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Chronik und Quellen
1939
Juli 1939

Die Sopade berichtet

In der Juli-Ausgabe 1939 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:

Die Judenverfolgung

Wir haben zuletzt in Heft 2/1939 über die Judenverfolgungen in Deutschland Bericht erstattet. Seither sind die Tschechoslowakei und Memel okkupiert worden. Die Aussicht darauf, irgendwo in der Welt eine neue Existenz gründen zu können, hat sich damit für zahlreiche deutsche Juden aufs neue verringert. Wer Hoffnungen auf ausländische Verwandte und Freunde - früher in Österreich, dann in der Tschechoslowakei - gesetzt hat, kommt jetzt in die Lage, diesen von einem Tag auf den anderen entrechteten Menschen seinerseits beizustehen und ihnen über die erste Zeit des fassungslosen Entsetzens hinwegzuhelfen.

Obgleich so die Möglichkeit, aus eigener Kraft einen Ausweg zu finden, für die in Deutschland und den besetzten Gebieten lebenden Juden noch weiter verringert worden ist, und obgleich sich das Dritte Reich durch seine neuen Okkupationen wiederum kräftig an den bisherigen jüdischen Vermögenswerten bereichert hat, wird der Druck, das Land zu verlassen, von Monat zu Monat gesteigert und zugleich die Habe, die auswandernde Juden mitnehmen dürfen, immer mehr beschränkt. Man ist sogar dazu übergegangen, Juden - vor allem aus Danzig - zwangsweise auf Schiffe zu verladen, die ihre „Fracht“ nirgends an Land setzen können und monatelang auf den Meeren umherirren. Viele tausend Juden, denen die Verhaftung droht, wenn sie das Reich nicht verlassen, ziehen selbst die ungewisse Fahrt mit diesen Schiffen einem längeren Verbleiben in Deutschland vor, wo ihnen jede Existenzmöglichkeit entzogen ist.

 

1. Das Schicksal der Juden in den okkupierten Gebieten

a) Böhmen

In der gesamten Tschechoslowakei lebten bis zum Münchner Abkommen im September 1938 rund 375 000 jüdische Einwohner, die 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung bildeten und volle Gleichberechtigung genossen. Der Einmarsch der Hitlerschen Okkupationsarmee am 15. März 1939, der in den frühen Morgenstunden erfolgte, überraschte die Einwohnerschaft buchstäblich im Schlaf. Die Juden, vor allem auch die, die aus dem Reich und aus den im Herbst 1938 besetzten Sudetengebieten nach Prag geflüchtet waren, sahen sich über Nacht in die Hände ihrer Todfeinde gegeben. Seither ist gegen sie derselbe Vernichtungsfeldzug geführt worden, der die Juden im Reich allmählich, die Juden in Österreich in wenigen Wochen an den Rand des Abgrunds geführt hat.

Paragraph 2 der von Hitler auf dem Hradschin erlassenen Verordnung über das mährisch-böhmische Protektorat lautete:

„Die Deutschen, die im Protektorat wohnen, werden Reichsbürger; sie werden damit den Vorschriften zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Rassengesetz) unterworfen.“

Damit war von vornherein die Gleichstellung der im Protektorat lebenden deutschen Juden mit den Reichsjuden vollzogen.

Unmittelbar nach den Okkupationstruppen hielt die Gestapo in Böhmen ihren Einzug. Eine Verhaftungswelle ging über das Land. Tschechische und deutsche Demokraten und Sozialisten, tschechische und deutsche führende Juden, Emigranten, die sich nach der Tschechoslowakei geflüchtet hatten, wurden gefangengesetzt, mißhandelt und z. T. in deutsche Konzentrationslager abtransportiert.

Nie hat man die wahre Zahl der Verhaftungen erfahren, nie auch die Ziffer der Selbstmorde, die sich in diesen Tagen in Böhmen ereignet haben.

In Prag selbst sind offene antisemitische Ausschreitungen im allgemeinen unterblieben, zumal die tschechische Bevölkerung Exzessen dieser Art ablehnend gegenübersteht. Dagegen waren mehrere Bombenanschläge auf jüdische Häuser zu verzeichnen, denen auch Menschen zum Opfer fielen. Zu antijüdischen Ausschreitungen nach reichsdeutschem Muster kam es in den Provinzorten mit deutschem Einschlag, so in Mährisch-Ostrau, Pilsen, Brünn, Pardubitz usw.

Im ganzen Protektorat wurden die Synagogen entweder abgebrannt oder von den Gemeinden beschlagnahmt. Da die tschechischen Feuerwehren die Gewohnheit, Brände zu löschen, noch nicht abgelegt haben, und aus diesem Grunde die Regie nicht überall klappte, gab die Prager Gestapo einen Geheimbefehl heraus, der allen Feuerwehren im gesamten Protektorat untersagte, die in Synagogen oder jüdischen Gemeindehäusern entstehenden Brände zu löschen. Die Brände seien in solchen Fällen nur zu lokalisieren. Völlig niedergebrannt wurden u. a. die Synagogen in Bronn, Iglau, Witkowitz, Falkenau, Mährisch-Ostrau, Zabreh a. O., Oderfurt bei Mährisch-Ostrau und Friedeck. In verschiedenen Orten vernichtete man auch die Gemeindehäuser, in Mährisch-Ostrau wurde das von Juden besuchte Kaffee Opera in Brand gesteckt.

Wir erhalten hierzu folgenden Bericht:

Die Synagogen in Mistek-Frydek, Witkowitz und Mährisch-Ostrau sind durch Brandstiftungen vernichtet. Erst kam die Synagoge in Mährisch-Ostrau an die Reihe, hier gelang es der Feuerwehr einzuschreiten, man löschte den Brand. Aber bereits nach drei Tagen, am 2. Juni wurde wieder ein Brand „entdeckt“, es war sofort SA-Mannschaft zur Stelle, und die Feuerwehr durfte nicht mehr eingreifen. In Witkowitz überwachten SA-Leute den Brand und am 12. Juni kam auch die Synagoge in Mistek-Frydek dran. Es gibt unter der Bevölkerung nur eine Meinung: daß es sich hier um von den Nazis organisierte Brände handelt. Es ist bekannt, daß man in der Synagoge in Witkowitz bereits am 23. bzw. 24. Mai den ersten Versuch machte, wobei dem Brand die gesamte Inneneinrichtung zum Opfer fiel, dann folgte später der Brandangriff auf das Gebäude, das heute nur noch einen Trümmerhaufen bildet. Zwar werden diese Synagogenbrände von der Bevölkerung scharf verurteilt, aber man nimmt all das als Tatsachen hin, mit denen man sich abzufinden hat.

Die Versicherungsgesellschaften weigerten sich, für die entstandenen Schäden zu haften. Dagegen erhielten mehrere jüdische Gemeinden, z. B. die von Brünn, die Aufforderung, die ausgebrannten Synagogen auf ihre Kosten wieder aufbauen zu lassen und die Schaufenster der jüdischen Geschäfte zu reinigen, die mit antisemitischen Losungen beschmiert worden waren.

Die jüdischen Friedhöfe wurden den jüdischen Gemeinschaften in vielen Fällen entzogen. So beschloß die Stadtverwaltung in Pardubitz, den aus dem Jahre 1642 stammenden alten jüdischen Friedhof in eine öffentliche Parkanlage mit Kinderspielplatz umzuwandeln und den Juden den Zutritt zu verbieten. Der jüdische Friedhof in Prerau wurde vom Bauamt beschlagnahmt.

Im Mai schon wurden aus dem Protektorat die ersten „judenrein gemachten“ Städte gemeldet, u. a. Falkenau, wo zuvor mehrere hundert Juden gelebt hatten.

Vor allem tobte sich der Rassenwahn der Eroberer auf wirtschaftlichem Gebiet aus. Es geschah das gleiche wie in Österreich: alle zurückgedrängten Neidinstinkte gegen die Juden brachen hemmungslos durch und führten zu einer Vorwegnahme der erst allmählich in Kraft tretenden Verordnungen und Gesetze.

Eine vollständige und nach dem zeitlichen Ablauf exakte Darstellung der Maßnahmen gegen die Juden kann auch heute noch nicht gegeben werden. Im ersten Vierteljahr ist der Reihe nach etwa das Folgende geschehen:

Eine Verordnung der deutschen „Protektoren“ verhing eine Sperre über alle jüdischen Bankkonten. Kein Jude durfte bis auf weiteres Geld abheben. Der Verkauf von Wertpapieren ist den Juden erst seit der zweiten Hälfte Juni wieder gestattet.

Das Radio kündigte bereits in den ersten Tagen an, daß in allernächster Zeit für alle jüdischen Geschäfte „Kommissare“ eingesetzt werden würden, was später auch nach und nach geschah.

Die den Juden gehörigen Hotels und Pensionen in den Bädern und Kurorten wurden in arische Verwaltung übernommen. Der Bürgermeister von Karlsbad ließ 60 in jüdischem Besitz befindliche Hotels und Kurhäuser offiziell zum Verkauf ausschreiben.

In Brünn wurde eine für ganz Mähren geltende Verordnung erlassen, nach der zwar jeder eigenmächtige Eingriff in jüdisches Vermögen untersagt, zugleich aber eine Sperre über das jüdische Eigentum verhängt wurde, das von da an - auch geschenkweise - nicht mehr übertragbar war.

Die 40 in Böhmen erscheinenden jüdischen Zeitungen und periodischen Zeitschriften wurden samt und sonders verboten. Erst im Juli hat man wieder eine einzige Zeitschrift, das Organ der jüdischen Gemeinde in Brünn, „Hadoar“ zugelassen.

Am 22. März faßte der Landesausschuß Böhmen den Beschluß, alle jüdischen Landesangestellten zu entlassen. Gleichzeitig wurden die Ärzte aus dem Dienst der öffentlichen Krankenkassen in Böhmen ausgeschlossen.

