Die Sopade berichtet
In der Juli-Ausgabe 1939 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:
Die Judenverfolgung
Wir haben zuletzt in Heft 2/1939 über die Judenverfolgungen in Deutschland Bericht erstattet. Seither sind die Tschechoslowakei und Memel okkupiert worden. Die Aussicht darauf, irgendwo in der Welt eine neue Existenz gründen zu können, hat sich damit für zahlreiche deutsche Juden aufs neue verringert. Wer Hoffnungen auf ausländische Verwandte und Freunde - früher in Österreich, dann in der Tschechoslowakei - gesetzt hat, kommt jetzt in die Lage, diesen von einem Tag auf den anderen entrechteten Menschen seinerseits beizustehen und ihnen über die erste Zeit des fassungslosen Entsetzens hinwegzuhelfen.
Obgleich so die Möglichkeit, aus eigener Kraft einen Ausweg zu finden, für die in Deutschland und den besetzten Gebieten lebenden Juden noch weiter verringert worden ist, und obgleich sich das Dritte Reich durch seine neuen Okkupationen wiederum kräftig an den bisherigen jüdischen Vermögenswerten bereichert hat, wird der Druck, das Land zu verlassen, von Monat zu Monat gesteigert und zugleich die Habe, die auswandernde Juden mitnehmen dürfen, immer mehr beschränkt. Man ist sogar dazu übergegangen, Juden - vor allem aus Danzig - zwangsweise auf Schiffe zu verladen, die ihre „Fracht“ nirgends an Land setzen können und monatelang auf den Meeren umherirren. Viele tausend Juden, denen die Verhaftung droht, wenn sie das Reich nicht verlassen, ziehen selbst die ungewisse Fahrt mit diesen Schiffen einem längeren Verbleiben in Deutschland vor, wo ihnen jede Existenzmöglichkeit entzogen ist.
1. Das Schicksal der Juden in den okkupierten Gebieten
a) Böhmen
In der gesamten Tschechoslowakei lebten bis zum Münchner Abkommen im September 1938 rund 375 000 jüdische Einwohner, die 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung bildeten und volle Gleichberechtigung genossen. Der Einmarsch der Hitlerschen Okkupationsarmee am 15. März 1939, der in den frühen Morgenstunden erfolgte, überraschte die Einwohnerschaft buchstäblich im Schlaf. Die Juden, vor allem auch die, die aus dem Reich und aus den im Herbst 1938 besetzten Sudetengebieten nach Prag geflüchtet waren, sahen sich über Nacht in die Hände ihrer Todfeinde gegeben. Seither ist gegen sie derselbe Vernichtungsfeldzug geführt worden, der die Juden im Reich allmählich, die Juden in Österreich in wenigen Wochen an den Rand des Abgrunds geführt hat.
Paragraph 2 der von Hitler auf dem Hradschin erlassenen Verordnung über das mährisch-böhmische Protektorat lautete:
„Die Deutschen, die im Protektorat wohnen, werden Reichsbürger; sie werden damit den Vorschriften zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Rassengesetz) unterworfen.“
Damit war von vornherein die Gleichstellung der im Protektorat lebenden deutschen Juden mit den Reichsjuden vollzogen.
Unmittelbar nach den Okkupationstruppen hielt die Gestapo in Böhmen ihren Einzug. Eine Verhaftungswelle ging über das Land. Tschechische und deutsche Demokraten und Sozialisten, tschechische und deutsche führende Juden, Emigranten, die sich nach der Tschechoslowakei geflüchtet hatten, wurden gefangengesetzt, mißhandelt und z. T. in deutsche Konzentrationslager abtransportiert.
Nie hat man die wahre Zahl der Verhaftungen erfahren, nie auch die Ziffer der Selbstmorde, die sich in diesen Tagen in Böhmen ereignet haben.
In Prag selbst sind offene antisemitische Ausschreitungen im allgemeinen unterblieben, zumal die tschechische Bevölkerung Exzessen dieser Art ablehnend gegenübersteht. Dagegen waren mehrere Bombenanschläge auf jüdische Häuser zu verzeichnen, denen auch Menschen zum Opfer fielen. Zu antijüdischen Ausschreitungen nach reichsdeutschem Muster kam es in den Provinzorten mit deutschem Einschlag, so in Mährisch-Ostrau, Pilsen, Brünn, Pardubitz usw.
Im ganzen Protektorat wurden die Synagogen entweder abgebrannt oder von den Gemeinden beschlagnahmt. Da die tschechischen Feuerwehren die Gewohnheit, Brände zu löschen, noch nicht abgelegt haben, und aus diesem Grunde die Regie nicht überall klappte, gab die Prager Gestapo einen Geheimbefehl heraus, der allen Feuerwehren im gesamten Protektorat untersagte, die in Synagogen oder jüdischen Gemeindehäusern entstehenden Brände zu löschen. Die Brände seien in solchen Fällen nur zu lokalisieren. Völlig niedergebrannt wurden u. a. die Synagogen in Bronn, Iglau, Witkowitz, Falkenau, Mährisch-Ostrau, Zabreh a. O., Oderfurt bei Mährisch-Ostrau und Friedeck. In verschiedenen Orten vernichtete man auch die Gemeindehäuser, in Mährisch-Ostrau wurde das von Juden besuchte Kaffee Opera in Brand gesteckt.
Wir erhalten hierzu folgenden Bericht:
Die Synagogen in Mistek-Frydek, Witkowitz und Mährisch-Ostrau sind durch Brandstiftungen vernichtet. Erst kam die Synagoge in Mährisch-Ostrau an die Reihe, hier gelang es der Feuerwehr einzuschreiten, man löschte den Brand. Aber bereits nach drei Tagen, am 2. Juni wurde wieder ein Brand „entdeckt“, es war sofort SA-Mannschaft zur Stelle, und die Feuerwehr durfte nicht mehr eingreifen. In Witkowitz überwachten SA-Leute den Brand und am 12. Juni kam auch die Synagoge in Mistek-Frydek dran. Es gibt unter der Bevölkerung nur eine Meinung: daß es sich hier um von den Nazis organisierte Brände handelt. Es ist bekannt, daß man in der Synagoge in Witkowitz bereits am 23. bzw. 24. Mai den ersten Versuch machte, wobei dem Brand die gesamte Inneneinrichtung zum Opfer fiel, dann folgte später der Brandangriff auf das Gebäude, das heute nur noch einen Trümmerhaufen bildet. Zwar werden diese Synagogenbrände von der Bevölkerung scharf verurteilt, aber man nimmt all das als Tatsachen hin, mit denen man sich abzufinden hat.
