„Von Eltern veranlasst, ihre Führerstellen niederzulegen“ – Kritik am „Staatsjugendtag“

Nach der endgültigen Ausschaltung des „Bundes Neudeutschland“ setzte sich die Schulleitung offenbar neue Ziele, die sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von den zuvor wahrgenommenen Aufgaben in dieser Frage unterschieden. [1] Waren sowohl die Werbung für die Hitlerjugend als auch die zeitgleiche Bekämpfung des ND wohl in erster Linie auf Druck von oben erfolgt, trat namentlich Direktor Raestrup nunmehr als Befürworter einer HJ-Initiative auf, ohne dass er hierzu nach Lage der Quellen gedrängt worden wäre. Über die Gründe des Schulleiters kann nur spekuliert werden. Vielleicht versuchte er auf diese Weise, das Gymnasium aus der Schusslinie der NS- und HJ-Verantwortlichen zu nehmen, um so deren Versuchen noch weitreichenderer innerschulischer Einflussnahme die Grundlage zu entziehen. Letztlich muss diese Frage aber offen bleiben.

Überraschendes Faktum bleibt hingegen, dass Raestrup im Herbst 1936 zum vehementen Verteidiger des am 1. August 1934 eingeführten, von Beginn an aber gerade auch aus dem schulischen Bereich heftig kritisierten „Staatsjugendtags“ wurde. Ausgehend von der Prämisse, dass künftig nur noch der Sonntag der Familie gehören sollte, hatten seitdem sämtliche der Hitlerjugend angehörenden Schülerinnen und Schüler samstags schulfrei, um seitens der Reichsjugendführung erzogen und geschult zu werden. Das führte im Unterrichtsbetrieb zu erheblichen Problemen und Engpässen, zumal jene Schüler, die keiner der HJ-Gliederungen angehörten, auch samstags weiterhin beschult werden mussten. Außerdem hatte der Lernerfolg unter den Auswirkungen des Staatsjugendtages oft erheblich zu leiden.

Dieser Aspekt war es dann offenbar auch, der im Herbst 1936 in Bocholt zu einer in mehrfacher Hinsicht erstaunlichen Konstellation führte. Es waren nämlich nicht etwa schulische Kreise, die den schulfreien Samstag massiv kritisierten, sondern führende Kräfte der örtlichen Hitlerjugend. In den Herbstferien suchte der Führer des Bocholter Jungbanns 261 in Begleitung eines im Jungvolk als Fähnleinführers aktiven Volksschullehrers Direktor Raestrup auf und erklärten nach dessen Darstellung, „eine Anzahl von Schüler-Führern des DJ“ hätten auf ihren Halbjahreszeugnissen deshalb schlechte Schulnoten erhalten, „weil sie am Sonnabend am Unterricht nicht teilnähmen und nun von den Eltern veranlasst würden, ihre Führerstellen niederzulegen“. „Deshalb sei es nicht mehr möglich, den Staatsjugendtag durchzuführen.“ Obwohl ihn der Schulleiter aufgrund dieser Lagebeurteilung darauf hingewiesen hatte, dass das schulische Versagen seines Erachtens nach nicht durch das samstägliche Schulversäumnis herrühre, ließ der Jungbannführer Raestrup dann am Abend des 21. Oktobers telefonisch (!) mitteilen, „dass für Bocholt vom 31.10.36 ab der Staatsjugendtag nicht mehr durchgeführt werde, weil er es vor den Eltern der Schüler, die Führer des DJ seien und schlechte Herbstzeugnisse erhalten hätten, nicht verantworten könne, dass sie am Sonnabend die Schule versäumten und dadurch in Gefahr kämen, Ostern das Ziel der Klasse nicht zu erreichen“.

Verkehrte Welt, möchte man meinen, denn es sind vergleichsweise wenige Fälle bekannt, in denen hohe HJ-Funktionäre schulische Belange vor jene der eigenen Organisation stellten.[2] Vollends irritierend wirkt die Angelegenheit aber dadurch, dass sich der offenbar um den guten Ruf seiner Anstalt besorgte Schulleiter der Meinung der Bocholter DJ-Funktionäre nicht nur nicht erfreut anschloss, sondern gegen deren Sichtweise umgehend empörten Protest bei der Abteilung für höheres Schulwesen beim Oberpräsidenten einlegte. In seiner Schule, so teilte Raestrup am 24. Oktober nach Münster mit, würden „die Anordnungen der Behörde hinsichtlich des Unterrichtes am Sonnabend genau befolgt“, um dann eine genaue Statistik zu präsentieren, die die nach seinem Urteil völlig ausreichenden schulischen Leistungen der Jungvolkführer zu belegen. „Gegenteilige Behauptungen einiger Schüler, die sie der Jungbannführung gegenüber gemacht haben, sind nicht zutreffend.“ In den höheren Klassen Obertertia bis Unterprima gab es demnach insgesamt 30 Jungvolkführer, von denen nach Ansicht des Direktors 18 „durchweg genügende Leistungen“ aufwiesen, während zwölf „bis jetzt versagen“ würden. Dieses Versagen sei aber keineswegs darauf zurückzuführen, dass sie am Staatsjugendtag nicht am Unterricht teilnehmen würden, sondern liege darin begründet, dass die Betreffenden „sehr mäßig begabt“ und zudem „nicht fleißig“ seien.