Die Prager Stadtverwaltung entließ ihre jüdischen Angestellten fristlos. Ebenso erfolgten Massenentlassungen von Juden aus privaten Unternehmungen.

Sämtliche jüdische Verlagshäuser - darunter der bekannte Melantrich-Verlag in Prag und der Verlag Kittl in Mährisch-Ostrau - wurden arisiert, und zwar unter gleichzeitiger Entlassung aller jüdischen Angestellten.

Der unter deutscher Kontrolle stehende Verband tschechischer Anwälte forderte sämtliche jüdischen Mitglieder auf, binnen 24 Stunden ihre Kanzleien an arische Verwalter zu übergeben.

Die Ingenieurkammer gab ihren jüdischen Mitgliedern bekannt, sie hätten ihre Unternehmungen „freiwillig“ zu liquidieren und der Kammer eine Liste derjenigen Deutschen zu unterbreiten, denen die Liquidation anvertraut werde. Die Aktion müsse bis Anfang April beendet sein.

Die Versicherungsanstalten stellten sämtliche Zahlungen an Juden ein, für die keine besondere behördliche Erlaubnis vorgelegt werden konnte.

- Der Prager Magistrat verbot den Juden, mit Lichtreklame für ihre Geschäfte zu werben.

Sämtliche jüdische Institutionen in Böhmen und Mähren wurden von der Gestapo geschlossen, auch die einzige jüdische Ausspeisung in Prag. Alle jüdischen Wohlfahrtsinstitutionen mußten ihre Tätigkeit einstellen, die Leiter wurden zum Teil verhaftet, die Kassen wurden beschlagnahmt, die Räume versiegelt. Die wohlhabenderen Juden hatten nur geringe Möglichkeiten, der Not zu steuern, weil ihre Bankkonten gesperrt waren.

Die Prager Stadtverwaltung beschloß einstimmig, alle Kontrakte mit jüdischen Firmen auf Deutsche zu übertragen.

Die Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Prag wurde von der Gestapo geschlossen.

Die tschechischen Sportorganisationen schlossen alle jüdischen Mitglieder aus.

Die Stadtverwaltung Aussig konfiszierte zur Feier von Hitlers 50. Geburtstag die Parkanlagen der Bankiersfamilie Petschek und machte sie der Gemeinde zum Geschenk.

Am 1. Mai verloren rund 150 000 tschechische Staatsangehörige, in der Hauptsache Juden, ihr Bürgerrecht. Sie hatten sich nach dem Anschluß des Sudetengebietes nicht zur gesetzlich angeordneten Überprüfung aller Naturalisierungen seit 1918 gemeldet. Den auf diese Weise Ausgebürgerten wurde auferlegt, die Tschechoslowakei sobald wie möglich zu verlassen.

Die „Protektoratsbehörden“ eröffneten ein besonderes Amt für die Arisierung jüdischer Geschäfte.

Mit der eigentlichen Judengesetzgebung ging es zunächst nicht recht vorwärts. Wer den Gang der Ereignisse verfolgt hat, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß hier von tschechischer Seite eine unverhüllte Obstruktion getrieben worden ist. Die tschechische „Partei der nationalen Einheit“ setzte eine „Kommission zum Studium der Judenfrage“ ein, die zugleich für den Entwurf des geplanten Judengesetzes verantwortlich sein sollte. Mehrere tschechische Minister sprachen sich gegen die Lösung der Judenfrage auf rassischer Grundlage aus und wollten sie als rein wirtschaftliches Problem behandelt wissen. Die Kommission beschloß zunächst, es sollte nur der als Jude gelten, der vor dem 30. Oktober 1918 jüdischer Religion war. Auch sollte es eine Art Ehrenarier geben, das heißt Juden, denen „besonderer Verdienste wegen die Zugehörigkeit zur arischen Rasse zuerkannt wird“. - Im Mai unterbreitete Neurath, der mit dieser Regelung natürlich nicht einverstanden sein konnte, dem Präsidenten Hacha die „Wünsche“ der deutschen Regierung zur tschechischen Judengesetzgebung. Unmittelbar danach wurden sämtliche Mitglieder der „Kommission zum Studium der Judenfrage“ durch neue ersetzt. Etwa eine Woche später unterbreitete die neu zusammengesetzte Kommission Herrn Neurath vier Entwürfe zum Judengesetz, die als zu milde verworfen wurden. Nach weiteren 14 Tagen entschloß sich Reichsprotektor v. Neurath, selbst eine „Verordnung über die Entjudung der Wirtschaft in Böhmen-Mähren“ herauszugeben. Diese Verordnung vom 21. 6. 1939 besagt u. a.:

§ 1 (1) Juden, jüdische Unternehmen und jüdischen Personenvereinigungen sind die Verfügung über Grundstücke, Rechte an Grundstük-ken, wirtschaftliche Betriebe und Beteiligungen an solchen, Wertpapiere aller Art, sowie die Verpachtung von Grundstücken und wirtschaftlichen Betrieben und die Übertragung von Pachtrechten dieser Art nur mit besonderer schriftlicher Genehmigung erlaubt. Das gleiche gilt für die Verpflichtung zu Verfügungen über die genannten Gegenstände.

§ 2 (1) Die Genehmigung nach § 1 erteilt der Reichsprotektor . ..

§ 3 Juden, jüdische Unternehmen und jüdische Personenvereinigungen haben die in ihrem Eigentume oder Miteigentume stehenden oder von ihnen gepachteten Land- oder forstwirtschaftlichen Grundstücke bis zum 31. Juli 1939 beim zuständigen Oberlandrat anzumelden.

§4 (1) Juden, jüdischen Unternehmen und jüdischen Personenvereinigungen sind der Erwerb von Grundstücken und Rechten an Grundstücken, von Beteiligungen an wirtschaftlichen Unternehmungen und von Wertpapieren sowie die Übernahme und Neuerrichtung wirtschaftlicher Betriebe und die Pachtung von Grundstücken verboten.

§ 5 (1) Juden, jüdische Unternehmer und jüdische Personenvereinigungen haben die in ihrem Eigentum oder Miteigentum befindlichen Gegenstände aus Gold, Platin und Silber sowie Edelsteine und Perlen bis 31. Juli 1939 bei der Nationalbank oder den von ihr bestimmten Stellen anzumelden.

(2) Ihnen sind der Erwerb, die Veräußerung und die Verpfändung der in Absatz 1 aufgeführten Gegenstände verboten.

(3) Das gleiche gilt für sonstige Schmuck- und Kunstgegenstände, soweit der Wert für den einzelnen Gegenstand oder eine Sammlung von Gegenständen den Betrag von 10 000 Kc übersteigt.

§ 9 (1) Der Reichsprotektor kann in ihm geeignet erscheinenden Fällen Treuhänder bestellen, die seiner Aufsicht und Weisung unterliegen.

§ 10 (1) Wer dieser Verordnung oder den zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmung zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen belegt. Ebenso wird bestraft, wer die Bestimmungen dieser Verordnung oder die zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmungen umgeht . . .

(4) Neben der Strafe kann auf Einziehung des Vermögens erkannt werden, soweit es Gegenstand der strafbaren Handlung war. Kann keine bestimmte Person verfolgt werden, so kann auf Einziehung des Vermögens auch selbständig erkannt werden . . .

(6) Die Untersuchung und Aburteilung dieser Straftaten liegt den deutschen Gerichten ob, die nach dem allgemeinen Reichsrecht zuständig sind . . .

§ 12 (1) Diese Verordnung tritt mit dem Tag ihrer Bekanntmachung in der Prager Tageszeitung „Der Neue Tag“ in Kraft.

(2) Die Vorschriften der §§ 1, 2 und 4 gelten rückwirkend vom 17. März 1939 an mit der Maßgabe, daß in der Zwischenzeit geschlossene genehmigungspflichtige Geschäfte rechtsunwirksam sind, solange nicht die Genehmigung nachträglich erteilt ist. . .

Diese Verordnung ist nachträglich noch verschärft worden. Am 24. Juni meldete die reichsdeutsche Presse:

„In der Verordnung des Reichsprotektors über die jüdischen Vermögen in Böhmen und Mähren war bestimmt worden, daß alle seit dem 17. März 1939 abgeschlossenen Geschäfte mit jüdischem Besitz überprüft und neu abgewickelt werden müssen. Dieses Datum ist auf den 15. September 1935 zurückverlegt worden.“ (Zitiert nach der „National Zeitung“, Essen.)

Daß die für Geschäfte mit Juden erforderliche Genehmigung allein vom Reichsprotektor erteilt werden kann, hat einen besonderen Sinn, den die „Volksdeutsche Zeitung“, Brünn, am 5. 7. enthüllt:

„Wir Deutschen im tschechischen Protektorat tragen kein Verlangen nach dem Vermögen der Tschechen, aber wir werden es nicht zulassen, daß sich das tschechische Volk durch die Arisierung jüdischen Besitzes bereichert. Wir fordern, daß bei diesem Geschäftstransfer die Deutschen in erster Reihe berücksichtigt werden. Wir bewundern die Klugheit des Führers, der den Reichsprotektor ermächtigt hat, die Arisierung jüdischer Geschäfte zu überwachen.“

In der Tat haben - genau wie zuvor im Sudetengebiet - nicht allein die in Böhmen ansässigen Deutschen, sondern auch reichsdeutsche Firmen bei der Arisierung ein gutes Geschäft gemacht.

Im übrigen sind nach Neuraths Verordnung im Juli noch einige Bestimmungen herausgegeben worden, die dazu dienen, die Lage der Juden noch verzweifelter zu machen. So hat man z. B. den jüdischen Anwälten und Ärzten, die ihre Praxis nicht weiter ausüben dürfen, untersagt, ihre Angestellten vor Ende des Jahres 1939 zu entlassen. Die jüdischen Juweliere müssen ihre Geschäfte offen halten und dürfen die Löhne ihrer Angestellten nicht kürzen, obwohl ihnen verboten ist, Gold- und Silberwaren zu verkaufen.