Die Versicherungsgesellschaften weigerten sich, für die entstandenen Schäden zu haften. Dagegen erhielten mehrere jüdische Gemeinden, z. B. die von Brünn, die Aufforderung, die ausgebrannten Synagogen auf ihre Kosten wieder aufbauen zu lassen und die Schaufenster der jüdischen Geschäfte zu reinigen, die mit antisemitischen Losungen beschmiert worden waren.
Die jüdischen Friedhöfe wurden den jüdischen Gemeinschaften in vielen Fällen entzogen. So beschloß die Stadtverwaltung in Pardubitz, den aus dem Jahre 1642 stammenden alten jüdischen Friedhof in eine öffentliche Parkanlage mit Kinderspielplatz umzuwandeln und den Juden den Zutritt zu verbieten. Der jüdische Friedhof in Prerau wurde vom Bauamt beschlagnahmt.
Im Mai schon wurden aus dem Protektorat die ersten „judenrein gemachten“ Städte gemeldet, u. a. Falkenau, wo zuvor mehrere hundert Juden gelebt hatten.
Vor allem tobte sich der Rassenwahn der Eroberer auf wirtschaftlichem Gebiet aus. Es geschah das gleiche wie in Österreich: alle zurückgedrängten Neidinstinkte gegen die Juden brachen hemmungslos durch und führten zu einer Vorwegnahme der erst allmählich in Kraft tretenden Verordnungen und Gesetze.
Eine vollständige und nach dem zeitlichen Ablauf exakte Darstellung der Maßnahmen gegen die Juden kann auch heute noch nicht gegeben werden. Im ersten Vierteljahr ist der Reihe nach etwa das Folgende geschehen:
Eine Verordnung der deutschen „Protektoren“ verhing eine Sperre über alle jüdischen Bankkonten. Kein Jude durfte bis auf weiteres Geld abheben. Der Verkauf von Wertpapieren ist den Juden erst seit der zweiten Hälfte Juni wieder gestattet.
Das Radio kündigte bereits in den ersten Tagen an, daß in allernächster Zeit für alle jüdischen Geschäfte „Kommissare“ eingesetzt werden würden, was später auch nach und nach geschah.
Die den Juden gehörigen Hotels und Pensionen in den Bädern und Kurorten wurden in arische Verwaltung übernommen. Der Bürgermeister von Karlsbad ließ 60 in jüdischem Besitz befindliche Hotels und Kurhäuser offiziell zum Verkauf ausschreiben.
In Brünn wurde eine für ganz Mähren geltende Verordnung erlassen, nach der zwar jeder eigenmächtige Eingriff in jüdisches Vermögen untersagt, zugleich aber eine Sperre über das jüdische Eigentum verhängt wurde, das von da an - auch geschenkweise - nicht mehr übertragbar war.
Die 40 in Böhmen erscheinenden jüdischen Zeitungen und periodischen Zeitschriften wurden samt und sonders verboten. Erst im Juli hat man wieder eine einzige Zeitschrift, das Organ der jüdischen Gemeinde in Brünn, „Hadoar“ zugelassen.
Am 22. März faßte der Landesausschuß Böhmen den Beschluß, alle jüdischen Landesangestellten zu entlassen. Gleichzeitig wurden die Ärzte aus dem Dienst der öffentlichen Krankenkassen in Böhmen ausgeschlossen.
Die Prager Stadtverwaltung entließ ihre jüdischen Angestellten fristlos. Ebenso erfolgten Massenentlassungen von Juden aus privaten Unternehmungen.
Sämtliche jüdische Verlagshäuser - darunter der bekannte Melantrich-Verlag in Prag und der Verlag Kittl in Mährisch-Ostrau - wurden arisiert, und zwar unter gleichzeitiger Entlassung aller jüdischen Angestellten.
Der unter deutscher Kontrolle stehende Verband tschechischer Anwälte forderte sämtliche jüdischen Mitglieder auf, binnen 24 Stunden ihre Kanzleien an arische Verwalter zu übergeben.
Die Ingenieurkammer gab ihren jüdischen Mitgliedern bekannt, sie hätten ihre Unternehmungen „freiwillig“ zu liquidieren und der Kammer eine Liste derjenigen Deutschen zu unterbreiten, denen die Liquidation anvertraut werde. Die Aktion müsse bis Anfang April beendet sein.
Die Versicherungsanstalten stellten sämtliche Zahlungen an Juden ein, für die keine besondere behördliche Erlaubnis vorgelegt werden konnte.
- Der Prager Magistrat verbot den Juden, mit Lichtreklame für ihre Geschäfte zu werben.
Sämtliche jüdische Institutionen in Böhmen und Mähren wurden von der Gestapo geschlossen, auch die einzige jüdische Ausspeisung in Prag. Alle jüdischen Wohlfahrtsinstitutionen mußten ihre Tätigkeit einstellen, die Leiter wurden zum Teil verhaftet, die Kassen wurden beschlagnahmt, die Räume versiegelt. Die wohlhabenderen Juden hatten nur geringe Möglichkeiten, der Not zu steuern, weil ihre Bankkonten gesperrt waren.
Die Prager Stadtverwaltung beschloß einstimmig, alle Kontrakte mit jüdischen Firmen auf Deutsche zu übertragen.
Die Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Prag wurde von der Gestapo geschlossen.
Die tschechischen Sportorganisationen schlossen alle jüdischen Mitglieder aus.
Die Stadtverwaltung Aussig konfiszierte zur Feier von Hitlers 50. Geburtstag die Parkanlagen der Bankiersfamilie Petschek und machte sie der Gemeinde zum Geschenk.
Am 1. Mai verloren rund 150 000 tschechische Staatsangehörige, in der Hauptsache Juden, ihr Bürgerrecht. Sie hatten sich nach dem Anschluß des Sudetengebietes nicht zur gesetzlich angeordneten Überprüfung aller Naturalisierungen seit 1918 gemeldet. Den auf diese Weise Ausgebürgerten wurde auferlegt, die Tschechoslowakei sobald wie möglich zu verlassen.
Die „Protektoratsbehörden“ eröffneten ein besonderes Amt für die Arisierung jüdischer Geschäfte.
