Suchen & Finden
Jugend! Deutschland 1918-1945
Editionen zur Geschichte
Didaktik & Schule
Flucht/Vertreibung

"Flucht und Vertreibung“ war ein dominierendes Thema der Nachkriegszeit. Zwischen 1944 und 1948 waren in Deutschland und in Europa rund hundert Millionen Menschen „unterwegs“, die ihre Heimat für immer oder für längere Zeit verlassen mussten. Die Welt erlebte damals die zahlenmäßig größte Wanderung der Geschichte überhaupt. In Deutschland hielten sich 1945 zwei Drittel der Bevölkerung nicht an ihren angestammten Wohnplätzen auf. Und ob die Menschen, die das Schicksal zusammenführte, das nun wollten oder nicht, sie waren dauerhaft zum Zusammenleben gezwungen.

Inhalt
Baum wird geladen...
Weitere Lebensgeschichten
Elisabeth Schütte

Schlesien

Am 19. Januar 1945 drangen sowjetische Truppen in Oberschlesien ein und besetzten es bis Ende des Monats.[1] Anschließend überrollte die Rote Armee Niederschlesien und umzingelte Breslau, das im August 1944 zur „Festung“ erklärt worden war und nach dem Willen von Gauleiter Hanke bis zum „letzten Blutstropfen“ verteidigt werden sollte. Während das westliche Oberschlesien bis zum 15. März 1945 erobert war, erfolgte die Besetzung des südlichen Teils von Niederschlesien und der Grafschaft Glatz erst nach der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945. Breslau selbst kapitulierte, nachdem die Stadt zu 70 Prozent zerstört worden war, am 6. Mai 1945.

Eine Ausreise aus Oberschlesien war nach dem Eindringen der sowjetischen Truppen nur noch wenige Tage möglich. Weil die Breslauer Zivilbevölkerung erst am 19. Januar und ohne jede organisatorische Vorbereitungen – so standen etwa kaum Transportmittel zur Verfügung – zum Verlassen der Stadt aufgefordert wurde, war das Chaos unausweichlich. Man überließ die Evakuierten im kalten Winter einfach ihrem Schicksal. Viele kämpften auf den Bahnhöfen um einen Platz in einem Waggon, während andere sich in langen Trecks bei hartem Frost nach Westen vorkämpften. Hierbei kamen vor allem Kinder und alte Menschen ums Leben. Die Lage verschärfte sich dadurch, dass mit der Einnahme von Brieg ab dem 6. Februar 1945 die meisten Bahnverbindungen unterbrochen waren und nur noch der Weg nach Süden offen blieb.

Wie in anderen Regionen im Osten Deutschlands wurde auch die Evakuierung Niederschlesiens zu spät befohlen und war zudem schlecht geplant. Es bildeten sich lange Rückstaus an der Oder, nach deren Überquerung sich die Fliehenden dann zumeist Richtung Sachsen, Thüringen und ins Glatzer Becken bewegten. Der nördliche Teil Niederschlesiens war bald praktisch entvölkert. Die letzten Evakuierungsbefehle wurden dann am 6. Mai 1945 für das Glatzer Becken erteilt. Hier, wo alles mit Flüchtlingen überfüllt war, reagierte man größtenteils gleichgültig auf die Aufrufe des NS-Regimes. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zur deutschen Kapitulation rund 1,6 der insgesamt 4,7 Millionen Einwohner Schlesien verlassen hatten.

Im Frühsommer 1945 lebten hier dann noch etwa 1,5 Millionen Deutsche. Mit einer Vertreibung rechnete zu diesem Zeitpunkt kaum einer von ihnen, auch wenn Gerüchte über eine Abtretung des östlich der Oder liegenden Territoriums an Polen die Runde machten. Ende Juni/Anfang Juli 1945 begannen dann die „wilden“ Vertreibungen. Obwohl sie eigentlich nur Städte betreffen sollten, waren sie auch auf dem Lande zu beobachten. Allerdings wurden die Trecks häufig von den russischen Besatzern angehalten und wieder zurückgeschickt. Am 20. August 1945 wurde deshalb angeordnet, dass erst nach der Übernahme des deutschen Besitzes durch polnische Ansiedler dessen bisherige Eigentümer unter starker Bewachung über Oder und Neiße abgeschoben werden sollten – ein Vorhaben, dass sich so kaum realisieren ließ.Obgleich viele der „wild“ aus Schlesien Vertriebenen zunächst wieder zurückkehren durften bzw. mussten, summierte sich deren Zahl für die erste Welle bis zum Herbst 1945 auf etwa 550.000.

Die ersten „legalen“ Vertreibungsaktionen begannen in Oberschlesien dann im Oktober/ November 1945. Am 14. Februar 1946 schlossen die polnische und die britische Regierung ein Abkommen über den „Transfer“ in die britische Zone, woraufhin unmittelbar die „ordnungsgemäße“ Vertreibung begann. Die „Repatriierung“ nach Deutschland wurde durch Plakate angekündigt. Binnen einer äußerst knapp bemessenen Zeit (zumeist „20 Minuten“) mussten die Betroffenen ihre Wohnungen räumen, wobei sie lediglich 20 Kilogramm Handgepäck sowie Schmuck und Wertgegenständen im Wert von 500 RM mitnehmen durften.

Bis zum Ende des Jahres 1946 mussten auf diese Weise rund 1,1 Millionen Menschen Niederschlesien, weitere 160.000 Oberschlesien verlassen. Im Frühjahr 1947 begann die letzte umfassende Zwangsaussiedlung. Bis 1950 wurden insgesamt 3,2 Millionen Schlesier vertrieben.

Fußnoten

[1] Das Folgende nach Herzig, Flucht, S. 121ff., Kossert, Heimat, S. 30 und Hryciuk, Umsiedlungen, S. 171.

zuletzt bearbeitet am: 04.12.2017