Auch die deutschen Gerichte im Protektorat haben ihre Tätigkeit auf genommen und tragen zur Verfolgung der Juden das ihre bei. Die ersten Rassenschandeurteile sind ergangen.

Der aus Hohensalza stammende jüdische Arzt Dr. Levy, der mit seiner jetzigen Frau, einer Arierin, aus Berlin geflüchtet war und sich 1936 hatte in Rußland trauen lassen, ist zu 2Vs Jahren, seine Frau zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

Der 67-jährige jüdische Arzt Dr. Julius Lehrer aus Troppau, der seit 1924 mit einer Arierin zusammenlebte und angeklagt war, die Beziehung auch nach Einführung der Nürnberger Gesetze im Sudetenland fortgesetzt zu haben, erhielt 3Vi Jahre Gefängnis.

Bezeichnend ist ferner das Racheurteil gegen den ehemaligen jüdischen Leutnant der tschechoslowakischen Armee Josef Fischer aus Pilsen, der zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, weil er angeblich seinerzeit sudetendeutsche Soldaten seiner Kompagnie „öffentlich getadelt hat“. Dieses Urteil ist von einem deutschen Militärgericht im Protektorat gefällt worden.

Der Zwang zur Auswanderung der Juden wird systematisch verschärft. Nach den vom Statistischen Amt der tschechischen Regierung bekanntgegebenen Auswanderungsziffern sind vom Oktober 1938 bis zum 1. Juli 1939 rund 24 000 Personen, darunter 22 684 Juden aus dem Gebiet des Protektorats regulär ausgewandert. Dabei sind allerdings die Flüchtlinge nicht mitgezählt.

Beim Reichsprotektor v. Neurath ist eine „Zentralstelle für die jüdische Auswanderung“ geschaffen worden, die unter der Leitung des Gestapo-Beamten Dr. Stahlecker steht. Juden, die aus dem Protektorat auswandern wollen, müssen ihre Gesuche ausnahmslos an dieses Zentralamt richten.

Daneben hat die Gestapo der Prager jüdischen Gemeinde die Gründung eines zentralen jüdischen Auswanderungsamtes in Prag mit einer Filiale in Brünn genehmigt. Kurz nach der Gründung ist dieser Stelle durch die Gestapo mitgeteilt worden, daß innerhalb des nächsten Jahres mindestens 70 000 Juden aus dem Protektorat auswandern müssen.

Uns ist Ende Juli ein weiterer Bericht aus Mährisch-Ostrau zugegangen, der deutlich macht, wie diese Auswanderungen von den deutschen Machthabern vorbereitet und erzwungen werden.

„Aus dem früheren Magazingefängnis in der Marxgasse in Mährisch-Ostrau hat man jetzt die politisch Verdächtigen abgeführt, sie ins Polizei- oder Bezirksgefängnis überstellt und dort die reichen jüdischen Geschäftsinhaber und Juden untergebracht, denen man anheimstellt, auszuwandern. Nur unter dieser Bedingung haben sie Aussicht, freizukommen. Der bekannte Warenhausinhaber Rix wurde Anfang Juni mit einem Handwagen wiederholt durch die Stadt geführt, weil er sich weigerte, schriftlich auf sein gesamtes Vermögen zu verzichten. Nun scheint er Ende Juni sich dennoch entschlossen zu haben, dem Willen der Gestapo zu folgen, und nach dem Verzicht auf sein Vermögen wurde er in das Anhaltelager für Juden nach dem Magazin in der Marxgasse überführt. Ähnlich erging es anderen jüdischen Geschäftsinhabern. Die Nürnberger Gesetze werden in Mährisch-Ostrau jetzt streng durchgeführt, die jüdischen Vermögen sind ohne Ausnahme beschlagnahmt.

b) Slowakei

In der Behandlung der Judenfrage unterscheidet sich die Slowakei insofern von Böhmen, als die tschechische Bevölkerung dem Pogrom-Antisemitismus ablehnend gegenübersteht, während es dem deutschen Einfluß in der Slowakei schon seit längerer Zeit gelungen ist, eine judenfeindliche Bewegung zu erzeugen. Exekutivorgan dieser Bewegung ist die berüchtigte Hlinka-Garde.

Die Zahl der Verhafteten geht in die Tausende. Große Scharen von Juden haben versucht, das nackte Leben über die polnische Grenze zu retten. Sie sind zum Teil von der polnischen Grenzwache zurückgeschickt, aber in die Slowakei nicht wieder eingelassen worden. Tausende von slowakischen Juden irren gänzlich mittellos im Niemandsland umher.

Wir geben auch für die Slowakei einen gedrängten Überblick über die Geschehnisse nach dem 15. März:

Am 1. April hat die slowakische Regierung ein Judengesetz verabschiedet, das den Juden u. a. verbietet, sich als Juristen und Notare zu betätigen.

Durch ein am 1. Mai erlassenes Gesetz wurden 300 000 Juden der slowakischen Staatsangehörigkeit beraubt. Es handelt sich um Menschen, die erst nach 1918 naturalisiert worden sind, aber oft aus alteingesessenen Familien stammen.

Anfang Mai teilte der slowakische Ministerpräsident Tiso der Presse mit, daß alle Juden aus den öffentlichen Stellen in der Slowakei entfernt seien. Es gebe nur mehr wenige Ärzte und Advokaten mit einer rein jüdischen Klientel. In Handel und Industrie gehe die „erfolgreiche Arisierung“ rasch voran.

Fast alle jüdischen Geschäfte in der Slowakei wurden mit der Aufschrift „Jude“ (Zid) und dem Davidstern beschmiert. Nichtjüdische Kunden wurden mit Gewalt am Betreten der Geschäfte gehindert.

Die Synagogen in Käsmark (Kezmarok) Swatijur und Göllnitz wurden niedergebrannt, die Synagoge in Presov wurde mit Bomben in die Luft gesprengt. Die Synagoge in Dobruska wurde in ein Kirchenmuseum umgewandelt. In Pezinok hat man die Juden gezwungen, ihre Synagoge selbst anzuzünden.

In der slowakischen Hauptstadt Bratislava sind Juden auf der Straße von Hlinka-Gardisten und deutschen SA- und SS-Leuten schwer mißhandelt worden. Es kam auch zur Plünderung jüdischer Geschäfte.

Auch in Bardejow, St. George und Swatijur sind Juden mißhandelt worden.

Am 1. Mai wurden Haussuchungen in zahlreichen jüdischen Wohnungen der Slowakei veranstaltet, wobei beträchtliche Geldsummen „beschlagnahmt“ worden sind.

An fast allen Parkeingängen wurde die Aufschrift angebracht: „Juden Eintritt verboten!“

In der ganzen Slowakei wurde die jüdische Makkabi-Sportorganisation aufgelöst.

In sämtliche jüdische Unternehmungen setzte man „Kommissare“. Tausende von jüdischen Angestellten wurden entlassen.

Nach dem 23. Juni übernahm die Slowakei die Neurath-Verordnung. Innerhalb 60 Tagen mußten die Juden, auch die ausländischen, getauften und Halbjuden, eine Erklärung über ihr Vermögen abgeben, über das sie bis auf weiteres nicht frei verfügen dürfen.

Juden dürfen in der Slowakei keine Apotheken mehr besitzen.

Am 3. Juli haben mehr als 1000 Juden auf Donauschiffen Bratislava verlassen. Sie wurden von slowakischen Polizeibeamten bis zum Schwarzen Meer eskortiert.

Aus dem Städtchen Belus ist die ganze jüdische Gemeinschaft ausgetrieben worden, nachdem man die Juden vorher gezwungen hatte, ihr gesamtes Vermögen der „Kontrolle“ der Hlinka-Garde zu unterstellen.

Die aus der slowakischen Armee entlassenen etwa 500 jüdischen Offiziere und Soldaten sind in Armee-Arbeitslagern untergebracht worden und müssen ohne ausreichende Verpflegung und bei übermäßiger Arbeitsdauer außerordentlich schwere Arbeiten verrichten.

c) Memelgebiet

Nach der Okkupation von Böhmen wußte die Judenschaft in Memel, daß die Besetzung auch ihrer Heimat nur noch eine Frage von Tagen sein würde. Es setzte eine Massenflucht nach Litauen ein. Von den insgesamt 5-6000 Memeler Juden befanden sich am Tage vor dem deutschen Einmarsch am 23. März 1939 nur noch etwa 2000 in der Stadt, von denen etwa 1500 noch in letzter Stunde entkommen konnten. Aus den letzten Flüchtlingszügen am Morgen des 23. März wurden einige Leute von der SS verhaftet. Das Gepäck der Reisenden wurde durchsucht und jedem Juden nur ein Gepäckstück überlassen. Die übrigen Stücke wurden „konfisziert“. Lastwagen, die jüdische Habe nach Litauen schaffen wollten, wurden an der Grenze gezwungen, nach Memel zurückzukehren.

Einige der größten Tabak-, Textil- und Schokoladenfabriken Memels, ferner Engros-Handlungen und Warenhäuser fielen den Nationalsozialisten in die Hände.

Die Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde und aller jüdischen Organisationen wurden sofort von den Sturmscharen A 90 besetzt. Drei Synagogen wurden zerstört, viele jüdische Wohnungen demoliert.

In den Provinzorten des Memellandes wurden gleichfalls alle Synagogen vernichtet, die Thora-Rollen auf die Straße geworfen, zerrissen und mit Füßen getreten. SA und SS besetzte alle jüdischen Fabriken und Geschäfte. Es kam zu schweren Mißhandlungen.