Mit der eigentlichen Judengesetzgebung ging es zunächst nicht recht vorwärts. Wer den Gang der Ereignisse verfolgt hat, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß hier von tschechischer Seite eine unverhüllte Obstruktion getrieben worden ist. Die tschechische „Partei der nationalen Einheit“ setzte eine „Kommission zum Studium der Judenfrage“ ein, die zugleich für den Entwurf des geplanten Judengesetzes verantwortlich sein sollte. Mehrere tschechische Minister sprachen sich gegen die Lösung der Judenfrage auf rassischer Grundlage aus und wollten sie als rein wirtschaftliches Problem behandelt wissen. Die Kommission beschloß zunächst, es sollte nur der als Jude gelten, der vor dem 30. Oktober 1918 jüdischer Religion war. Auch sollte es eine Art Ehrenarier geben, das heißt Juden, denen „besonderer Verdienste wegen die Zugehörigkeit zur arischen Rasse zuerkannt wird“. - Im Mai unterbreitete Neurath, der mit dieser Regelung natürlich nicht einverstanden sein konnte, dem Präsidenten Hacha die „Wünsche“ der deutschen Regierung zur tschechischen Judengesetzgebung. Unmittelbar danach wurden sämtliche Mitglieder der „Kommission zum Studium der Judenfrage“ durch neue ersetzt. Etwa eine Woche später unterbreitete die neu zusammengesetzte Kommission Herrn Neurath vier Entwürfe zum Judengesetz, die als zu milde verworfen wurden. Nach weiteren 14 Tagen entschloß sich Reichsprotektor v. Neurath, selbst eine „Verordnung über die Entjudung der Wirtschaft in Böhmen-Mähren“ herauszugeben. Diese Verordnung vom 21. 6. 1939 besagt u. a.:
§ 1 (1) Juden, jüdische Unternehmen und jüdischen Personenvereinigungen sind die Verfügung über Grundstücke, Rechte an Grundstük-ken, wirtschaftliche Betriebe und Beteiligungen an solchen, Wertpapiere aller Art, sowie die Verpachtung von Grundstücken und wirtschaftlichen Betrieben und die Übertragung von Pachtrechten dieser Art nur mit besonderer schriftlicher Genehmigung erlaubt. Das gleiche gilt für die Verpflichtung zu Verfügungen über die genannten Gegenstände.
§ 2 (1) Die Genehmigung nach § 1 erteilt der Reichsprotektor . ..
§ 3 Juden, jüdische Unternehmen und jüdische Personenvereinigungen haben die in ihrem Eigentume oder Miteigentume stehenden oder von ihnen gepachteten Land- oder forstwirtschaftlichen Grundstücke bis zum 31. Juli 1939 beim zuständigen Oberlandrat anzumelden.
§4 (1) Juden, jüdischen Unternehmen und jüdischen Personenvereinigungen sind der Erwerb von Grundstücken und Rechten an Grundstücken, von Beteiligungen an wirtschaftlichen Unternehmungen und von Wertpapieren sowie die Übernahme und Neuerrichtung wirtschaftlicher Betriebe und die Pachtung von Grundstücken verboten.
§ 5 (1) Juden, jüdische Unternehmer und jüdische Personenvereinigungen haben die in ihrem Eigentum oder Miteigentum befindlichen Gegenstände aus Gold, Platin und Silber sowie Edelsteine und Perlen bis 31. Juli 1939 bei der Nationalbank oder den von ihr bestimmten Stellen anzumelden.
(2) Ihnen sind der Erwerb, die Veräußerung und die Verpfändung der in Absatz 1 aufgeführten Gegenstände verboten.
(3) Das gleiche gilt für sonstige Schmuck- und Kunstgegenstände, soweit der Wert für den einzelnen Gegenstand oder eine Sammlung von Gegenständen den Betrag von 10 000 Kc übersteigt.
§ 9 (1) Der Reichsprotektor kann in ihm geeignet erscheinenden Fällen Treuhänder bestellen, die seiner Aufsicht und Weisung unterliegen.
§ 10 (1) Wer dieser Verordnung oder den zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmung zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen belegt. Ebenso wird bestraft, wer die Bestimmungen dieser Verordnung oder die zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmungen umgeht . . .
(4) Neben der Strafe kann auf Einziehung des Vermögens erkannt werden, soweit es Gegenstand der strafbaren Handlung war. Kann keine bestimmte Person verfolgt werden, so kann auf Einziehung des Vermögens auch selbständig erkannt werden . . .
(6) Die Untersuchung und Aburteilung dieser Straftaten liegt den deutschen Gerichten ob, die nach dem allgemeinen Reichsrecht zuständig sind . . .
§ 12 (1) Diese Verordnung tritt mit dem Tag ihrer Bekanntmachung in der Prager Tageszeitung „Der Neue Tag“ in Kraft.
(2) Die Vorschriften der §§ 1, 2 und 4 gelten rückwirkend vom 17. März 1939 an mit der Maßgabe, daß in der Zwischenzeit geschlossene genehmigungspflichtige Geschäfte rechtsunwirksam sind, solange nicht die Genehmigung nachträglich erteilt ist. . .
Diese Verordnung ist nachträglich noch verschärft worden. Am 24. Juni meldete die reichsdeutsche Presse:
„In der Verordnung des Reichsprotektors über die jüdischen Vermögen in Böhmen und Mähren war bestimmt worden, daß alle seit dem 17. März 1939 abgeschlossenen Geschäfte mit jüdischem Besitz überprüft und neu abgewickelt werden müssen. Dieses Datum ist auf den 15. September 1935 zurückverlegt worden.“ (Zitiert nach der „National Zeitung“, Essen.)
Daß die für Geschäfte mit Juden erforderliche Genehmigung allein vom Reichsprotektor erteilt werden kann, hat einen besonderen Sinn, den die „Volksdeutsche Zeitung“, Brünn, am 5. 7. enthüllt:
„Wir Deutschen im tschechischen Protektorat tragen kein Verlangen nach dem Vermögen der Tschechen, aber wir werden es nicht zulassen, daß sich das tschechische Volk durch die Arisierung jüdischen Besitzes bereichert. Wir fordern, daß bei diesem Geschäftstransfer die Deutschen in erster Reihe berücksichtigt werden. Wir bewundern die Klugheit des Führers, der den Reichsprotektor ermächtigt hat, die Arisierung jüdischer Geschäfte zu überwachen.“
In der Tat haben - genau wie zuvor im Sudetengebiet - nicht allein die in Böhmen ansässigen Deutschen, sondern auch reichsdeutsche Firmen bei der Arisierung ein gutes Geschäft gemacht.
Im übrigen sind nach Neuraths Verordnung im Juli noch einige Bestimmungen herausgegeben worden, die dazu dienen, die Lage der Juden noch verzweifelter zu machen. So hat man z. B. den jüdischen Anwälten und Ärzten, die ihre Praxis nicht weiter ausüben dürfen, untersagt, ihre Angestellten vor Ende des Jahres 1939 zu entlassen. Die jüdischen Juweliere müssen ihre Geschäfte offen halten und dürfen die Löhne ihrer Angestellten nicht kürzen, obwohl ihnen verboten ist, Gold- und Silberwaren zu verkaufen.
