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Flucht/Vertreibung

"Flucht und Vertreibung“ war ein dominierendes Thema der Nachkriegszeit. Zwischen 1944 und 1948 waren in Deutschland und in Europa rund hundert Millionen Menschen „unterwegs“, die ihre Heimat für immer oder für längere Zeit verlassen mussten. Die Welt erlebte damals die zahlenmäßig größte Wanderung der Geschichte überhaupt. In Deutschland hielten sich 1945 zwei Drittel der Bevölkerung nicht an ihren angestammten Wohnplätzen auf. Und ob die Menschen, die das Schicksal zusammenführte, das nun wollten oder nicht, sie waren dauerhaft zum Zusammenleben gezwungen.

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Probleme der Aufnahmeregionen

Mit ihrer Ankunft im Westen ließen die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen nicht nur ihre angestammte Heimat hinter sich, sondern konnten endlich ohne die großen Ängste und Misshandlungen leben, die sie in den Monaten und Jahren zuvor hatten durchleiden müssen. Die wurden aber schnell durch andere psychische und physische Belastungen ersetzt, denn sie wurden keinesfalls mit offenen Armen empfangen. Im Gegenteil: Zumeist schlug ihnen Abwehr und Verachtung der einheimischen Bevölkerung entgegen, die sich in Beschimpfungen als „Flüchtlingsschweine, Polacken, Rucksackdeutsche, 40-kg-Zigeuner“ niederschlugen und dere4n oftmals menschenverachtender Hintergrund in folgender - aus dem Emsland überlieferten - Aussage auf den Punkt gebracht wurden: „Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge.“[1]

Die aus einer solcher Behandlung resultierenden psychischen Belastungen waren die eine, der mit Flucht und Vertreibung in aller Regel einhergehende abrupte soziale Abstieg die andere, nicht weniger bedrückende Seite der Medaille. Neben der „Ignoranz der Einheimischen“ habe der Entzug der materiellen Existenz den Ankömmlingen – und hier ganz besonders den Landwirten - erheblich zu schaffen gemacht, resümiert Andreas Kossert. „Ehemals selbständige Gutsbesitzer und Bauern mussten sich als Knechte und Landarbeiter verdingen, Fachkräfte aus Handel, Handwerk und Industrie sich oft jahrelang als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft durchschlagen.“ Die so etablierten Gegensätze bargen erheblichen sozialen Sprengstoff und sollten die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft insbesondere in ländlich geprägten Gebieten noch lange prägen. Ein Mitarbeiter der US-Militärregierung stellte im Oktober 1946 fest: „Die Leute, die am meisten verloren haben, sind jetzt in den engsten Kontakt gekommen mit den Bauern, die am wenigsten verloren haben.“

Auch deshalb kam dem oben skizzierten Aspekt von „Gesellschaften im Strukturwandel“ eine große Bedeutung zu. Hierzu nochmals Andreas Kossert: „Den einheimischen Bauern, die in ein überschaubares und seit Generationen vertrautes, noch immer relativ geschlossenes Sozialmilieu eingebunden und durch Krieg und Niederlage nicht aus ihrem angestammten Besitz verdrängt worden waren, stand der enteignete, durch die Vertreibung aus allen gewachsenen sozialen Bezügen gerissene, stigmatisierte Heimatlose gegenüber. Nur wenn dieser sich bereitwillig in die Gesinderolle fügte, gestaltete sich das Zusammenleben halbwegs erträglich.“ [2] Damit korrelierte das Phänomen, dass insbesondere den Älteren unter den vertriebenen Bauern sehr häufig die Kraft zum Neuanfang fehlte – nicht zuletzt wohl deshalb, weil man ihren früheren Status im Westen schlicht ignorierte. Man sei sich, so analysierte damals ein Flüchtlingsbetreuer, viel zu wenig darüber im Klaren, „dass diese Ausgewiesenen, die jetzt als Knechte und Mägde beim kleinen Bauern arbeiteten, vor wenigen Jahren selbst noch sehr reiche Bauern waren“. Aus solcher Ignoranz resultierten nahezu zwangsläufig Konflikte. So gab es 1947 in Büderich bei Neuss nach einem Bericht des Gemeindedirektors wegen der Vertriebenen „in jedem zweiten Haus Streit“, weil sie sich von den alteingesessenen Bauern wie „Sklavenarbeiter“ behandelt fühlten. Auch andere Beobachter berichteten, dass „die Ankommenden wie Sklaven von den Bauern auf ihre Leistung taxiert“ würden.[3]