Am 30. März veröffentlichte der „Treuhänder für das jüdische Eigentum in der Stadt Memel“ im „Memeler Dampfboot“ die folgende Konfiskations-Verordnung:

„Durch Verfügung des stellvertretenden Überleitungskommissars für die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich vom 27. März 1939 bin ich zum Treuhänder für das gesamte jüdische Eigentum in der Stadt Memel bestellt. Ich bestimme daher folgendes:

Es sind mir sofort schriftlich zu melden: 1. Sämtliche jüdische Guthaben bei Banken, Sparkassen und ähnlichen Instituten. 2. Sämtliche Zahlungen, die Firmen oder Personen an jüdische Betriebe, Geschäfte und Privatpersonen zu leisten haben. 3. Alles Eigentum, soweit es sich noch in jüdischem Besitz und alles jüdische Eigentum, das sich noch in anderen Händen befindet. 4. Durch die Hausbesitzer, sämtliche Betriebs-, Geschäfts- und Lagerräume, soweit sie an jüdische Gewerbetreibende vermietet waren oder noch sind. 5. Alle Forderungen an jüdische Betriebe, Geschäfts- und Privatpersonen.

Zahlungen an jüdische Gläubiger dürfen nicht erfolgen. Bei Nichtbefolgung obiger Anordnung ist Bestrafung zu erwarten.

W. Betke.“

Alle noch in Memel lebenden Juden mußten bis zum 31. Mai ihren gesamten Schmuck abliefern. Sie durften nur je eine silberne Uhr, ein silbernes Eßbesteck und falsche Gebisse behalten.

Beim Amtsgericht in Memel ist eine „Beratungsstelle für Arisierungsfragen“ errichtet worden. Bei den Banken hat man Sonderkonten eröffnet, auf die alle Arier die Beträge einzahlen müssen, die sie den Juden schulden.

Unmittelbar nach dem Einmarsch der Truppen kam Gestapo nach Memel, die etwa 100 Personen, meist litauische Juden, unter Spionageverdacht verhaftete.

Der Memeler jüdische Arzt Dr. Hanemann, ein litauischer Staatsbürger, ist - bis jetzt ohne Veröffentlichung der Gründe - von einem deutschen Gericht zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

d) Österreich

In Österreich wird der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden systematisch fortgesetzt.

Nach dem amtlichen Bericht der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde aus dem Juni 1939 sind von den rund 300 000 österreichischen Juden bis jetzt 88 000 ausgewandert. Diese Zahl bezieht sich aber nur auf die Glaubensjuden.

Nach dem in Wien erscheinenden „Weltblatt“ vom 24. 7. 1939, das sich amtlicher Angaben bedient, haben seit März 1938 99 672 Juden Österreich auf dem regulären Auswanderungswege verlassen. Da in dieser Ziffer die emigrierten Halb- und Vierteljuden, sowie all jene fehlen, denen Privatpersonen zum Verlassen Österreichs verholfen haben, könne man - so schreibt das „Weltblatt“ - mit Sicherheit annehmen, daß in den letzten 15 Monaten rund 200 000 Voll-, Halb- und Vierteljuden Österreich verlassen haben.

Trotz dieser hohen Ziffern wird die antisemitische Propaganda fortgesetzt.

In der anthropologischen Abteilung des naturhistorischen Museums in Wien ist eine Sonderschau eröffnet worden: „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden.“ Der Leiter dieser Abteilung hat erklärt, es gelte aufzuzeigen, „wie verschieden“ die jüdische Rasse von der arischen sei.

Durch ein Dekret Bürckels ist den deutschen und staatenlosen Juden das Betreten des Praters verboten worden.

Die Massenaustreibungen der nach Polen zuständigen Juden nehmen immer krassere Formen an.

Eine neue Wendung in der Behandlung der Judenfrage scheint der Arbeitermangel im Dritten Reich herbeizuführen. Wir haben bereits im Vormonat (Heft 6/1939, Seite A 76) einen Bericht aus Mitteldeutschland gebracht, aus dem hervorging, daß auch Juden zum Arbeitseinsatz im alten Reichsgebiet herangezogen werden. Weiter berichtet das angesehene englische Ärzte-Organ „Lancet“, die österreichischen Behörden seien wegen des Mangels an Ärztepersonal gezwungen, einer Anzahl jüdischer Ärzte wieder die Ausübung der Praxis zu gestatten. Nunmehr hegt uns ein Merkblatt der Wiener Auswanderungs-Hilfsaktion „Gildemeester“ vor, das körperlich kräftige Juden auf Verdienstmöglichkeiten im Reich aufmerksam macht. Wir reproduzieren dieses Dokument nachstehend:

„GILDEMEESTER
Auswanderungs-Hilfsaktion
Wien I, Wollzeile 7

Arbeitsmöglichkeit für christliche und konfessionslose Nichtarier

Gesunde, kräftige Männer im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, die nicht zur Ausreise befristet sind, finden Arbeitsmöglichkeit im Reichsgebiet gegen normale Bezahlung und Bedingungen.

Die Auswanderungsmöglichkeit bleibt in der Weise gewährt, dass jeder, der in dem Besitz einer Einreisebewilligung gelangt, innerhalb weniger Tage nach Wien zurückkehren kann, um seine Ausreise vorzubereiten.

Wer sich und seiner Familie eine Verdienstmöglichkeit sichern will, wird aufgefordert, sich umgehend in der Auskunftsabteilung Wollzeile 7, I. Stock zu melden.

Es wird ausdrücklich, aufmerksam gemacht, dass die Anmeldung geschieht, dass aber nacherfolgter Anmeldung, der Einberufung einer amtsärztlichen Untersuchung und zur Aufnahme der Arbeit, unbedingt folge geleistet werden muss.

Wir fordern alle jene Männer, auf die die obigen Bedingungen zutreffen, sich umgehend zur Arbeit zu melden, um den Beweis der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit der Nichtarier zu erbringen.“

Eine ähnliche Meldung kommt aus Prag. Dort wurde jüdischen Ingenieuren und Chemikern, die im Auswanderungsamt der Gestapo erschienen, mitgeteilt, sie könnten in Deutschland in ihrem Fach Arbeit finden. Die Juden, die auf das Angebot eingingen, sind größtenteils nach Hamburg vermittelt worden.

e) Danzig

Über die Lage der Danziger Juden erhalten wir folgende Berichte:

1. Bericht: In Danzig ist am 4. März im Gesetzblatt eine Verordnung erschienen, in der bestimmt wird, daß alle noch in Danzig wohnenden Juden, gleich welcher Staatsangehörigkeit, zu einer Haftgemeinschaft zum Zwecke der Finanzierung der jüdischen Auswanderung zusammengeschlossen werden. Dadurch werden die Juden insgesamt verpflichtet, die Kosten der Auswanderung für mittellose Juden aufzubringen. In der Praxis werden zu dieser Haftgemeinschaft nur solche ausländische Juden mit Beiträgen herangezogen, die in Danzig Grundbesitz haben. Auf die polnischen Juden bezieht sich die Verordnung allerdings nicht, da das den Danzig-polnischen Verträgen widersprechen würde. Die Formel „ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit“ ist deshalb wohl nur aus propagandistischen Gründen gewählt worden. Die Leute sollen sehen, über welche Macht der Danziger Senat verfügt, daß er auch einfach über das Vermögen der ausländischen Juden disponieren kann.

Zur Durchführung der Verordnung ist eine besondere Dienststelle beim Senat eingerichtet worden.

Am 3. März verließ ein Transport Danziger Juden - im ganzen etwas über 500 Menschen - Danzig. Die Fahrt ging mit Autobussen über die ostpreußische Grenze nach Marienburg. Von dort wurden die Juden - so jedenfalls war es vorgesehen - mit einem Sonderzug nach Deutschland und Italien bis Triest befördert, wo sie einen griechischen Dampfer besteigen sollten, der sie nach Palästina bringen sollte. Sämtliche Teilnehmer an der Fahrt besaßen keine Einwanderungserlaubnis nach Palästina.

2. Bericht:

Nachdem auch die letzte Danziger Synagoge, die Danziger Hauptsynagoge, abgebrochen wird, haben die noch in Danzig lebenden Juden keine Möglichkeit mehr, in einem Gotteshaus Gottesdienste abzuhalten. Von Augenzeugen erfahre ich, daß etwa 70 bis 80 Danziger Juden mitten aus der Betandacht, die sie zu Pfingsten in den früheren jüdischen Speisesälen auf der Pfefferstadt abhielten, von der politischen Polizei verhaftet und zum Polizeipräsidium abgeführt worden sind. Sie mußten zu dreien antreten und wurden in diesem Aufzug durch die ganze Stadt geführt, begleitet von Beamten der politischen Polizei und von Schutzpolizisten. Es heißt, daß man den Juden einen Prozeß wegen des Verstoßes gegen das bestehende Versammlungsverbot machen will. Viel Geld wird man von ihnen allerdings nicht mehr erben können, denn es sind vorwiegend ärmere Juden, die noch in Danzig sind. (Die Danziger Juden hatten, nachdem ihnen jedes Gotteshaus genommen worden ist, von der Polizei die Erlaubnis erhalten, die oben erwähnten ehemaligen Speisesäle für Betandachten zu benutzen. Zu Pfingsten, da kein Sonnabend war, haben sie, nach Ansicht der Polizei, keine Erlaubnis zur Benutzung der Räume gehabt.)

3. Bericht: Die Danziger Synagoge wird abgebrochen. Man hat es für richtig gefunden, hoch oben an der Front des Hauses ein weithin sichtbares Schild anzubringen: „Die Synagoge wird abgebrochen“. An den Zaun, der nunmehr die Abbruchstelle umgibt, hat man in großen Lettern geschrieben: „Komm lieber Mai, und mache uns jetzt von Juden frei!“ Förster hat bereits vor einem Jahr behauptet, daß ca. 3000 Juden aus dem Freistaat exmittiert worden sind, es waren damals in der Tat schon 5000. Inzwischen sind durch Sammeltransporte noch, man kann wohl sagen, die letzten Juden aus Danzig ausgewandert. Umso unverständlicher ist es, daß mit den oben angeführten Parolen noch weiter operiert wird.