Auch die deutschen Gerichte im Protektorat haben ihre Tätigkeit auf genommen und tragen zur Verfolgung der Juden das ihre bei. Die ersten Rassenschandeurteile sind ergangen.
Der aus Hohensalza stammende jüdische Arzt Dr. Levy, der mit seiner jetzigen Frau, einer Arierin, aus Berlin geflüchtet war und sich 1936 hatte in Rußland trauen lassen, ist zu 2Vs Jahren, seine Frau zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Der 67-jährige jüdische Arzt Dr. Julius Lehrer aus Troppau, der seit 1924 mit einer Arierin zusammenlebte und angeklagt war, die Beziehung auch nach Einführung der Nürnberger Gesetze im Sudetenland fortgesetzt zu haben, erhielt 3Vi Jahre Gefängnis.
Bezeichnend ist ferner das Racheurteil gegen den ehemaligen jüdischen Leutnant der tschechoslowakischen Armee Josef Fischer aus Pilsen, der zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, weil er angeblich seinerzeit sudetendeutsche Soldaten seiner Kompagnie „öffentlich getadelt hat“. Dieses Urteil ist von einem deutschen Militärgericht im Protektorat gefällt worden.
Der Zwang zur Auswanderung der Juden wird systematisch verschärft. Nach den vom Statistischen Amt der tschechischen Regierung bekanntgegebenen Auswanderungsziffern sind vom Oktober 1938 bis zum 1. Juli 1939 rund 24 000 Personen, darunter 22 684 Juden aus dem Gebiet des Protektorats regulär ausgewandert. Dabei sind allerdings die Flüchtlinge nicht mitgezählt.
Beim Reichsprotektor v. Neurath ist eine „Zentralstelle für die jüdische Auswanderung“ geschaffen worden, die unter der Leitung des Gestapo-Beamten Dr. Stahlecker steht. Juden, die aus dem Protektorat auswandern wollen, müssen ihre Gesuche ausnahmslos an dieses Zentralamt richten.
Daneben hat die Gestapo der Prager jüdischen Gemeinde die Gründung eines zentralen jüdischen Auswanderungsamtes in Prag mit einer Filiale in Brünn genehmigt. Kurz nach der Gründung ist dieser Stelle durch die Gestapo mitgeteilt worden, daß innerhalb des nächsten Jahres mindestens 70 000 Juden aus dem Protektorat auswandern müssen.
Uns ist Ende Juli ein weiterer Bericht aus Mährisch-Ostrau zugegangen, der deutlich macht, wie diese Auswanderungen von den deutschen Machthabern vorbereitet und erzwungen werden.
„Aus dem früheren Magazingefängnis in der Marxgasse in Mährisch-Ostrau hat man jetzt die politisch Verdächtigen abgeführt, sie ins Polizei- oder Bezirksgefängnis überstellt und dort die reichen jüdischen Geschäftsinhaber und Juden untergebracht, denen man anheimstellt, auszuwandern. Nur unter dieser Bedingung haben sie Aussicht, freizukommen. Der bekannte Warenhausinhaber Rix wurde Anfang Juni mit einem Handwagen wiederholt durch die Stadt geführt, weil er sich weigerte, schriftlich auf sein gesamtes Vermögen zu verzichten. Nun scheint er Ende Juni sich dennoch entschlossen zu haben, dem Willen der Gestapo zu folgen, und nach dem Verzicht auf sein Vermögen wurde er in das Anhaltelager für Juden nach dem Magazin in der Marxgasse überführt. Ähnlich erging es anderen jüdischen Geschäftsinhabern. Die Nürnberger Gesetze werden in Mährisch-Ostrau jetzt streng durchgeführt, die jüdischen Vermögen sind ohne Ausnahme beschlagnahmt.
b) Slowakei
In der Behandlung der Judenfrage unterscheidet sich die Slowakei insofern von Böhmen, als die tschechische Bevölkerung dem Pogrom-Antisemitismus ablehnend gegenübersteht, während es dem deutschen Einfluß in der Slowakei schon seit längerer Zeit gelungen ist, eine judenfeindliche Bewegung zu erzeugen. Exekutivorgan dieser Bewegung ist die berüchtigte Hlinka-Garde.
Die Zahl der Verhafteten geht in die Tausende. Große Scharen von Juden haben versucht, das nackte Leben über die polnische Grenze zu retten. Sie sind zum Teil von der polnischen Grenzwache zurückgeschickt, aber in die Slowakei nicht wieder eingelassen worden. Tausende von slowakischen Juden irren gänzlich mittellos im Niemandsland umher.
Wir geben auch für die Slowakei einen gedrängten Überblick über die Geschehnisse nach dem 15. März:
Am 1. April hat die slowakische Regierung ein Judengesetz verabschiedet, das den Juden u. a. verbietet, sich als Juristen und Notare zu betätigen.
Durch ein am 1. Mai erlassenes Gesetz wurden 300 000 Juden der slowakischen Staatsangehörigkeit beraubt. Es handelt sich um Menschen, die erst nach 1918 naturalisiert worden sind, aber oft aus alteingesessenen Familien stammen.
Anfang Mai teilte der slowakische Ministerpräsident Tiso der Presse mit, daß alle Juden aus den öffentlichen Stellen in der Slowakei entfernt seien. Es gebe nur mehr wenige Ärzte und Advokaten mit einer rein jüdischen Klientel. In Handel und Industrie gehe die „erfolgreiche Arisierung“ rasch voran.
Fast alle jüdischen Geschäfte in der Slowakei wurden mit der Aufschrift „Jude“ (Zid) und dem Davidstern beschmiert. Nichtjüdische Kunden wurden mit Gewalt am Betreten der Geschäfte gehindert.
Die Synagogen in Käsmark (Kezmarok) Swatijur und Göllnitz wurden niedergebrannt, die Synagoge in Presov wurde mit Bomben in die Luft gesprengt. Die Synagoge in Dobruska wurde in ein Kirchenmuseum umgewandelt. In Pezinok hat man die Juden gezwungen, ihre Synagoge selbst anzuzünden.
In der slowakischen Hauptstadt Bratislava sind Juden auf der Straße von Hlinka-Gardisten und deutschen SA- und SS-Leuten schwer mißhandelt worden. Es kam auch zur Plünderung jüdischer Geschäfte.
