„Raumorganisation" und „Zeitordnung"
Nach seinen Erkenntnissen, so Kiran Klaus Patel, hätten die verschiedenen Lager der NS-Zeit ungeachtet aller Unterschiede wichtige gemeinsame Entwicklungslinien aufgewiesen, deren abschließende Analyse und präzise Definition derzeit jedoch noch nicht möglich sei. „Es bedürfte einer eigenen, größeren Studie, um dieser Frage einmal angemessen nachzugehen." Unter den Stichworten der „Raumorganisation" und der „Zeitordnung" kommt er zu folgenden vorläufigen Ergebnissen (die sich allerdings auf die Ausgestaltung von Lagern für Männer bzw. männliche Jugendliche konzentrieren und die jeweiligen weiblichen Varianten weitgehend unberücksichtigt lassen):
Hinsichtlich der „Raumorganisation" stellt Patel fest, dass es verschiedene Lagerformen auch schon vor 1933 gegeben habe. Nach 1933 sei jedoch die „große Varianzbreite der räumlichen Unterbringung" erheblich reduziert und durch Standardisierungsbestrebungen abgelöst worden. Folge war eine zunehmende Normierung und Standardisierung des Lageraufbaus, der sich mit seinen Sichtachsen und Gebäudeanordnungen am Kasernenbau orientierte. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz im Bereich des Reichsarbeitsdienstes (RAD) zu beobachten, wobei die hier gesammelten Erfahrungen und die daraus erwachsenden Ergebnisse dann von anderen Organisationen kopiert wurden.
Nach Patel entwickelten sich im Laufe der Jahre hinsichtlich der Funktion und des daraus resultierenden Aufbaus der Lagersysteme zwei „Kerntendenzen" mit vier intendierten Zielen, die „die für das Erziehungsdenken und die pädagogische Praxis des Nationalsozialismus zentrale Kombination von Erziehung und Exklusion" widergespiegelten. „Die Normierungen und Standardisierungen sollten die Belegschaften vereinheitlichen, sie mobil und transparent machen." Es sei letztlich stets darum gegangen, eine „möglichst totale Lagererfahrung" herzustellen, weshalb sich die Lagerkonzeption stark dem Idealtypus der „totalen Institution" angenähert habe. Die vier wesentlichen Ziele lassen sich so zusammenfassen:
- Erstens habe es gegolten, „die Männer durch die Ordnung des Raumes und seine Unterteilung in verschiedene Segmente einer umfassenden Kontrolle und Disziplinierung zu unterwerfen", wobei die abgelegenen Standorte diesen Aspekt der Disziplinierung unterstützen sollten. „Die Lagerinsassen sollten von ihrem Alltag getrennt und zugleich auch von allen anderen sozialen Einflüssen abgelöst werden".
- Zweitens sollte das Lager - auch schon im Landjahr - möglichst frühzeitig an alles Militärische gewöhnen, wobei durch architektonische Mittel wie Eingangstore, Zäune oder Wachhäuser eine deutliche Trennung zwischen „innen" und „außen" symbolisiert wurde.
- Drittens sollte das Lagerleben zur „Entindividualisierung" beitragen und eine „Erlebnisgemeinschaft" fördern. „Lagererziehung war laut NS-Sicht die Erziehung vom ‚ich' zum ‚wir'."
- Viertens sollte das Lager zudem das „Erlebnis der Natur" vermitteln, wobei sich dahinter die Vermittlung der Blut- und Bodenideologie mit dem ihr innewohnenden Rassismus und das Bestreben der Abhärtung durch harte Arbeit verbargen.
In den Lagern sei dann der „Zeitordnung" eine wichtige Funktion zugekommen. „Die Ordnung der Zeit zielte konzeptionell in all diesen Lagersystemen in die gleiche Richtung wie die pädagogische Gestaltung des Raumes. Was immer der genaue Auftrag der Einrichtung war: Jeweils sollten die Lagerinsassen nicht frei über ihre Zeit verfügen können, nicht einmal am Feierabend." So wurde auch die Regulierung der Zeit genutzt, um „den totalen Zugriff" auf die Lagerinsassen zu realisieren, sie zu kontrollieren und in eine „Gemeinschaft" umzuformen.
Für eine angemessene Beurteilung der zeitlichen Dimension ist auch die Dauer einer Maßnahme selbst zu berücksichtigen, da ein mehrmonatiger Lageraufenthalt natürlich wirkungsmächtiger war als etwa ein Wochenendlager oder ein „nationalpolitischer Lehrgang" über eine Woche.
Während des Krieges, so Patel, sei mit Blick auf die Lager die erzieherische Dimension deutlich hinter die kriegsbezogenen Arbeitsleistungen zurückgetreten. Das trifft mit Blick auf das Landjahr oder den Reichsarbeitsdienst sicherlich in vollem Umfang zu, vernachlässigt jedoch den Aspekt, dass mit der „Erweiterten Kinderlandverschickung" (KLV) seit Ende 1940 ein völlig neues und anders motiviertes wie auch geartetes Lagersystem hinzutrat, in dem ebenfalls Erziehung - und nicht nur schulische - „stattfand". Während unter diesem Themenpunkt den Phänomenen „Landjahrs" und „Reichsarbeitsdienst" sowohl in seiner männlichen als auch weiblichen Spielart nachgegangen wird, ist der KLV ein eigener thematischer Schwerpunkt gewidmet.