Man hielt es außerdem für ratsam, den Beginn der Abbrucharbeiten an der Danziger Synagoge durch Filmaufnahmen festzuhalten, die in Danziger Kinos gezeigt wurden.

 

2. Die Juden im Reich

Die wirtschaftliche Vernichtung des deutschen Judentums ist soweit gediehen, daß immer mehr Wirtschaftszweige als „judenrein“ gemeldet werden können. So hat z. B. der „Reichsstand des deutschen Handwerks“ im April mitgeteilt, daß die Juden nunmehr aus dem deutschen Handwerk völlig ausgeschaltet seien. (Nach den statistischen Ermittlungen waren im Dezember 1938 im alten Reich noch 5822 jüdische Handwerksbetriebe in der Handwerksrolle eingetragen; in der Ostmark gab es im März 1938 noch 9538 jüdische Handwerksbetriebe.)

Hierzu wird berichtet:

Berlin: Von der „Arisierungsaktion“ sind lt. offiziellen Angaben im Kleinhandel 3767 jüdische Geschäfte betroffen worden. Wegen der allgemeinen Übersetzung des Kleinhandels blieb ein großer Teil davon ganz ausgeschlossen, etwa zwei Drittel. Von der Weiterführung ausgenommen waren von vornherein die Geschäfte, die nach dem Boykott im November 1938 bis zum 1. Januar 1939 noch nicht wieder geöffnet worden waren. Die anderen Geschäfte befanden sich in beschädigtem Zustand und mußten auf eigene -Rechnung der Inhaber wieder hergestellt werden. Die Unternehmungen waren alle ruiniert, und die Erlöse bei der Arisierung mußten minimal sein, zumal nur reine Warenwerte bezahlt wurden. Die offiziellen Angaben besagen weiter, daß in Berlin 2650 jüdische Handwerksbetriebe arisiert wurden, darunter:

976 Schneidereien
364 Kürschnereien
248 Putzmachereien
137 Schustereien
114 Uhrmacherwerkstätten
49 Gold- und Silberschmieden
56 Friseure
53 Glasereien
23 Fleischereien
15 Bäckereien.

Am 5. Juni meldete die „Essener National-Zeitung“, daß auch die deutsche Bekleidungsindustrie im Reich von Juden völlig frei sei, und daß in der Ostmark „jeder Tage eine stetig zunehmende Bereinigung bringt“.

Aber der Kampf gegen die Juden geht weiter. Wir verzeichnen zunächst die amtlichen Maßnahmen, die seit unserem letzten Überblick ergriffen worden sind.

a) Behördliche Maßnahmen

In unserer vorigen Zusammenstellung (Heft 2/1939, Seite A 85) haben wir irrtümlich mitgeteilt, daß bei der Ablieferung der Wertgegenstände aus jüdischen Besitz auch „Eheringe und kleine Erinnerungsstücke“ abgegeben werden müßten. Inzwischen hat es sich herausgestellt, daß folgende Gegenstände von der Zwangsablieferung ausgenommen waren:

a) die eigenen Trauringe und die eines verstorbenen Ehegatten;
b) silberne Armband- und Taschenuhren;
c) gebrauchtes Tafelsilber, und zwar je 2 vierteilige Eßbestecke, bestehend aus Messer, Gabel, Löffel und kleinem Löffel, je Person;
d) darüber hinaus Silbersachen bis zum Gewicht von 40 g je Stück und einem Gesamtgewicht bis zu 200 g je Person;
e) Zahnersatz aus Edelmetall, soweit er sich im persönlichen Gebrauch befindet.

Kurz vor dem Ablieferungstermin hat das Reichswirtschaftsministerium bestimmt, daß den auswandernden Juden die Mitnahme von Wertgegenständen erlaubt werden könne, wenn für den Gegenwert nicht anbietungspflichtige Devisen an das Reich abgeliefert werden, die bis spätestens Ende Oktober bei der Reichsbank einzuzahlen sind. Die deutschen Juden selbst besitzen natürlich längst keine „nicht anbietungspflichtigen Devisen“ mehr. Dem Regime kam es vielmehr darauf an, auf diese Weise aus freiwilligen Zuwendungen von Verwandten und Freunden der deutschen Juden eine zusätzliche Deviseneinnahme zu erzielen.

Durch einen Erlaß des deutschen Reichsinnenministers vom 3. April 1939 ist den Bürgermeistern aufgegeben worden, die Juden von allen Gemeindenutzungen auszuschließen.

Eine im April veröffentlichte Verordnung des Reichswirtschaftsministers dehnt das Verbot der Rechtsvertretung von Juden durch arische Anwälte auf die Beratung der Juden in Devisenangelegenheiten aus.

Im amtlichen Teil der Zeitschrift „Adresse und Anzeige“, Berlin, ist am 12. April mitgeteilt worden, daß eine Aufnahme von Juden in Adreßbüchern nicht mehr in Betracht komme.

Am 21. April hat der deutsche Reichswirtschaftsminister einen neuen Runderlaß über die jüdische Auswanderung herausgegeben. Danach darf der Auswanderer nur solche Sachen als Umzugsgut mitnehmen, die er bereits vor dem 1. Januar 1933 besessen hat. Wenn ein Auswanderer sich zu einem späteren Zeitpunkt etwa neue Kleidungsstücke gekauft hat, so kann die Erlaubnis zur Mitnahme davon abhängig gemacht werden, daß er einen Betrag in Höhe des Anschaffungspreises an die Reichskasse zahlt.

Im Reichsgesetzblatt vom 4. Mai 1939 ist ein „Reichsgesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ veröffentlicht worden, das den Behörden einerseits die Möglichkeit gibt, Juden auch gegen ihren Willen aus „deutschen Wohnstätten“ zu entfernen, und das andererseits die Besitzer jüdischer Häuser verpflichtet, die obdachlos gewordenen Juden bei sich aufzunehmen. Außer der Befugnis zum zwangsweisen Abschluß von Miet- und Untermietverträgen zwischen Juden steht der Gemeindebehörde das Recht zu, die Anmeldung solcher Räume zu verlangen, die an Juden vermietet sind oder für die Unterbringung von Juden in Frage kommen. Jüdische Vermieter oder Untervermieter können Verträge, die auf Verlangen der Gemeindebehörde abgeschlossen sind, nur mit deren Genehmigung kündigen. Auch die Neuvermietung von Wohnungen in jüdischen Häusern muß von der Gemeinde genehmigt werden.

Zwar ist in den Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz betont worden, die neuen Bestimmungen dürften „nicht zu einer unerwünschten Ghettobildung führen“, aber die Ansätze dazu sind bereits gemacht.

So hat z. B. die Stadt Magdeburg das Hotel „Amsterdam“ zur Aufnahme jüdischer Familien und Einzelpersonen übernommen, die aus den anderen Wohnungen der Stadt entfernt worden sind. Eine Erweiterung des Gebäudes ist geplant. Weiter wird der Ghettobildung durch das Bestreben Vorschub geleistet, die Juden aus den besseren Wohnvierteln aller Städte zu entfernen. Z. B. sind in Berlin folgende Straßenzüge und Wohnviertel für Juden gesperrt:

Potsdamer Straße, Lützow-Platz, Tiergarten-Viertel, Hansa-Viertel, die Häuserblocks in unmittelbarer Nachbarschaft der großen Moabiter Kasernen, die großen Straßenzüge des Berliner Westens, Tauentzienstraße, Kleiststraße, Kurfürstendamm, sowie das Bayerische Viertel.

Die Bewegungsfreiheit der Juden wird auch sonst in jeder Weise eingeengt, z. B. durch das Verbot, gewisse Straßen, Plätze und Parks zu betreten. (…)

Im Mai sind die jüdischen Reisevermittler aus dem Reisevermittlergewerbe ausgeschlossen worden. Ausnahmen können bewilligt werden, wenn eine Förderung der jüdischen Auswanderung in Betracht kommt.

Sondertransporte von jüdischen Auswanderern dürfen, wie die Reichsverkehrsgruppe „Hilfsgewerbe des Verkehrs“, Berlin, im Mai mitgeteilt hat, künftig nur noch mit Genehmigung des Chefs der Sicherheitspolizei zusammengestellt werden. In der Begründung heißt es, man wolle verhindern, daß gescharterte Dampfer mit den Auswanderern längere Zeit auf See herumfahren. Dadurch entstünden Devisenverluste und Störungen in der Auswanderung. In der Zwischenzeit hat es sich allerdings schon herausgestellt, daß diese Maßnahme wenig wirksam ist, da weiterhin zahlreiche Juden das Reich verlassen, ohne Einreisegenehmigungen für andere Länder zu besitzen.

Am 21. Juni hat der Reichsminister des Innern neue Richtlinien für den Aufenthalt von Juden in Bädern und Kurorten erlassen. Die jüdischen Kurgäste werden auf bestimmte Hotels mit weiblichem Personal nicht unter 45 Jahren beschränkt, müssen sich an besondere Trink- und Badestunden halten, werden von den übrigen Kuranlagen ausgeschlossen etc. Es wird kein Unterschied zwischen Juden deutscher und fremder Staatsangehörigkeit gemacht, eine Ausnahme kommt nur für Personen in Frage, die in Deutschland als Diplomaten beglaubigt sind.

Nach der „Zehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 4. Juli 1939 (RGBl. I., Seite 1097) wird eine „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ gebildet, die ihren Sitz in Berlin hat. Als örtliche Zweigstellen dienen die jüdischen Kultusvereinigungen. Die Reichsvereinigung hat die Aufgabe, die Auswanderung zu fördern, und ist Träger des jüdischen Schulwesens und der freien jüdischen Wohlfahrtspflege. Ihr gehören zwangsweise alle Staatsangehörigen und staatenlosen Juden an, die im Reichsgebiet wohnen.