Auch in Bardejow, St. George und Swatijur sind Juden mißhandelt worden.
Am 1. Mai wurden Haussuchungen in zahlreichen jüdischen Wohnungen der Slowakei veranstaltet, wobei beträchtliche Geldsummen „beschlagnahmt“ worden sind.
An fast allen Parkeingängen wurde die Aufschrift angebracht: „Juden Eintritt verboten!“
In der ganzen Slowakei wurde die jüdische Makkabi-Sportorganisation aufgelöst.
In sämtliche jüdische Unternehmungen setzte man „Kommissare“. Tausende von jüdischen Angestellten wurden entlassen.
Nach dem 23. Juni übernahm die Slowakei die Neurath-Verordnung. Innerhalb 60 Tagen mußten die Juden, auch die ausländischen, getauften und Halbjuden, eine Erklärung über ihr Vermögen abgeben, über das sie bis auf weiteres nicht frei verfügen dürfen.
Juden dürfen in der Slowakei keine Apotheken mehr besitzen.
Am 3. Juli haben mehr als 1000 Juden auf Donauschiffen Bratislava verlassen. Sie wurden von slowakischen Polizeibeamten bis zum Schwarzen Meer eskortiert.
Aus dem Städtchen Belus ist die ganze jüdische Gemeinschaft ausgetrieben worden, nachdem man die Juden vorher gezwungen hatte, ihr gesamtes Vermögen der „Kontrolle“ der Hlinka-Garde zu unterstellen.
Die aus der slowakischen Armee entlassenen etwa 500 jüdischen Offiziere und Soldaten sind in Armee-Arbeitslagern untergebracht worden und müssen ohne ausreichende Verpflegung und bei übermäßiger Arbeitsdauer außerordentlich schwere Arbeiten verrichten.
c) Memelgebiet
Nach der Okkupation von Böhmen wußte die Judenschaft in Memel, daß die Besetzung auch ihrer Heimat nur noch eine Frage von Tagen sein würde. Es setzte eine Massenflucht nach Litauen ein. Von den insgesamt 5-6000 Memeler Juden befanden sich am Tage vor dem deutschen Einmarsch am 23. März 1939 nur noch etwa 2000 in der Stadt, von denen etwa 1500 noch in letzter Stunde entkommen konnten. Aus den letzten Flüchtlingszügen am Morgen des 23. März wurden einige Leute von der SS verhaftet. Das Gepäck der Reisenden wurde durchsucht und jedem Juden nur ein Gepäckstück überlassen. Die übrigen Stücke wurden „konfisziert“. Lastwagen, die jüdische Habe nach Litauen schaffen wollten, wurden an der Grenze gezwungen, nach Memel zurückzukehren.
Einige der größten Tabak-, Textil- und Schokoladenfabriken Memels, ferner Engros-Handlungen und Warenhäuser fielen den Nationalsozialisten in die Hände.
Die Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde und aller jüdischen Organisationen wurden sofort von den Sturmscharen A 90 besetzt. Drei Synagogen wurden zerstört, viele jüdische Wohnungen demoliert.
In den Provinzorten des Memellandes wurden gleichfalls alle Synagogen vernichtet, die Thora-Rollen auf die Straße geworfen, zerrissen und mit Füßen getreten. SA und SS besetzte alle jüdischen Fabriken und Geschäfte. Es kam zu schweren Mißhandlungen.
Am 30. März veröffentlichte der „Treuhänder für das jüdische Eigentum in der Stadt Memel“ im „Memeler Dampfboot“ die folgende Konfiskations-Verordnung:
„Durch Verfügung des stellvertretenden Überleitungskommissars für die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich vom 27. März 1939 bin ich zum Treuhänder für das gesamte jüdische Eigentum in der Stadt Memel bestellt. Ich bestimme daher folgendes:
Es sind mir sofort schriftlich zu melden: 1. Sämtliche jüdische Guthaben bei Banken, Sparkassen und ähnlichen Instituten. 2. Sämtliche Zahlungen, die Firmen oder Personen an jüdische Betriebe, Geschäfte und Privatpersonen zu leisten haben. 3. Alles Eigentum, soweit es sich noch in jüdischem Besitz und alles jüdische Eigentum, das sich noch in anderen Händen befindet. 4. Durch die Hausbesitzer, sämtliche Betriebs-, Geschäfts- und Lagerräume, soweit sie an jüdische Gewerbetreibende vermietet waren oder noch sind. 5. Alle Forderungen an jüdische Betriebe, Geschäfts- und Privatpersonen.
Zahlungen an jüdische Gläubiger dürfen nicht erfolgen. Bei Nichtbefolgung obiger Anordnung ist Bestrafung zu erwarten.
W. Betke.“
Alle noch in Memel lebenden Juden mußten bis zum 31. Mai ihren gesamten Schmuck abliefern. Sie durften nur je eine silberne Uhr, ein silbernes Eßbesteck und falsche Gebisse behalten.
Beim Amtsgericht in Memel ist eine „Beratungsstelle für Arisierungsfragen“ errichtet worden. Bei den Banken hat man Sonderkonten eröffnet, auf die alle Arier die Beträge einzahlen müssen, die sie den Juden schulden.
Unmittelbar nach dem Einmarsch der Truppen kam Gestapo nach Memel, die etwa 100 Personen, meist litauische Juden, unter Spionageverdacht verhaftete.
Der Memeler jüdische Arzt Dr. Hanemann, ein litauischer Staatsbürger, ist - bis jetzt ohne Veröffentlichung der Gründe - von einem deutschen Gericht zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
d) Österreich
In Österreich wird der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden systematisch fortgesetzt.
Nach dem amtlichen Bericht der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde aus dem Juni 1939 sind von den rund 300 000 österreichischen Juden bis jetzt 88 000 ausgewandert. Diese Zahl bezieht sich aber nur auf die Glaubensjuden.
Nach dem in Wien erscheinenden „Weltblatt“ vom 24. 7. 1939, das sich amtlicher Angaben bedient, haben seit März 1938 99 672 Juden Österreich auf dem regulären Auswanderungswege verlassen. Da in dieser Ziffer die emigrierten Halb- und Vierteljuden, sowie all jene fehlen, denen Privatpersonen zum Verlassen Österreichs verholfen haben, könne man - so schreibt das „Weltblatt“ - mit Sicherheit annehmen, daß in den letzten 15 Monaten rund 200 000 Voll-, Halb- und Vierteljuden Österreich verlassen haben.
Trotz dieser hohen Ziffern wird die antisemitische Propaganda fortgesetzt.