Unter solchen Prämissen kann es nicht überraschen, dass noch 1949 in der Bizone 60 Prozent der Einheimischen und 90 Prozent der Vertriebenen der Auffassung waren, dass das Verhältnis zwischen Alt- und Neubürgern „schlecht“ sei.[4] Dabei waren viele Neuankömmlinge davon überzeugt, von der eingesessenen Bevölkerung nicht als gleichberechtigte Deutsche akzeptiert, sondern „für Menschen geringeren Wertes, für Fremde oder Unheil bringende Bettler“ gehalten zu werden. Tatsächlich lautete ein weitverbreitetes Urteil: „Die Flüchtlinge sind grundsätzlich schmutzig. Sie sind grundsätzlich primitiv, ja sie sind sogar grundsätzlich unehrlich. Dass sie faul sind, versteht sich am Rande und dass sie lieber einen braven Einheimischen betrügen, als ihm eine Arbeit abzunehmen.“ Solche Diffamierungen wurden keineswegs nur intern oder hinter vorgehaltener Hand geäußert. Die hier zitierte Passage wurde im April 1949 in der Rhein-Neckar-Zeitung abgedruckt!

Natürlich erfuhren Flüchtlinge und Vertriebe im Westen auch mitmenschliche Zuwendung und Nachbarschaftshilfe, wovon mit Blick auf Jüchen an anderer Stelle noch einige Beispiele präsentiert werden. Zumindest in den ersten Nachkriegsjahren dominierten aber ganz eindeutig negative Erfahrungen, die sich im folgenden Bild widerspiegeln, das die Erinnerungen zahlreicher Ankömmlinge aus dem Osten dauerhaft prägte: Die Flüchtlingsfrau mit ihren Kindern, die nach der Ankunft verzweifelt von einem Bauernhof zum nächsten weitergeschickt wird, weil sie niemand aufnehmen will, bis dann schließlich ein Bürgermeister sich erbarmt und sie mit Zwang bei einem unwilligen Einheimischen einquartiert.[5]

Dabei sollte keineswegs vergessen werden, dass die von Flucht und Vertreibung Betroffenen oftmals noch in anderer Hinsicht stark unter Kriegsfolgen zu leiden hatten. Das Fehlen des Ehemanns und Vaters aufgrund von Tod oder Gefangenschaft erschwerte den Familien neben den ohnehin schon destabilisierenden Faktoren der räumlichen Enge, katastrophalen Ernährungslage und/oder miserablen hygienischen Bedingungen das Einfinden in der neuen „Heimat“. Eine niedersächsische Untersuchung ergab, dass nur 43 Prozent der befragten Schüler in Vertriebenenhaushalten „vollständigen“ Familien entstammten, während sich der Prozentsatz bei einheimischen Kindern auf 73 Prozent belief.[6]

Unter den hier nur knapp skizzierten Umständen blieb Westdeutschland den Vertriebenen noch lange eine „kalte Heimat“ und deren Aufnahme und Integration laut der Zeitung „Das Parlament“ auch 1949 weiterhin „Deutschlands Frage Nr. 1“. Zu diesem Zeitpunkt war längst noch nicht klar, ob und wie das Problem zu entschärfen sei, aber immerhin bestand Einigkeit darin, dass dies so schnell wie möglich geschehen müsse.[7] Denn so viel war den Verantwortlichen längst klar geworden: Die ursprüngliche Skepsis war in dem Maße in offene Ablehnung umgeschlagen, wie sich immer deutlicher abzeichnete, dass es sich bei den Flüchtlingen und Vertriebenen nicht um Gäste, sondern um Neubürger handelte.

Fußnoten

[1] Zitiert nach Kossert, Heimat, S. 47ff. Dort auch das Folgende. Vgl. auch Burk/Fehse/Krauss/Spröer/Wolter, Heimat, S. 32 und Beer, Flucht, S. 114.

[2] Kossert, Heimat, S. 79. Dort auch der Zitatnachweis. Zum Folgenden vgl. ebenda, S. 83 und 100 (Zitat).

[3] Nonn, Migrationsgeschichte, S. 94

[4] Vgl. Beer, Flucht, S. 114. Zum Folgenden vgl. – mit Zitatnachweis - ebenda, S. 107f.

[5] Vgl. Burk/Fehse/Krauss/Spröer/Wolter, Heimat, S. 33

[6] Vgl. Plato/Leh, Frühling, S. 46f.

[7] Vgl. Beer, Flucht, S. 108. Zum Folgenden vgl. ebenda, S. 114.

zuletzt bearbeitet am: 05.12.2017