Der Reichsminister des Innern kann die Eingliederung bisher selbständiger jüdischer Vereine, Organisationen und Stiftungen in die Reichsvereinigung anordnen. In diesem Fall fällt das Vermögen der betroffenen Einrichtungen an die Reichsregierung, die andererseits aber auch mit ihrem gesamten Vermögen für die Verbindlichkeiten der ihr zwangsweise eingegliederten und unter Umständen in wirtschaftlicher Not befindlichen Einrichtungen haftet. Jüdische Kinder dürfen nur die Schulen der Reichsvereinigung besuchen. Die Reichsvereinigung hat für die Aus- und Fortbildung der Lehrer zu sorgen. Als Träger der jüdischen Freien Wohlfahrtspflege hat die Reichsvereinigung „nach Maßgabe ihrer Mittel hilfsbedürftige Juden so ausreichend zu unterstützen, daß die öffentliche Fürsorge nicht einzutreten braucht. Sie hat Vorsorge zu treffen, daß für anstaltspflegebedürftige Juden ausschließlich für sie bestimmte Anstalten zur Verfügung stehen.“

b) Judenfeindliche Rechtsprechung

Der „Stürmer“ veröffentlicht eine Aufstellung, nach dem im Jahre 1938 allein in Hamburg 119 Personen wegen „Rassenschande“ verurteilt worden sind. (…)

In Köln wurde ein Jude, der in einem Gesuch an die Behörde den Zwangs-Vornamen Israel ausgelassen hatte, gerichtlich mit 50 RMk Geldstrafe belegt. Bestrafungen dieser Art sind schon wiederholt erfolgt.

Die „Hagener Zeitung“, Hagen i. Westf. veröffentlicht das folgende Urteil unter der Überschrift: „Der Jude kann das Handeln nicht lassen“:

„Der Jude Samuel Israel Münzer aus Hagen stand am 6. April vor dem Schöffengericht. Ihm war auf Grund der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben in eindeutiger Weise eröffnet worden, daß er sich jeder Verfügung über sein Wirt- schaftsvermögen zu enthalten habe. Zur Abwicklung der geschäftlichen Angelegenheiten wurde ein Abwickler bestellt, der Münzer auch darauf aufmerksam machte, daß er nichts mehr vom Warenlanger und keine Einrichtungsgegenstände verkaufen dürfe. Trotz dieses Verbots verkaufte der Jude von der Ladeneinrichtung zwei Schränke, für die er 160 RMk erhielt. Vor Gericht erklärte er, er habe im guten Glauben gehandelt. Der Umstand, daß durch den Verkauf keine Gläubiger geschädigt wurden, rettete den Angeklagten vor einer Freiheitsstrafe. Die Geldstrafe wurde auf 150 RMk, hilfsweise 30 Tage Gefängnis, festgesetzt.“

c) Berichte aus dem Reich

Noch bis in die letzte Zeit hinein sind uns Berichte über die November-Pogrome zugegangen. Diese Aktion läßt die öffentliche Meinung nicht zur Ruhe kommen und hat dem Regime einen schweren Prestigeverlust auch innerhalb des deutschen Volkes eingetragen. Wir halten dieses Berichtsmaterial für wichtig genug, um es auch jetzt noch zu veröffentlichen.

Einer unserer Freunde hatte Gelegenheit, bei einer ausländischen Regierungsstelle amtliche Berichte über die Judenverfolgungen im November v. J. einzusehen, die ein ausländischer Diplomat von hohem Rang verfaßt hat. Diese Berichte lauten in der Übersetzung:

1. Bericht: „Durch Zufall fiel meine Reise in mehrere deutsche Provinzen mit dem Ausbruch der Judenverfolgungen zusammen. Ich unterbrach meine Tour mehrere Male, um mich an Ort und Stelle zu erkundigen. Aus erklärlichen Gründen sprach ich niemals mit Juden, sondern stets mit Ariern, manchmal mit Geistlichen beider Konfessionen, aber auch mit Amtsträgern, darunter uniformierte Mitglieder der regierenden Partei. Ich habe niemanden getroffen, der die Vorkommnisse verteidigt hätte. Mehrere der nationalsozialistischen Amtsträger schienen in ihrer Entrüstung ehrlich zu sein.

In Ulm, einer alten Stadt an der Donau, wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November alle Juden aus ihren Häusern getrieben und vor der brennenden Synagoge versammelt. Der 60-jährige Rabbiner, ein herzkranker Mann, wurde vor der Synagoge von sehr jungen Nazis so geschlagen, daß man die Absicht, ihn nach Dachau zu bringen, aufgeben mußte. Er wurde einem Hospital zugeführt. Dasselbe Schicksal hatte ein Rechtsanwalt. Die anderen Juden wurden nach Dachau gebracht. Ein angesehener Nationalsozialist erzählte mir, es sei eine schreckliche Szene gewesen. Die Juden seien von vielen sonst harmlosen Einwohnern bespuckt und mit Schmutz beworfen worden. Sinnlos ist die Schließung von Heimen für jüdische Kinder und alte Leute, auch die Einkerkerung junger Juden, die für Landwirtschaft umgesiedelt werden. Es ist herzbewegend zu sehen, wie solche Heime, aber auch viele private Familien aufgelöst werden. Einer der Naziwürdenträger in einer bayerischen Stadt erzählte mir, daß eine ihm bekannte christlich-arische Familie vor fast 20 Jahren ein Baby adoptiert habe. Jetzt stelle sich heraus, daß der Junge Halbjude sei. Die Adoptiveltern mußten sich von dem Jungen trennen. Als Halbarier ist der Junge verpflichtet, im deutschen Heere zu dienen, aber er darf nicht bei seinen Adoptiveltern leben und darf weder eine Arierin noch eine Jüdin heiraten. Das ist nur ein Beispiel der besonders unglücklichen, nichtarischen Christen. Wir sollten in der Presse mehr auf das Los dieser armen Menschen hinwei-sen. Ein anderer Fall: Ein bayerischer Militärarzt erzählte mir von einem jungen Mann, dessen Vater Jude sei und dessen Mutter katholisch ist. Er konnte wochenlang einen Fuß nicht behandelt bekommen, weil er als Halbjude nicht zu einem arischen Doktor, und als Halbarier nicht zu einem jüdischen Doktor gehen durfte. Es habe ihn schließlich ein Militärlazarett aufgenommen. Ich traf nicht einen einzigen Deutschen, der mir nicht ähnliche Dinge mit Abscheu erzählte.

In München gab es vor dem 9. November ein jüdisches Hospital und zwei Synagogen. Die Hauptsynagoge war schon im Juni zerstört worden. Außerdem waren zwei jüdische Altersheime, ein Kinderheim, eine Suppenküche und eine jüdische Schule vorhanden. Die zwei Synagogen wurden am 9. November niedergebrannt. Zur Zeit meiner Anwesenheit gab es in der großen Stadt, die amtlich die Hauptstadt der Bewegung heißt, kein Gebäude, das jüdischen Gottesdienst möglich gemacht hätte.

Auch die jüdische Schule ist zerstört, da sie mit der Synagoge verbunden war. Die Suppenküche wurde mitten in der ärgsten Not geschlossen, jedoch sagte mir ein hoher Nazibeamter, daß sie wieder eröffnet werden sollte. Im Augenblick könne aber niemand gegen die „wilden Kerle“ angehen. Besonders traurig ist der Untergang des Kinderheimes.

In München war viel weniger Zerstörung von Eigentum und Mißhandlung der Juden als in Nürnberg. Andererseits wurden alle männlichen Juden nach Dachau geschickt. Nach einigen Tagen wurden Jungen von etwa 16 Jahren und alte Herren über 60 Jahre wieder entlassen. Amtlich wurde mir mitgeteilt, daß im Dezember 12 000 Juden in Dachau waren und etwa 3000 politische Gefangene. Bei der Ankunft wurde den Juden mitgeteilt, daß sie seit Monaten erwartet würden und ihre „Uniformen“ bereit lägen. Die Juden trugen einen ganz dünnen Baumwollanzug mit Unterwäsche, die kaum diesen Namen verdient. In der kalten Witterung hatten sie von 6 Uhr früh bis 4 Uhr nachmittags im Freien zu bleiben. Viele ältere Juden konnten das nicht aushalten. Zahlreiche Kranke wurden notdürftig behandelt. 20 starben in der ersten Woche. In der nächsten Woche waren 5 Todesfälle zu verzeichnen. Jetzt ist die Sterblichkeit „normal“.

In Nürnberg und der kleineren Schwesterstadt Fürth leben noch 3000 bis 3500 Juden mit etwa 400 Kindern. Viele Kinder sind schon ins Ausland gebracht worden. In Nürnberg gingen am 9. November SA-Banden mit Listen von Haus zu Haus und zerstörten alle Einrichtungen in jüdischen Wohnungen mit Beilen. Das Vorgehen zeigte nicht nur Plan, sondern große Übung. Einer der örtlichen Nazibeamten, der die Vorgänge beklagt und sich sehr bitter über Herrn Streicher aussprach, sagte mir, daß gewisse Trupps schon seit 1933 auf die Zerstörung von Wohnungen gedrillt seien. In einigen Distrikten der Stadt gingen die Banden übrigens „menschlicher“ vor. Es hing das von den Führern ab. Im allgemeinen brachen die SA-Trupps morgens gegen 3 Uhr in die Wohnungen ein, trieben Männer und Frauen mit Lederriemen aus dem Bett, gaben ihnen manchmal Zeit, sich notdürftig anzuziehen und dann wurden sie mit Schlägen auf die Straße gejagt. Einer meiner Informatoren, ein angesehener Bürger und überzeugter Nazi, hat selbst auch Frauen gesehen, die die Spuren der Lederriemen im Gesicht trugen. Die Leute hatten auf der Straße zu warten, bis die Wohnung zerstört war. Die Vernichtung war gründlich. Auch die Betten wurden aufgerissen und die Bettfedern mit Marmelade etc. vermischt. Viele Juden und Jüdinnen mußten ärztliche Behandlung suchen, die aber schwer zu erlangen war, weil ja auch die Ärzte terrorisiert wurden. In mehreren Fällen wurden schreiende kleine Kinder gezwungen, die Mißhandlung ihrer Eltern mit anzusehen. Das jüdische Hospital in Fürth mit 50 Betten hatte über 100 Verwundete. In Fürth wurde sehr wenig Schaden getan. Juden, einschließlich Frauen, Kinder und Säuglinge wurden nachts auf die Straße getrieben; viele waren nur halbbekleidet; sie glaubten, ihre letzte Stunde sei gekommen. In Nürnberg wurden die Kinder nachts aus dem jüdischen Waisenhaus vertrieben, durften aber später zurückkehren.

