1944 – Verschickung in der Verschickung: „Bei jedem zweiten Jungen kann man von einer kleinen Führerpersönlichkeit sprechen“

Kaum hatten sich die verlagerten Essener Oberschulen für Jungen in ihren Tiroler Sammellagern eingerichtet, hielt der Bombenkrieg auch in Österreich Einzug. Nachdem Innsbruck im Dezember 1943 dreimal Ziel schwerer Angriffe geworden war, sah sich die dortige Schulverwaltung ihrerseits gezwungen, Schulen nach außerhalb zu verlagern, was zur Folge hatte, dass geeignete Gebäude, die bislang von Essener Schulen belegt waren, für die Innsbrucker Einrichtungen geräumt werden mussten - sozusagen eine Verschickung in der Verschickung.

Die Humboldt-Schule etwa zog nun nach Kitzbühl um, wo aber wiederum dort untergebrachte Essener Volksschüler ihr Quartier zu räumen hatten und auf andere Lager verteilt wurden. Die Helmholtz-Schule wechselte von Steinach nach Sölden, Burggymnasium, Goetheschule und die Oberschulen Bredeney und Werden nach Lech, die Carl-Humann-Schule sowie die Oberschulen aus Borbeck und Altenessen fanden ihr Quartier in Galtür und Ischgl, die Mittelschule Essen-Altstadt schließlich in Seefeld: Schüler und Lehrer dürften sich wie auf einem Verschiebebahnhof gefühlt haben, wobei es immerhin von Januar bis April 1944 dauerte, ehe man zu dieser endgültigen Lösung gekommen war.

Angesichts ständiger Neuerungen und der damit verbundenen Unruhe war es kaum verwunderlich, dass der Unterrichtserfolg leiden musste. Aber auch der Einfluss der HJ und die geforderte Ernsthaftigkeit der Wehrerziehung entsprachen zumindest in einigen Fällen offenbar nicht den Vorstellungen der Verantwortlichen. Als Oberstudiendirektor Trieloff in seiner Funktion als Essener „Beauftragter für das Höhere Schulwesen in der KLV" im März 1944 die Helmholtz-Schule in Sölden inspizierte, war er mit der Unterrichtssituation wohl halbwegs zufrieden. Studienrat Wolpers etwa, so wusste er nach Essen zu berichten, erteile einen „national-betonten Deutschunterricht, der die Wehrfreudigkeit und den nationalen Stolz der Jungen" wecke. Insgesamt, so hob er hervor, müssten Deutsch- und Geschichtsunterricht „Hand in Hand arbeiten", die Vergangenheit stets in Beziehung zum aktuellen kriegerischen Tagesgeschehen gestellt werden. „Der Kampf unseres Volkes und seine Existenz muss durch die geschichtliche Entwicklung im europäischen Raum in seiner ganzen historischen Bewegtheit den Schülern klar gemacht werden."

Mit der Haltung der Schüler zeigte sich Trieloff dagegen höchst unzufrieden. Er beanstandete vor allem deren „geistloses Kartenspielen" in ihrer Freizeit und sah dadurch deren „seelisch-geistige Bildung" vernachlässigt. Außerdem würden die Jungen nicht ordentlich grüßen („Anständiges Grüßen - drei Schritte vorher"), sondern die Hände in den Hosentaschen lassen und „müßig" herumschlendern. „Besonders beobachtet und kritisiert werden: bei Begegnungen mit HJ-Führern wirkt nachlässiges Benehmen besonders peinlich. Geschlossenes Auftreten, Marschieren im Lagerverband sind Mittel, die Haltung auch des einzelnen zu fördern."[1] Noch immer auf dem Boden nationalsozialistischer „Erziehungs"-Ideale argumentierend, forderte der KLV-Beauftragte ganz offenbar eine stärkere Disziplinierung der „Lagermannschaft" mit begleitender ideologischer Beeinflussung durch entsprechende „Kultur"-Veranstaltungen. Denn gerade die Kunst, so seine Forderung, müsse von Beginn an „als Äußerung der Rassenseele betrachtet werden".

Auch die KLV-Lager in Böhmen und Mähren wurden durch die Essener Schulverwaltung regelmäßig überwacht. Im Rahmen einer entsprechenden Rundreise Mitte Januar 1944 betonte der Berichterstatter hinsichtlich des Lagers der Alfred-Krupp-Schule besonders die „vorbildliche Harmonie" und die „ausgezeichnete Stimmung". „Es ist hier besonders das glänzende Zusammenwirken der schulischen und HJ-mäßigen Belange hervorzuheben. Das enge, kameradschaftliche Verhältnis zwischen Lagerleiter und Lagermannschaftsführer, die sich gegenseitig ergänzen, ist Grundlage für die hervorragende Stimmung."

