Bericht des SD-Hauptamtes II 112
Am 18. November 1937 gibt das SD-Hauptamt II 112 in Berlin folgenden „Lagebericht“ für den Zeitraum vom 1. bis 15. November 1937 ab:
Infolge der fortschreitenden antisemitischen Bestrebungen in den verschiedenen Ländern, die als Einwanderungsländer von den aus Deutschland auswandernden Juden bevorzugt werden und durch die immer noch ungeklärte Lage in Palästina , machte sich in den letzten Monaten im Reich eine beginnende Auswanderungsmüdigkeit bemerkbar. Die Tatsache, daß außerdem eine Reihe ausländischer Staaten (insbesondere überseeische Länder) im Jahre 1937 verschärfte Einwanderungsbestimmungen erlassen hat, ließ Befürchtungen eines Rückganges der jüdischen Auswanderungszahl insbesondere der jüdischen Mittellosen aufkommen. Wie aus mehreren Oberabschnitten bereits gemeldet wurde, ist ein sichtbares Abschwenken bisher nicht assimilatorisch eingestellter Juden in Deutschland in das assimilatorische Lager festgestellt worden. Diese Feststellungen sind zweifellos eine Folge der eingangs erwähnten Umstände.
Es wurde daher im zweiten Halbjahr 1937 auf die für die Auswanderung in Frage kommenden jüdisch-politischen Organisationen zur Förderung der Auswanderungstätigkeit verschärfter Druck ausgeübt.
Während der Berichtszeit vorgenommene Feststellungen bezüglich der Auswanderungszahlen für das Jahr 1937 ergaben folgendes Resultat:
In den ersten 9 Monaten des Jahres betrug die Zahl der ausgewanderten Juden rund 18.000. Die Anmeldungen und laufenden Erledigungen für das letzte Vierteljahr 1937 ergeben, daß auch zu diesem Zeitpunkt wiederum 6.000 Juden Deutschland verlassen, sodaß mit einer Gesamtauswanderungszahl von 24.000 Juden für 1937 gerechnet werden kann. Hinzu kommt durch die natürliche Verminderung ein Abgang von weiteren 5000 Juden für 1937. (1936 betrug die Zahl der natürlichen Verminderung 4.000. Durch die fortlaufende, sich immer mehr auswirkende Vergreisung der Juden in Deutschland wird diese Zahl von Jahr zu Jahr zunehmen).
Somit vermindert sich der Stand vom: 31.1.37 von 392.000 Glaubensjuden bis 31.12.37 auf 363.000 Glaubensjuden.
Der Stand der jährlichen Auswanderung von Juden aus Deutschland konnte somit im Vergleich zu den letzten vier Jahren trotz der erwähnten großen Schwierigkeiten gehalten werden. Der größte Teil der 1937 ausgewanderten Juden war mittellos. Der Rest, jüdische Kapitalisten, wickelte die Vermögens-Transferangelegenheiten über die ''Haavara '' ab.
In den in Berlin arbeitenden jüdisch-politischen Spitzenorganisationen wurden bisher 343 Juden ausländischer Staatsangehörigkeit erfaßt, die dort als Funktionäre und Angestellte beschäftigt waren. Von diesen wurden bereits 97 Juden, darunter acht sowjetrussischer Staatsangehörigkeit, entfernt. Den jüdischen Organisationen wurde zur Auflage gemacht, den Rest, mit ganz wenigen Ausnahmen, bis zum 15.2.1938 zu entlassen. Anläßlich einer Vorsprache des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde, Berlin, auf Grund einer Intervention des Tschechoslowakischen Generalkonsuls bezüglich der Entlassung tschechoslowakischer Staatsbürger, wurde diesem mitgeteilt, daß diese Maßnahme keineswegs wegen der Zugehörigkeit der Betroffenen zu irgendeinem Auslandsstaat ergriffen wurden, sondern daß für die Entschließung der Behörde lediglich das Verhalten von in jüdisch-politischen Organisationen beschäftigten Auslandsjuden während ihres Aufenthaltes im In- und Ausland ausschlaggebend war.