In Würzburg wurde verhältnismäßig wenig Schaden getan. Es lebten noch 900 Juden dort. Zwei Drittel der nach Dachau und Buchenwald Verschickten kamen bald wieder zurück. Das größte Problem ist die Wohnungsfrage. Verhungern werden die Juden nicht, da sie immer noch Fonds haben und auch viele Arier ihnen helfen. Aber viele Juden wissen nicht, wo sie wohnen sollen, da sie immer wieder aus Häusern und auch aus Ortschaften vertrieben werden. Ein Arier in München zeigte mir einen gebrechlichen jüdischen Greis, der aus drei Dörfern nacheinander vertrieben worden war und jetzt von einer christlichen Familie heimlich unterhalten wird. Von mehreren amtlichen deutschen Stellen erfuhr ich, daß Landbürgermeister, die von der bevorstehenden Aktion gehört hatten, jüdische Familien rechtzeitig warnten. Die Juden verließen innerhalb weniger Minuten in solchen Fällen ihre Wohnung und reisten nach München, wo sie sich tagelang in der Kälte, in den Straßen und in Parks herumdrückten, bis sie von jüdischen Wohlfahrtsanstalten aufgenommen wurden.

Ich fand übrigens genau dieselben Bedingungen in Ostpreußen, das bekanntlich durch die polnische Provinz Pomorze von Deutschland getrennt ist. Viele Juden sind geflohen. Die verbleibenden Juden haben sich mindestens zweimal wöchentlich der Polizei vorzustellen. Während der Novembertage wurden alle Männer verhaftet, auch solche unter 17 und über 80 Jahren. Die Frontkämpfer und die Greise über 70 wurden bald wieder entlassen. In Elbing hatten alle jüdischen Familien sich in das Gemeindehaus begeben. Ihre Wohnungen wurden weggenommen.

Ich würde mich nur wiederholen, wenn ich über weitere Gebiete berichtete. Die Juden in Deutschland sind verloren, wenn sie nicht auswandern können. Ich unterstütze alle Bestrebungen, die wenigstens den Kindern sehr schnell ein neues Land erschließen möchten. Gegenüber gewissen politischen Befürchtungen möchte ich feststellen, daß nach amtlichen Naziangaben nur wenige der jetzigen jüdischen Auswanderer mit radikalen Bestrebungen in Verbindung stehen. Politisch neigen sie eher zum Konservatismus, religiös zur Orthodoxie. Das ist natürlich nur ein sehr allgemeines Urteil, aber ich berichte es, wie es mir gegeben wurde. Vielleicht trifft es mehr auf die kleineren Orte zu als auf die Großstädte.

2. Bericht: Der Schrecken, der unter den Juden herrscht, ist natürlich in hohem Maße auf die Gewalttaten in der Pogromnacht vom 10. zum 11. November 1938 zurückzuführen, die, wie jedermann weiß, sorgfältig organisiert waren. So wurde z. B. bemerkt, daß fast alle Angreifer ihre Dienststiefel trugen, obgleich sie Parteiuniform und -abzeichen abgelegt hatten.

In den Städten besuchte ich alle jüdischen Geschäfte, die demoliert worden waren. Plünderungen seien selten gewesen, sagte man mir. Zu Beginn des Dezember waren viele Geschäftsfronten wieder instand gesetzt und die Geschäfte teilweise nach der „Arisierung“ neu eröffnet worden. Alle Synagogen hat man mit den anschließenden Gemeindehäusern abgebrannt. Auch die Friedhofskapellen - in Leipzig mit zwei oder drei Toten, die darin der Beerdigung harrten. Grabsteine sind niedergerissen worden. In einigen Städten drangen die Pogromisten in jedes Privathaus ein, anderwärts nur in einige. Gewöhnlich wurden die wertvollen Gegenstände mit der Axt zerschlagen, und oft wurde alles Zerbrechliche bis auf die letzte Teetasse zerstört. Einige Häuser sind unbewohnbar gemacht worden, aber häufig sind Frauen und Kinder darin zurückgeblieben. Den Männern wurde nur gestattet, sich anzukleiden. Dann führte man sie davon, ohne daß sie mehr mitnehmen durften als das, was sie auf dem Leibe trugen. In Erfurt und Dresden wurden die weitaus meisten Männer verhaftet, in Leipzig etwa 1100, in Chemnitz über 200. Selbst die Ärzte aus dem jüdischen Hospital in Leipzig hat man abgeholt. Das Altersheim in Leipzig ist besetzt und durchsucht worden, aber die darin lebenden Greise wurden nicht verhaftet. Sie erhielten am nächsten Tag den Besuch eines „arischen“ Arztes, der freiwillig seine Hilfe anbot. Einige Männer entgingen der Verhaftung durch die Flucht oder durch Abwesenheit von ihrem Heim. Sie versteckten sich in einigen Fällen in christlichen Häusern, aber sie kehrten nach und nach zurück und wurden dann meist nicht verhaftet. In Dresden sind mehrere Frauen als Geiseln festgenommen und gefangen gehalten worden, bis ihre Männer sich selbst stellten. Fast alle Männer aus den genannten Städten wurden in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar gebracht. Einige hat man auch in den allgemeinen Gefängnissen festgehalten.

In einer Anzahl von Fällen (besonders bei den Angehörigen freier Berufe, Ärzte, Anwälte usw.) hörte ich, daß die Verhaftungen höflich und mit Ausdrücken des Bedauerns vorgenommen wurden. Aber oft war die Behandlung roh. In Erfurt wurden die verhafteten Männer in der Halle eines Schulhauses versammelt und dort, bevor man sie ins Lager überführte, geschlagen. In Chemnitz wurde ein Mann in seinem eigenen Haus erschossen, und der Rabbiner wurde geschlagen und ernsthaft verwundet, als er versuchte, die heiligen Bücher aus der brennenden Synagoge zu retten. Er befindet sich im Gefängnisspital. Ein Jugend-Schulungslager bei Halle wurde überfallen, viele der jungen Männer wurden verwundet, zwei getötet. In Leipzig hat man eine Gruppe verhafteter Männer zu einem Kanal geführt und sie mit Erschießen bedroht, wenn sie nicht ins Wasser sprängen. Aber die Schreie der Frauen aus den benachbarten Häusern beendeten dieses „Spiel“. In Bautzen, wo nur noch etwa ein Dutzend jüdischer Familien leben, wurden alle Frauen und Männer gezwungen, den ganzen Tag über auf offener Straße vor einem ihrer Häuser zu stehen. Sie trugen Schilder um den Hals und wurden durch judenfeindliche Lieder und Rufe verhöhnt.

Verbote wie die Sperrung gewisser Läden, Restaurants und Vergnügungsstätten oder die Beschränkung auf bestimmte Bänke in den Parks sind zwar schlimm, werden aber, verglichen mit den größeren Leiden, wenig beachtet. Die Kinder sind alle ohne Schulunterricht. Es bestand während meines Aufenthalts einige Hoffnung, daß die Schule in Leipzig wieder eröffnet werden dürfte. Viele Familien hatten den Bescheid erhalten, daß sie ihr Heim in wenigen Wochen verlassen müßten. Von vielen wurde verlangt, daß sie im Voraus eine Garantiesumme für Gas oder Elektrizität erlegten, weil sie „jeden Tag emigrieren könnten“. Da sie nicht imstande waren, die Summe aufzubringen, wurde ihnen der Strom abgeschnitten. So geschah es z. B. in Leipzig. Es gab viele ängstliche Unterhaltungen über die Schwierigkeit, neue Wohnungen zu finden. Man erwartete im allgemeinen nicht, daß regelrechte Ghettos errichtet werden würden, obgleich man gewisse Straßen oder Stadtteile wohl für Juden sperren wird. Der nächste Schritt sollte die Teilung der größeren Häuser wohlhabender Juden in Wohnungen für arme Familien sein und dann, wenn nötig, die Errichtung hölzerner Baracken durch die Juden selbst. Die Männer, die nun alle ohne Arbeit sind, fürchten die Einrichtung von Zwangsarbeitslagern.

Es ist nicht erstaunlich, daß die Gedanken vieler derart Gequälter ständig um den Selbstmord kreisen. Das wurde mir immer wieder erzählt, und ein Berliner Arzt sagte mir, daß kaum ein Tag verginge, ohne daß er über die einfachste Methode befragt würde. Aber der Lebenswille ist gewöhnlich doch stärker als die Verzweiflung, und die Anzahl der wirklichen Selbstmorde in diesen Städten ist niedriger als ich dachte. Ich hörte von einigen Fällen - z. B. von dem einer Frau und ihrer Tochter in Chemnitz -, wo die Frauen sich einen Tag, nachdem der Mann verhaftet worden war, mit Gas vergiftet hatten. In Plauen hat sich ein Mann an dem Tage erhängt, an dem ich diesen Ort besuchte. Er war am Tage zuvor aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt. Die Schwierigkeit der Situation wird durch die Tatsache illustriert, daß die nötigen Papiere für die Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof nicht zu erhalten waren, weil alle Rabbiner und Gemeindebeamten den Ort verlassen hatten. Ich konnte etwas Hilfe leisten, indem ich die vorübergehende Adresse der Rabbinersfrau in einer anderen Stadt angab, die vielleicht die Möglichkeit hatte, in diesem Fall etwas zu tun. Ich traf immerfort Leute an, die gerade eine Beerdigung vorbereiteten.