In der anthropologischen Abteilung des naturhistorischen Museums in Wien ist eine Sonderschau eröffnet worden: „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden.“ Der Leiter dieser Abteilung hat erklärt, es gelte aufzuzeigen, „wie verschieden“ die jüdische Rasse von der arischen sei.
Durch ein Dekret Bürckels ist den deutschen und staatenlosen Juden das Betreten des Praters verboten worden.
Die Massenaustreibungen der nach Polen zuständigen Juden nehmen immer krassere Formen an.
Eine neue Wendung in der Behandlung der Judenfrage scheint der Arbeitermangel im Dritten Reich herbeizuführen. Wir haben bereits im Vormonat (Heft 6/1939, Seite A 76) einen Bericht aus Mitteldeutschland gebracht, aus dem hervorging, daß auch Juden zum Arbeitseinsatz im alten Reichsgebiet herangezogen werden. Weiter berichtet das angesehene englische Ärzte-Organ „Lancet“, die österreichischen Behörden seien wegen des Mangels an Ärztepersonal gezwungen, einer Anzahl jüdischer Ärzte wieder die Ausübung der Praxis zu gestatten. Nunmehr hegt uns ein Merkblatt der Wiener Auswanderungs-Hilfsaktion „Gildemeester“ vor, das körperlich kräftige Juden auf Verdienstmöglichkeiten im Reich aufmerksam macht. Wir reproduzieren dieses Dokument nachstehend:
„GILDEMEESTER
Auswanderungs-Hilfsaktion
Wien I, Wollzeile 7
Arbeitsmöglichkeit für christliche und konfessionslose Nichtarier
Gesunde, kräftige Männer im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, die nicht zur Ausreise befristet sind, finden Arbeitsmöglichkeit im Reichsgebiet gegen normale Bezahlung und Bedingungen.
Die Auswanderungsmöglichkeit bleibt in der Weise gewährt, dass jeder, der in dem Besitz einer Einreisebewilligung gelangt, innerhalb weniger Tage nach Wien zurückkehren kann, um seine Ausreise vorzubereiten.
Wer sich und seiner Familie eine Verdienstmöglichkeit sichern will, wird aufgefordert, sich umgehend in der Auskunftsabteilung Wollzeile 7, I. Stock zu melden.
Es wird ausdrücklich, aufmerksam gemacht, dass die Anmeldung geschieht, dass aber nacherfolgter Anmeldung, der Einberufung einer amtsärztlichen Untersuchung und zur Aufnahme der Arbeit, unbedingt folge geleistet werden muss.
Wir fordern alle jene Männer, auf die die obigen Bedingungen zutreffen, sich umgehend zur Arbeit zu melden, um den Beweis der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit der Nichtarier zu erbringen.“
Eine ähnliche Meldung kommt aus Prag. Dort wurde jüdischen Ingenieuren und Chemikern, die im Auswanderungsamt der Gestapo erschienen, mitgeteilt, sie könnten in Deutschland in ihrem Fach Arbeit finden. Die Juden, die auf das Angebot eingingen, sind größtenteils nach Hamburg vermittelt worden.
e) Danzig
Über die Lage der Danziger Juden erhalten wir folgende Berichte:
1. Bericht: In Danzig ist am 4. März im Gesetzblatt eine Verordnung erschienen, in der bestimmt wird, daß alle noch in Danzig wohnenden Juden, gleich welcher Staatsangehörigkeit, zu einer Haftgemeinschaft zum Zwecke der Finanzierung der jüdischen Auswanderung zusammengeschlossen werden. Dadurch werden die Juden insgesamt verpflichtet, die Kosten der Auswanderung für mittellose Juden aufzubringen. In der Praxis werden zu dieser Haftgemeinschaft nur solche ausländische Juden mit Beiträgen herangezogen, die in Danzig Grundbesitz haben. Auf die polnischen Juden bezieht sich die Verordnung allerdings nicht, da das den Danzig-polnischen Verträgen widersprechen würde. Die Formel „ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit“ ist deshalb wohl nur aus propagandistischen Gründen gewählt worden. Die Leute sollen sehen, über welche Macht der Danziger Senat verfügt, daß er auch einfach über das Vermögen der ausländischen Juden disponieren kann.
Zur Durchführung der Verordnung ist eine besondere Dienststelle beim Senat eingerichtet worden.
Am 3. März verließ ein Transport Danziger Juden - im ganzen etwas über 500 Menschen - Danzig. Die Fahrt ging mit Autobussen über die ostpreußische Grenze nach Marienburg. Von dort wurden die Juden - so jedenfalls war es vorgesehen - mit einem Sonderzug nach Deutschland und Italien bis Triest befördert, wo sie einen griechischen Dampfer besteigen sollten, der sie nach Palästina bringen sollte. Sämtliche Teilnehmer an der Fahrt besaßen keine Einwanderungserlaubnis nach Palästina.
2. Bericht:
Nachdem auch die letzte Danziger Synagoge, die Danziger Hauptsynagoge, abgebrochen wird, haben die noch in Danzig lebenden Juden keine Möglichkeit mehr, in einem Gotteshaus Gottesdienste abzuhalten. Von Augenzeugen erfahre ich, daß etwa 70 bis 80 Danziger Juden mitten aus der Betandacht, die sie zu Pfingsten in den früheren jüdischen Speisesälen auf der Pfefferstadt abhielten, von der politischen Polizei verhaftet und zum Polizeipräsidium abgeführt worden sind. Sie mußten zu dreien antreten und wurden in diesem Aufzug durch die ganze Stadt geführt, begleitet von Beamten der politischen Polizei und von Schutzpolizisten. Es heißt, daß man den Juden einen Prozeß wegen des Verstoßes gegen das bestehende Versammlungsverbot machen will. Viel Geld wird man von ihnen allerdings nicht mehr erben können, denn es sind vorwiegend ärmere Juden, die noch in Danzig sind. (Die Danziger Juden hatten, nachdem ihnen jedes Gotteshaus genommen worden ist, von der Polizei die Erlaubnis erhalten, die oben erwähnten ehemaligen Speisesäle für Betandachten zu benutzen. Zu Pfingsten, da kein Sonnabend war, haben sie, nach Ansicht der Polizei, keine Erlaubnis zur Benutzung der Räume gehabt.)