Die Durchführung des zweiten Vierjahresplanes hat den Juden eine neue Möglichkeit gegeben, sich auf vielen Gebieten des materiellen Lebens, wie im Textil- und Eisengroßhandel nahezu unentbehrlich zu machen. So lieferte beispielsweise die jüdische Firma Valentin Mehler, Segeltuchweberei A.G. in Fulda, (Mehrheitsbesitzer der Aktien ist der Volljude Arthur Kayser) den Stoff zu den Windjacken, die die Partei den alten Kämpfern des 9. November zum Geschenk machte. Die Freizügigkeit, die die Juden auch heute noch im Wirtschaftsleben haben, führt dazu, daß sie sich immer sicherer fühlen und aus der bisher geübten Zurückhaltung immer mehr heraustreten. So strebt der jüdische Bankier Aufhäuser, München, für sich die Zuerkennung des Reichsbürgerrechtes bei den zuständigen Stellen an und begründet sein diesbezügliches Gesuch damit, daß er infolge seiner vielen Auslandsbeziehungen für den deutschen Staat unentbehrlich sei. Wieweit dieses Heraustreten aus der bisher geübten Zurückhaltung bereits gediehen ist, zeigt das Beispiel des jüdischen Viehhändlers Herrmann aus Ellingen, der einem übelbeleumundeten Bauern 10.000 Reichsmark in Aussicht stellte, wenn er den zuständigen Kreisleiter der NSDAP erschießen würde. Der Jude wurde in Schutzhaft genommen.
Die bereits im letzten Lagebericht erwähnten Vorfälle in Danzig haben den in Danzig ansässigen Juden klar gemacht, daß nunmehr auch dort die Lösung des Judenproblems angestrebt wird. Daß das Judentum in Danzig allerdings nicht gewillt ist, seine Sonderstellung kampflos zu räumen, und daß sich das internationale Judentum mit den Juden Danzigs solidarisch erklärt, zeigt eine Notiz in der französischen Zeitung ''Le Temps vom 4.11.1937, wonach sich das Executivkomitee des Jüdischen Weltkongresses an die Außenminister von Frankreich, Großbritannien und Schweden in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Dreierausschusses des Völkerbundes für Danziger Angelegenheiten gewandt hat. In dieser Adresse protestiert das Executivkomitee gegen die antisemitischen Demonstrationen, die seit dem 19.10.1937 in Danzig stattgefunden haben und verlangt ein Eingreifen des Völkerbundes. Das Executivkomitee weist in seinem Protest ferner auf seine Eingabe vom 9.12.1936 hin, in der es den Völkerbund bereits auf die kommenden judengegenerischen Maßnahmen des Danziger Senates aufmerksam gemacht habe.
Die von der Partei geplanten Maßnahmen gegen die Juden in Danzig, die sich naturgemäß zunächst gegen den wirtschaftlichen Einfluß der Juden richteten, schreiten vorwärts. So ist in der letzten Zeit eine Kennzeichnung der arischen Geschäfte durch eine Fensterplakette der NS-Hago vorgenommen worden. In den Veranstaltungen der NSDAP im Gau Danzig werden den Nationalsozialisten die Namen der jüdischen Firmen bekanntgegeben. Außerdem werden die Hausbesitzer ersucht, ihre Wohnungen und Läden nicht mehr an Juden zu vermieten, da die Versicherungen sich weigern, den bei Unruhen entstandenen Schaden zu ersetzen.
Am 10.11.1937 ist die Jüdische Telegrafenagentur (ITA) , Berlin, aufgelöst und verboten worden. Bisher leugneten die verantwortlichen Funktionäre dieser jüdischen Telegrafenagentur stets ab, eine Zweigstelle der jüdischen Telegrafenagentur in New York zu sein. Nach dem erfolgten Verbot wandten sich ein Teil der amerikanischen Presse gegen diese Maßnahme, indem sie behauptete, das Verbot eines ''amerikanischen Nachrichtenbüros'' widerspreche dem deutsch-amerikanischen Freundschaftsabkommen. Damit bestätigt sich also die ausgesprochene Vermutung.