Der Blick auf einige Mädchenlager viel da um vieles kritischer aus. In den Lagern „Haus Kawka" und „Klein Skal" der Maria-Wächtler-Schule etwa machte sich laut Bericht das Fehlen einer Lagermädelführerin „unangenehm bemerkbar" worunter „die HJ-mäßige Ausrichtung" beider Lager leiden würde. Insbesondere im erstgenannten Lager mache sich zudem „seitens der Lehrerschaft eine konfessionelle Strömung bemerkbar". „Die KLV-Dienststelle Prag wurde darüber unterrichtet und bemüht sich um Abstellung." Auch die Situation im KLV-Großlager Bad Bogdanetsch, in dem die Mädchen der Essener Mittelschulen untergebracht waren, ließ aus Sicht der Essener Schulbehörde sehr zu wünschen übrig. Hier - wie in den meisten anderen Lagern - mache sich die „Überalterung des Lehrkörpers stark bemerkbar". „Diese alten Damen haben in der Masse kein Verständnis mehr für die Jugend, sind mangels Einfühlungsvermögen mit der Lagermannschaft der Keim zur schlechten Stimmung und zum Heimweh, und daher für die Kinderlandverschickung völlig ungeeignet. Diese Tatsache konnte in allen Lagern der Mädel-Ober- und Mittelschulen immer wieder festgestellt werden." Es lag nach Einschätzungen von NS-Seite also nicht an eintönigem und oft wenig qualifiziertem HJ- bzw. BDM-Dienst, an schlechter Versorgung oder mangelhafter Ernährung, wenn sich die Stimmung in KLV-Lagern verschlechterte, sondern an der mangelnden Qualität des - auf solche Aufgaben ohnehin völlig unvorbereiteten - Lehrkörpers.

Immer dann, so die Erkenntnis des Berichterstatters, wenn das Einvernehmen zwischen Lagerleitung und Lagermädelführerin als „kameradschaftlich" und „einvernehmlich" eingestuft werde, resultiere daraus eine positive Grundstimmung. Als Beispiel sei hier das KLV-Lager Schwalkowitz bei Olmütz herausgegriffen: „In diesem Lager befinden sich Essener Jungmädel. Das Lager ist in seinen äußeren Voraussetzungen wiederum vorbildlich und für seinen Zweck wie geschaffen. Lagerführung und Gefolgschaft verbindet eine sehr herzliche Kameradschaft. Es ist in diesem Lager besonders die enge, kameradschaftliche Bindung zwischen Lagerleiterin und Lagermädelführerin, sowie der Lagerlehrerinnen herauszustellen. Die Mädel sind restlos begeistert und wollen die KLV vorläufig nicht verlassen, weil diese ihnen zur zweiten Heimat geworden ist. Im Lager herrscht ein besonders froher und frischer Ton. Die mit viel Liebe und Geschmack erfolgte Ausstattung des Lagers fiel ganz besonders auf. Verpflegung und Unterbringung sind in jeder Weise ausgezeichnet." Und ein Besuch in Bad Luhatschowitz löste beim Berichterstatter geradezu einen Jubelsturm aus. „Die Eindrücke in der KLV-Stadt Luhatschowitz waren einmalig und überraschend. Idealer geht es nicht mehr."

Als Gegenbeispiel kann dessen Beurteilung der Lagersituation der Viktoria-Schule in Heiligenberg bei Olmütz gelten. Während er Unterbringung, Versorgung, Stimmung und „HJ-mäßige Ausrichtung" der in einem ehemaligen Kinderheim untergebrachten unteren vier Jahrgänge als gut bis hervorragend klassifizierte, fiel sein Urteil hinsichtlich der Oberklassen 5 bis 8 vernichtend aus. „Die Stimmung, hervorgerufen durch die in keiner Weise ihrer Aufgabe gewachsenen Führung, ist ausgesprochen schlecht. Man hat nicht den Eindruck, unter BDM-Mädeln zu sein, sondern in einem Kreis „Höherer Töchter". Die Lagermädelführerin ist zu jung und nicht fähig, die älteren Mädel zu führen. Sie vermag sich der ganz stark konfessionell gebundenen Lagerleiterin gegenüber nicht durchzusetzen, so dass im Grunde genommen die Mädel tun und lassen was sie wollen. Da der in seiner Gesamtheit restlos konfessionell gebundene Lehrkörper (einschließlich Schulleiter) nicht in der Lage ist, außer einer Lehrerin, die kränklich ist, aus eigener Kraft die geeignete Lagerleiterin zu stellen, wird die Dienststelle Prag schnellstens eine fremde Kraft beordern."

Noch immer galt dem Berichterstatter eine zumindest teilweise auf KLV-Prinzipien basierende Schulerziehung auch für die Zeit nach Kriegsende offenbar als erstrebenswert. Das legt zumindest seine Beurteilung des KLV-Lagers in Beching am Markt nahe, in dem bereits seit längerer Zeit Essener Volksschüler untergebracht waren. Dieses Lager machte auf ihn „in jeder Weise einen vorbildlichen Eindruck". „Unterbringung, Verpflegung und Geist sind hervorragend. Lagerleiter und Lagermannschaftsführer ergänzen sich prächtig. Das Lager und die Jungen sind das Spiegelbild dieser guten Zusammenarbeit. Hier zeigte sich deutlich das Ergebnis einer längeren KLV-Erziehung." Wesentlich erschien im dabei offenbar der in diesem Lager - vielleicht unbeabsichtigt - praktizierte Auslesegedanke. Die Jungen erschienen ihm nicht nur „frisch, unbeschwert und aufgeschlossen", wobei auch die schulischen Leistungen „außerordentlich befriedigend" ausfielen, sondern sie versprachen in hohem Maße auch künftig aus NS-Sicht gewinnbringend eingesetzt werden zu können: „Bei jedem zweiten Jungen kann man von einer kleinen Führerpersönlichkeit sprechen."

Fußnoten

[1] Das Letzte aus einer unveröffentlichten KLV-Dokumentation für die Helmholtz-Schule, die Norbert Krüger dankenswerterweise zur Verfügung stellte.