel Schweiss für Frl. Kasselrauch. Hoffentlich hatte sie Spass daran.

So manche werden geworben + gewonnen, erst mal

 

für die Stami, und damit hat die Freizeit deren Sinn erfüllt.