3. Bericht: Die Danziger Synagoge wird abgebrochen. Man hat es für richtig gefunden, hoch oben an der Front des Hauses ein weithin sichtbares Schild anzubringen: „Die Synagoge wird abgebrochen“. An den Zaun, der nunmehr die Abbruchstelle umgibt, hat man in großen Lettern geschrieben: „Komm lieber Mai, und mache uns jetzt von Juden frei!“ Förster hat bereits vor einem Jahr behauptet, daß ca. 3000 Juden aus dem Freistaat exmittiert worden sind, es waren damals in der Tat schon 5000. Inzwischen sind durch Sammeltransporte noch, man kann wohl sagen, die letzten Juden aus Danzig ausgewandert. Umso unverständlicher ist es, daß mit den oben angeführten Parolen noch weiter operiert wird.
Man hielt es außerdem für ratsam, den Beginn der Abbrucharbeiten an der Danziger Synagoge durch Filmaufnahmen festzuhalten, die in Danziger Kinos gezeigt wurden.
2. Die Juden im Reich
Die wirtschaftliche Vernichtung des deutschen Judentums ist soweit gediehen, daß immer mehr Wirtschaftszweige als „judenrein“ gemeldet werden können. So hat z. B. der „Reichsstand des deutschen Handwerks“ im April mitgeteilt, daß die Juden nunmehr aus dem deutschen Handwerk völlig ausgeschaltet seien. (Nach den statistischen Ermittlungen waren im Dezember 1938 im alten Reich noch 5822 jüdische Handwerksbetriebe in der Handwerksrolle eingetragen; in der Ostmark gab es im März 1938 noch 9538 jüdische Handwerksbetriebe.)
Hierzu wird berichtet:
Berlin: Von der „Arisierungsaktion“ sind lt. offiziellen Angaben im Kleinhandel 3767 jüdische Geschäfte betroffen worden. Wegen der allgemeinen Übersetzung des Kleinhandels blieb ein großer Teil davon ganz ausgeschlossen, etwa zwei Drittel. Von der Weiterführung ausgenommen waren von vornherein die Geschäfte, die nach dem Boykott im November 1938 bis zum 1. Januar 1939 noch nicht wieder geöffnet worden waren. Die anderen Geschäfte befanden sich in beschädigtem Zustand und mußten auf eigene -Rechnung der Inhaber wieder hergestellt werden. Die Unternehmungen waren alle ruiniert, und die Erlöse bei der Arisierung mußten minimal sein, zumal nur reine Warenwerte bezahlt wurden. Die offiziellen Angaben besagen weiter, daß in Berlin 2650 jüdische Handwerksbetriebe arisiert wurden, darunter:
976 Schneidereien
364 Kürschnereien
248 Putzmachereien
137 Schustereien
114 Uhrmacherwerkstätten
49 Gold- und Silberschmieden
56 Friseure
53 Glasereien
23 Fleischereien
15 Bäckereien.
Am 5. Juni meldete die „Essener National-Zeitung“, daß auch die deutsche Bekleidungsindustrie im Reich von Juden völlig frei sei, und daß in der Ostmark „jeder Tage eine stetig zunehmende Bereinigung bringt“.
Aber der Kampf gegen die Juden geht weiter. Wir verzeichnen zunächst die amtlichen Maßnahmen, die seit unserem letzten Überblick ergriffen worden sind.
a) Behördliche Maßnahmen
In unserer vorigen Zusammenstellung (Heft 2/1939, Seite A 85) haben wir irrtümlich mitgeteilt, daß bei der Ablieferung der Wertgegenstände aus jüdischen Besitz auch „Eheringe und kleine Erinnerungsstücke“ abgegeben werden müßten. Inzwischen hat es sich herausgestellt, daß folgende Gegenstände von der Zwangsablieferung ausgenommen waren:
a) die eigenen Trauringe und die eines verstorbenen Ehegatten;
b) silberne Armband- und Taschenuhren;
c) gebrauchtes Tafelsilber, und zwar je 2 vierteilige Eßbestecke, bestehend aus Messer, Gabel, Löffel und kleinem Löffel, je Person;
d) darüber hinaus Silbersachen bis zum Gewicht von 40 g je Stück und einem Gesamtgewicht bis zu 200 g je Person;
e) Zahnersatz aus Edelmetall, soweit er sich im persönlichen Gebrauch befindet.
Kurz vor dem Ablieferungstermin hat das Reichswirtschaftsministerium bestimmt, daß den auswandernden Juden die Mitnahme von Wertgegenständen erlaubt werden könne, wenn für den Gegenwert nicht anbietungspflichtige Devisen an das Reich abgeliefert werden, die bis spätestens Ende Oktober bei der Reichsbank einzuzahlen sind. Die deutschen Juden selbst besitzen natürlich längst keine „nicht anbietungspflichtigen Devisen“ mehr. Dem Regime kam es vielmehr darauf an, auf diese Weise aus freiwilligen Zuwendungen von Verwandten und Freunden der deutschen Juden eine zusätzliche Deviseneinnahme zu erzielen.
Durch einen Erlaß des deutschen Reichsinnenministers vom 3. April 1939 ist den Bürgermeistern aufgegeben worden, die Juden von allen Gemeindenutzungen auszuschließen.
Eine im April veröffentlichte Verordnung des Reichswirtschaftsministers dehnt das Verbot der Rechtsvertretung von Juden durch arische Anwälte auf die Beratung der Juden in Devisenangelegenheiten aus.
Im amtlichen Teil der Zeitschrift „Adresse und Anzeige“, Berlin, ist am 12. April mitgeteilt worden, daß eine Aufnahme von Juden in Adreßbüchern nicht mehr in Betracht komme.
Am 21. April hat der deutsche Reichswirtschaftsminister einen neuen Runderlaß über die jüdische Auswanderung herausgegeben. Danach darf der Auswanderer nur solche Sachen als Umzugsgut mitnehmen, die er bereits vor dem 1. Januar 1933 besessen hat. Wenn ein Auswanderer sich zu einem späteren Zeitpunkt etwa neue Kleidungsstücke gekauft hat, so kann die Erlaubnis zur Mitnahme davon abhängig gemacht werden, daß er einen Betrag in Höhe des Anschaffungspreises an die Reichskasse zahlt.
Im Reichsgesetzblatt vom 4. Mai 1939 ist ein „Reichsgesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ veröffentlicht worden, das den Behörden einerseits die Möglichkeit gibt, Juden auch gegen ihren Willen aus „deutschen Wohnstätten“ zu entfernen, und das andererseits die Besitzer jüdischer Häuser verpflichtet, die obdachlos gewordenen Juden bei sich aufzunehmen. Außer der Befugnis zum zwangsweisen Abschluß von Miet- und Untermietverträgen zwischen Juden steht der Gemeindebehörde das Recht zu, die Anmeldung solcher Räume zu verlangen, die an Juden vermietet sind oder für die Unterbringung von Juden in Frage kommen. Jüdische Vermieter oder Untervermieter können Verträge, die auf Verlangen der Gemeindebehörde abgeschlossen sind, nur mit deren Genehmigung kündigen. Auch die Neuvermietung von Wohnungen in jüdischen Häusern muß von der Gemeinde genehmigt werden.