Die Gründe für die in vielen Fällen verbesserungswürdigen schulischen Leistung der Bocholter Jungvolkführer sah der Schulleiter auf anderem, von der örtlichen HJ-Führung zu verantwortendem Gebiet. So seien etwa zwei leistungsschwache Oberstufenschüler von der Jungbannführung nach den Sommerferien zu einem Führerlehrgang abgeordnet worden, ohne dass - wie vorgeschrieben - bei der Schule um deren Beurlaubung nachgesucht worden sei. Deshalb, so Raestrup habe er über eine Freistellung der Schüler auch nicht entscheiden und deren Eltern folglich nicht raten können, angesichts der Leistungen ihrer Söhne deren Teilnahme am Führerlehrgang nicht zuzustimmen. Auch sonst, so führte er dem Provinzialschulkollegium differenziert vor Augen, würden Schwächen im Unterricht bei den DJ-Führern nicht aus deren Beanspruchung im Rahmen des Staatsjugendtages, sondern aus den vielfältigen Diensten herrühren, zu denen sie seitens der Jungbannführung an den übrigen Wochentagen herangezogen würden. Viele der Fähnlein- und Jungzugführer seien nämlich an mindestens drei weiteren Nachmittagen und Abenden (montags, mittwochs und freitags) für die Hitlerjugend aktiv, wodurch es der Direktor als „bewiesen“ ansah, „dass diesen Schülern für ihre häuslichen Schularbeiten recht wenig Zeit übrig bleibt und dass sie durch diese Inanspruchnahme weit mehr gehemmt werden als durch ihren Dienst im DJ an Sonnabenden“.

Die Argumentation Raestrups war sehr nachvollziehbar, denn am Staatsjugendtag hatten ja nicht nur die Jungvolkführer, sondern sämtliche Mitglieder der Hitlerjugend schulfrei. Daher, so kritisierte er sowohl die „versagenden Schüler“ als auch die Jungbannführung, würde der Staatsjugendtag lediglich als Ausrede für die schlechten Leistungen herangezogen, was umso deutlicher ins Auge falle, dass es eben auch Jungvolkführer gäbe, die trotz ihrer Dienstverpflichtungen gute Zeugnisse erhalten hätten. Zugleich weitete der Schulleiter seine Kritik an den als mäßige Schüler ausgemachten Jungvolkführern noch aus, indem er darauf hinwies, dass sie im Unterricht oftmals nicht das Verhalten an den Tag legen würden, „welches von Führerschülern erwartet“ werde, sondern vielmehr häufig wegen Störungen mit Klassenbucheintragungen bestraft werden müssten.

Das Fazit des Direktors jedenfalls fiel eindeutig aus: „Meines Erachtens liegt kein Grund vor, die Einrichtung des Staatsjugendtages in einer Stadt von 34.000 Einwohner aufzuheben, weil einige Schüler, die Führer im DJ sind, in der Schule versagen. Ich kann mir auch nicht denken, dass eine immerhin untergeordnete Dienststelle, wie die Führung eines Jungbannes es doch ist, eine durch Erlass des Herrn Ministers angeordnete Einrichtung aus eigener Machtbefugnis abschaffen kann. Jedenfalls habe ich zunächst dagegen schriftlich Verwahrung eingelegt, mir am späten Abend fernmündlich die Mitteilung von der Aufhebung des Staatsjugendtages zu machen, die den Schülern schon am vorigen Sonnabend von den Führen des DJ gemacht war, und hinzugefügt, dass für mich die vom Herrn Minister angeordnete Einrichtung solange weiter besteht, bis meine Behörde mich anders bescheidet.“

Raestrup erfuhr in dieser Frage auf allen Ebenen volle Zustimmung, denn sowohl der Oberpräsident als auch die HJ-Gebiets- und -Bannführung teilten ihm am 29. Oktober 1936 mit, dass „von einer Auflösung oder Aufhebung des Staatsjugendtages keine Rede sein“ könne. Das verhinderte zwar nicht dessen bald darauf reichsweite verfügte Aufhebung zum 1. Januar 1937, zeigte aber am Beispiel des Bocholter Gymnasiums die gegenseitigen Versuche der Einflussnahme von Jungbannführung und Schulleitung. So nachvollziehbar dabei der Versuch des Direktors war, die Leistungsfähigkeit und den Lehrerfolg seiner Einrichtung zu verteidigen, so eigenartig mutet doch dessen damit verknüpfte völlige Bejahung des Staatsjugendtages an. Hätte er beispielsweise tatsächlich nur die Jungbannführung treffen wollen, wäre die öffentliche Bekanntmachung der auf der Anweisung der Jungbannführung beruhende und auf Bocholt beschränkten Absage des Staatsjugendtages zum 31. Oktober 1936 sicherlich weit öffentlichkeitswirksamer gewesen. Ein ausdrückliches positives Votum für die allgemein ungeliebte Einrichtung, wie Raestrup es abgab, war nach Lage der Dinge hingegen nicht erforderlich.

Fußnoten

[1] Das Folgende nach Schularchiv Georg-Gymnasium Bocholt, F 28

[2] Der tatsächliche Grund für deren Verhalten dürfte wohl darin zu suchen sein, dass sie verhindern wollten, dass der ohnehin chronische Führermangel im Jungvolk sich in Bocholt noch verschärfte. Sollten Eltern ihre Söhne aufgrund mangelhafter Schulleistungen die Annahme solcher Führerpositionen untersagen, hätte die Jungbannführung vor einem erheblichen Problem gestanden, denn hierfür kamen nach Lage der Dinge fast ausschließlich Gymnasiasten in Frage. Um dem zu entgehen, war man offenbar bereit, den Staatsjugendtag“ zu opfern.

zuletzt bearbeitet am: 01.08.2015