Zum Beispiel: Das Gymnasium Bocholt

Warum erschien es lohnenswert, sich gerade mit dem Bocholter Gymnasium beispielhaft intensiver auseinanderzusetzen? Neben der naturgemäß unverzichtbaren Tatsache einer vergleichsweise geschlossenen Quellenüberlieferung waren es weitere Parameter, die diese Entscheidung maßgeblich beeinflussten. Als katholische Kleinstadt mit rund 35.000 Einwohnern in eher randständischer Lage verfügte Bocholt lediglich über eine höhere Schule für Jungen, was dazu führte, dass hier nicht nur die kommende lokale Elite zusammentraf, sondern zwangsläufig auch das Führerkorps des Jungvolks, denn wer sollte im Ort zu Jungvolkführen aufsteigen, wenn nicht die Gymnasiasten, die nachmittags über die notwendige Zeit verfügten, um mit den „Pimpfen“ den „Dienst“ zu verrichten und Heimnachmittage durchzuführen? Hier ballten sich also sozusagen die örtlichen DJ-Führer, die sich dadurch nicht nur gegenseitig kannten, sondern oftmals in direkte Konkurrenz gerieten. Welcher ambitionierte Jugendliche sah es schon gern, wenn er von Klassenkameraden hinsichtlich der Farbe der „Führerschnur“, sprich des jeweiligen Führerrangs im Jungvolk übertrumpft wurde?

Im engen Rahmen des einzigen, mit zumeist deutlich weniger als 400 Schülern zudem recht überschaubaren Gymnasiums vor Ort ist zudem zu erwarten, dass sich ausgewählten Aspekte besser beleuchten lassen als etwa am Beispiel einer weitaus größeren Anstalt einer anonymen Großstadt, die in ihren Grenzen zudem zahlreiche weitere höhere Schulen beherbergte. Dabei sollen vorrangig jene Punkte schlaglichtartig beleuchtet werden, die für das Verhältnis zwischen dem Gymnasium und der Bocholter NSDAP bzw. der örtlichen Hitlerjugend relevant erscheinen, und die die Ansprüche sowie die daraus resultierende Einflussnahme seitens des NS-Regimes mit dem entsprechenden Verhalten der Schulleitung veranschaulichen. Wie weit ging die Anpassung? Gab es einen eher resistenten oder einen NS-affinen „Schulgeist“? Und verallgemeinernd: Wie stark wurde des Schulleben und damit letztlich auch wichtige Teile der Stadtgesellschaft durch NS.-Vorgaben und –Sichtweisen durchdrungen? Als wie resistent erwies sich das katholische Milieu an der sich zumindest bis 1933 betont konfessionell gebenden Schule?

Als zweiter zentraler Untersuchungsgegenstand rückt das Verhältnis von Schule und Krieg in den Fokus. Welche direkten und indirekten Auswirkungen hatten die Kriegsgeschehnisse auf Schulalltag, Lehrerkollegium und Schüler? Was beeinflusste was und wie? Dominierten weiterhin schulische Belange oder wurden sie schrittweise völlig den Erfordernissen des „totalen Krieges“ untergeordnet? Auch das sind Fragen, die mit der folgenden Betrachtung des Bocholter Gymnasiums exemplarisch auf den Grund gegangen werden soll. Hierbei wird es möglich sein, am Beispiel einzelner Schüler deren jeweilige „Karrieren“ im Jungvolk, in der Kinderlandverschickung, als Luftwaffenhelfer und schließlich als Wehrmachtssoldaten genauer zu betrachten und in den konkreten Kontext „ihrer“ Schule zu stellen und deren Wirkungsmechanismen und Bedeutung zu hinterfragen und zu veranschaulichen.

Letztlich soll es darum gehen, der Frage nach der Durchdringung des Alltags einer ausgewählten Schule und der sie umgebenden kleinstädtischen Gesellschaft mit NS-Ideologie und daraus resultierender Handlungsweisen beispielhaft zu analysieren.