Zwar ist in den Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz betont worden, die neuen Bestimmungen dürften „nicht zu einer unerwünschten Ghettobildung führen“, aber die Ansätze dazu sind bereits gemacht.
So hat z. B. die Stadt Magdeburg das Hotel „Amsterdam“ zur Aufnahme jüdischer Familien und Einzelpersonen übernommen, die aus den anderen Wohnungen der Stadt entfernt worden sind. Eine Erweiterung des Gebäudes ist geplant. Weiter wird der Ghettobildung durch das Bestreben Vorschub geleistet, die Juden aus den besseren Wohnvierteln aller Städte zu entfernen. Z. B. sind in Berlin folgende Straßenzüge und Wohnviertel für Juden gesperrt:
Potsdamer Straße, Lützow-Platz, Tiergarten-Viertel, Hansa-Viertel, die Häuserblocks in unmittelbarer Nachbarschaft der großen Moabiter Kasernen, die großen Straßenzüge des Berliner Westens, Tauentzienstraße, Kleiststraße, Kurfürstendamm, sowie das Bayerische Viertel.
Die Bewegungsfreiheit der Juden wird auch sonst in jeder Weise eingeengt, z. B. durch das Verbot, gewisse Straßen, Plätze und Parks zu betreten. (…)
Im Mai sind die jüdischen Reisevermittler aus dem Reisevermittlergewerbe ausgeschlossen worden. Ausnahmen können bewilligt werden, wenn eine Förderung der jüdischen Auswanderung in Betracht kommt.
Sondertransporte von jüdischen Auswanderern dürfen, wie die Reichsverkehrsgruppe „Hilfsgewerbe des Verkehrs“, Berlin, im Mai mitgeteilt hat, künftig nur noch mit Genehmigung des Chefs der Sicherheitspolizei zusammengestellt werden. In der Begründung heißt es, man wolle verhindern, daß gescharterte Dampfer mit den Auswanderern längere Zeit auf See herumfahren. Dadurch entstünden Devisenverluste und Störungen in der Auswanderung. In der Zwischenzeit hat es sich allerdings schon herausgestellt, daß diese Maßnahme wenig wirksam ist, da weiterhin zahlreiche Juden das Reich verlassen, ohne Einreisegenehmigungen für andere Länder zu besitzen.
Am 21. Juni hat der Reichsminister des Innern neue Richtlinien für den Aufenthalt von Juden in Bädern und Kurorten erlassen. Die jüdischen Kurgäste werden auf bestimmte Hotels mit weiblichem Personal nicht unter 45 Jahren beschränkt, müssen sich an besondere Trink- und Badestunden halten, werden von den übrigen Kuranlagen ausgeschlossen etc. Es wird kein Unterschied zwischen Juden deutscher und fremder Staatsangehörigkeit gemacht, eine Ausnahme kommt nur für Personen in Frage, die in Deutschland als Diplomaten beglaubigt sind.
Nach der „Zehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 4. Juli 1939 (RGBl. I., Seite 1097) wird eine „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ gebildet, die ihren Sitz in Berlin hat. Als örtliche Zweigstellen dienen die jüdischen Kultusvereinigungen. Die Reichsvereinigung hat die Aufgabe, die Auswanderung zu fördern, und ist Träger des jüdischen Schulwesens und der freien jüdischen Wohlfahrtspflege. Ihr gehören zwangsweise alle Staatsangehörigen und staatenlosen Juden an, die im Reichsgebiet wohnen.
Der Reichsminister des Innern kann die Eingliederung bisher selbständiger jüdischer Vereine, Organisationen und Stiftungen in die Reichsvereinigung anordnen. In diesem Fall fällt das Vermögen der betroffenen Einrichtungen an die Reichsregierung, die andererseits aber auch mit ihrem gesamten Vermögen für die Verbindlichkeiten der ihr zwangsweise eingegliederten und unter Umständen in wirtschaftlicher Not befindlichen Einrichtungen haftet. Jüdische Kinder dürfen nur die Schulen der Reichsvereinigung besuchen. Die Reichsvereinigung hat für die Aus- und Fortbildung der Lehrer zu sorgen. Als Träger der jüdischen Freien Wohlfahrtspflege hat die Reichsvereinigung „nach Maßgabe ihrer Mittel hilfsbedürftige Juden so ausreichend zu unterstützen, daß die öffentliche Fürsorge nicht einzutreten braucht. Sie hat Vorsorge zu treffen, daß für anstaltspflegebedürftige Juden ausschließlich für sie bestimmte Anstalten zur Verfügung stehen.“
b) Judenfeindliche Rechtsprechung
Der „Stürmer“ veröffentlicht eine Aufstellung, nach dem im Jahre 1938 allein in Hamburg 119 Personen wegen „Rassenschande“ verurteilt worden sind. (…)
In Köln wurde ein Jude, der in einem Gesuch an die Behörde den Zwangs-Vornamen Israel ausgelassen hatte, gerichtlich mit 50 RMk Geldstrafe belegt. Bestrafungen dieser Art sind schon wiederholt erfolgt.
Die „Hagener Zeitung“, Hagen i. Westf. veröffentlicht das folgende Urteil unter der Überschrift: „Der Jude kann das Handeln nicht lassen“:
„Der Jude Samuel Israel Münzer aus Hagen stand am 6. April vor dem Schöffengericht. Ihm war auf Grund der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben in eindeutiger Weise eröffnet worden, daß er sich jeder Verfügung über sein Wirt- schaftsvermögen zu enthalten habe. Zur Abwicklung der geschäftlichen Angelegenheiten wurde ein Abwickler bestellt, der Münzer auch darauf aufmerksam machte, daß er nichts mehr vom Warenlanger und keine Einrichtungsgegenstände verkaufen dürfe. Trotz dieses Verbots verkaufte der Jude von der Ladeneinrichtung zwei Schränke, für die er 160 RMk erhielt. Vor Gericht erklärte er, er habe im guten Glauben gehandelt. Der Umstand, daß durch den Verkauf keine Gläubiger geschädigt wurden, rettete den Angeklagten vor einer Freiheitsstrafe. Die Geldstrafe wurde auf 150 RMk, hilfsweise 30 Tage Gefängnis, festgesetzt.“