Öffentliches Bewusstsein und Quellenlage

Es ist kein leichtes Unterfangen, sich der Geschichte Bocholts und seines Jungengymnasiums während der NS-Zeit zu nähern. Bereits 1995 machte Stadtarchivar Gerhard Schmalstieg im Umgang der Bocholter Stadtgesellschaft mit ihrer NS-Vergangenheit deutliche Defizite aus, die er „durch die Tendenz der Lokalgeschichtsschreibung verursacht“ sah, „die Bedeutung und Wirksamkeit des Nationalsozialismus hier vor Ort hintanzustellen zugunsten von breiten und zahlreichen Darstellungen des Kriegsendes mit der Bombardierung der Stadt sowie der vor allem durch den politischen Katholizismus geprägten Distanzierung und Widersetzlichkeit von Bocholtern gegenüber der NS-Herrschaft“. Schmalstieg machte insgesamt eine „apologetische und privatisierende Neigung der örtlichen Nachkriegsgeschichtsschreibung“ aus, die dazu tendiert habe, die Geschehnisse in der Kleinstadt zu verharmlosen und unter einem Deckmantel allgemeinen Schweigens verschwinden zu lassen. Vielmehr habe man versucht, den Eindruck zu erwecken, als habe es in Bocholt „fast nur Opfer des Nationalsozialismus gegeben“, eine Sichtweise, die durch dessen weitgehende Zerstörung am 22. März 1945 noch verstärkt worden sei. Über die Gründe eines solchen Umgangs mit der Stadtgeschichte während der NS-Zeit, so der Stadtarchivar weiter, könne nur spekuliert werden; „gewiss aber hat der Mangel an einschlägigem Quellenmaterial dazu beigetragen“. So seien nahezu sämtliche städtische Akten dem verheerenden Bombenangriff zum Opfer gefallen, und das, was verblieben sei, dann vielfach „wohl auch dem Zugriff der Alliierten beim Herannahen der Frontlinie durch willentliche Vernichtung entzogen worden“.[1]

Auf das Bocholter Gymnasium traf das allerdings nicht zu, denn es lag in jenem kleinen Teil des Stadtgebiets, das von der Bombardierung und damit der Zerstörung verschont blieb. Das bedingte den glücklichen Umstand, dass die Schule ein weitgehend unzerstörtes Archiv ihr Eigen nennen darf, das recht weitgehende, mithin interessante Einblicke in den damaligen Schulalltag gewähren kann, die nicht selten auch ein Stück weit verstörend wirken.[2] Dieses archivalische Kleinod ist bislang noch nicht so genutzt worden, wie es wünschenswert wäre. Zwar gibt es – äußerst selten und umso bemerkenswerter – ein eigenes Schulmuseum mit interessanten Exponaten, das sich auch mit der NS-Zeit auseinandersetzt, doch muss diese Präsentation ebenso vergleichsweise oberflächlich bleiben, wie jene in der Schulfestschrift des Jahres 1978. Eine eigenständige wissenschaftliche Untersuchung der Schulgeschichte steht hingegen noch aus. Und um Missverständnissen gleich vorzubeugen, sei betont, dass es sich auch bei den im Folgenden präsentierten Kapiteln nicht um eine (ab-) geschlossene Schulgeschichte handelt und handeln kann. Die Unterlagen des Schularchivs würden es sicherlich ermöglichen, noch weitaus differenziertere Einblicke in den damaligen Schulalltag herauszuarbeiten, als das hier geschehen ist.

Fußnoten

[1] Schmalstieg, Gerhard (Bearb.): Kriegschronik der Stadt Bocholt 1939-1945, Bocholt 1995, S. IX

[2] An dieser Stelle der Schulleitung (Oberstudiendirektorin Kliem) und insbesondere Thomas Hübner einen herzlichen Dank für die schnelle und unkomplizierte Unterstützung. Gleiches gilt für Gerhard Schmalstieg vom Bocholter Stadtarchiv.

zuletzt bearbeitet am: 01.08.2015