Im Konzentrationslager Buchenwald waren Mitte November 10 000 Juden inhaftiert. Die Lebensbedingungen waren sehr schlecht. Das Lager war unfertig und für eine derartig hohe Zahl von Häftlingen gänzlich ungenügend. Zuerst mußten viele Männer nicht nur den ganzen Tag im Freien stehen, oft in Hab-Acht-Stellung, sondern auch im Freien oder doch ohne Betten schlafen. Die sanitären Einrichtungen und die Wasserversorgung waren ganz unangemessen. Selbst für Trinkzwecke war Wasser nur „löffelweise“ zu erhalten, und Durst war eine der ärgsten Qualen. Es war ein Glück, daß das Wetter in den ersten Wochen gut und recht milde war, aber ein kräftiger Regen wurde des Wassers wegen begrüßt, das aufgefangen werden konnte. Die Männer hatten weder Hemden noch Socken zum Wechseln, und die, die sie trugen, waren nach einigen Wochen in einem entsetzlich schmutzigen Zustand. Einige Frauen sandten Pakete ins Lager, aber diese erreichten die Männer nicht immer. Die meisten Häftlinge durften nach vierzehn Tagen eine offizielle Postkarte an ihre Frauen schreiben. Was Berichte über Mißhandlungen und Morde im Lager anlangt, so muß man, glaube ich, vorsichtig sein. Gewöhnlich hörte man Erzählungen von zwanzig Toten an einem Tag oder es wurde berichtet, der Wald beim Lager sei mit Leichnamen übersät. Aber das glaube ich nicht. Ich sprach mit etwa sechs Männern, die entlassen worden waren, ich habe es mir jedoch zur Regel gemacht, diese Leute nie direkt nach der Behandlung zu fragen. Einige sagen nichts und andere geben aus freien Stücken einen Bericht (so wie den oben wiedergegebenen), aber sie sprechen nicht von körperlichen Mißhandlungen. Andererseits kommen einige Männer verwundet aus dem Lager, mit zerrissenen Kleidern, und in Chemnitz haben mindestens vier Frauen die brutale Anfrage erhalten: „Wo wünschen Sie die Asche Ihres Mannes ausgeliefert zu erhalten?“ Es gibt ein Krematorium im Lager, das teilweise dazu dienen mag, zu verhüllen, ob solche Männer durch Gewalttat, Selbstmord oder an Krankheit gestorben sind. Nach ein oder zwei Wochen litten die Männer weniger durch ständiges Stehen im Freien als durch die Folgen harter und für viele von ihnen ungewohnter Arbeit.

Während der Zeit meines Besuches wurden die Männer in Gruppen von 2 bis 300 Häftlingen täglich aus dem Lager entlassen. Am 5. Dezember war die Zahl der Gefangenen auf etwa 6000 reduziert. Zuerst wurden die Männer über 60 und die Kranken entlassen. In X. fand ich, daß nur 3 Männer zurückgekommen waren und alle lagen schwer krank im Bett. Einer konnte kaum sprechen. Die nächsten Entlassungen waren solche, die bereits Visa für die Emigration in der Hand hatten oder doch Aussicht darauf, sie rasch zu erhalten. Dann die Kriegsveteranen, die zufällig ihre Auszeichnungen oder andere Beweise mitgenommen hatten. Zuletzt wurden einige junge Leute aus dem jüdischen Schulungslager entlassen. Eine Anzahl der Freigelassenen ist zwei oder drei Tage völlig unfähig, irgend etwas zu tun. Täglich erwartet eine Gruppe jüdischer Frauen die Entlassenen auf dem Weimarer Bahnhof mit irgendeinem Vorrat von reinen Socken, Handtüchern usw. Sie fassen die Leute zusammen, geben ihnen Kaffee und versuchen, ihre Sachen ein wenig zu säubern, ehe sie in verschiedenen Zügen nach ihrer Heimat abreisen. Im Erfurter Bezirk mußten alle entlassenen Männer eine Zusicherung unterschreiben, daß sie Deutschland binnen drei Wochen verlassen würden. Im Falle der Nichterfüllung drohe ihnen neue Inhaftierung. Die Leute hofften darauf, daß dies nur eine Drohung sei, die nicht wahr gemacht werden würde. In anderen Städten stellte man diese Bedingung nur solchen Leuten, die ihre Emigration bereits eingeleitet hatten.

Ich erkundigte mich überall, wie die Familien heute, da kein Mitglied verdienen kann, ihr Leben fristen. Offiziell war die öffentliche Fürsorge für Juden, die sich in Not befanden, noch zuständig, wenn auch nur in den niedrigsten Stufen und ohne die Zuschüsse der Winterhilfe. In Wahrheit entschieden die lokalen Behörden, ob sie zahlen wollten oder nicht. In Dresden wurde im allgemeinen gezahlt, in Leipzig nur in einigen Bezirken, in Erfurt gar nicht. Mir wurde der offizielle Brief des Bürgermeisters in einem kleinen Ort gezeigt, der besagte, daß einige jüdische Familien ohne alle Mittel am Ort lebten und daß die Juden der nächsten Stadt sie unterhalten müßten. Wenn dies nicht geschähe, würde man sich an ihr Besitztum halten. Die Summen, die von der öffentlichen Fürsorge gezahlt werden, sind ungefähr aus den Zahlen ersichtlich, die ich von einer Frau aus X. erhielt. Für sie selbst, ihren Mann und das 10-jährige Mädchen erhielt sie wöchentlich 15,70 RMk. Nachdem der Mann inhaftiert worden war, wurde der Betrag auf 10,60 RMk. gesenkt. Ausserdem wurde ihr auf die Monatsmiete von 35,- RM eine Ermäßigung von 20,30 RMk bewilligt. So blieben ihr, wenn sie die Miete zahlte, nur 7,- RMk wöchentlich für sich und das Kind. Im allgemeinen zahlte in solchen Fällen die jüdische Wohlfahrt das Mehr an Miete und bewilligte Zuschüsse aus ihrer eigenen Winterhilfe. Jetzt sind die jüdischen Wohlfahrtsinstitutionen allerdings geschlossen und ihre Fonds konfisziert worden. Trotzdem beschaffen die Juden noch Nahrung für ihre Armen. In den sächsischen Städten ist die Belastung geringer als zu erwarten, weil so viele polnische Juden ausgewiesen worden sind. In Leipzig, wo etwa noch 9000 Juden lebten - zu drei Vierteln unterstützungsbedürftig -, ist vorübergehend eine Fürsorgeorganisation gegründet worden, die regelmäßige Sammlungen veranstaltete. Eine Volksküche, die seit vielen Jahren bestand, konnte fortgeführt werden. Sie gibt an 150 bis 200 Personen täglich ein Mittagsmahl aus, für das einige gar nichts zahlten, andere verschiedene Beträge bis zu 30 Pfg. Ein Gast dieser Volksküche sagte mir: „Wir hungern, aber wir verhungern nicht.“

In den anderen Städten lebten die Leute von ihren heimlichen Ersparnissen, und die Bessergestellten trugen zur Milderung der schlimmsten Nöte bei. Die noch Mittel hatten, konnten allerdings nicht so wirksam helfen, wie sie es gern getan hätten, da sie von der Bank monatlich nur eine bestimmte Summe abheben durften, entsprechend ihren Lebensumständen. Jeder Bezirk war ganz auf seine eigenen, lokalen Hilfsmittel angewiesen. Ich erwog die Möglichkeit, Mittel vom Ausland heranzuschaffen, wurde aber überall gebeten, das nicht zu tun, sondern alle Fonds für die Emigration zu reservieren. Die Leute konnten nicht abschätzen, wieviele Wochen oder Monate sie so durchkommen würden, zumal bereits die Sperrung aller öffentlichen Mittel angekündigt war. Erst wenn alle eigenen Mittel erschöpft sind, dürfen die Juden wieder um Hilfe nachsuchen. Es bestanden einige Hoffnungen, daß die beschlagnahmten Wohlfahrtsfonds zurückerstattet werden würden. Besonders hart war der Mangel an Butter, Fett und Eiern im Frankfurter Bezirk. Es wurde auch befürchtet, daß den Juden bei steigender Lebensmittelnot die Butterkarten entzogen oder wenigstens die Rationen erheblich gekürzt werden würden. Dann würden Pakete aus dem Ausland eine große Hilfe sein.

Es besteht gegenwärtig keine ernsthafte Schwierigkeit, in den großen Städten die nötigen Einkäufe zu erledigen. In kleineren Städten vielleicht. Eine Sozialfürsorgerin aus Eisenach erzählte mir, daß dort kein Geschäft an Juden etwas abgebe. Auf meine Frage, wie sie dann einkaufen könnten, antwortete sie mir: „Oh, sie haben alle mindestens einen arischen Freund, der ihnen das Nötige beschafft.“

Ich machte es mir zur Aufgabe, in den meisten Städten, die ich bereiste, wenigstens einen Pfarrer aufzusuchen oder einen anderen Sympathisierenden, der den sogenannten Nichtarischen Hilfe bringen konnte, und ich besuchte selbst einige derartige Opfer. Die „Bekennende Kirche“ hat sich solcher Fälle nunmehr energisch angenommen und hat in vielen Kreisen Vertreter, die sich an der Emigrationshilfe beteiligen. Die nichtarischen Christen sind in besonderer seelischer Not. Sie haben häufig in der ersten Zeit den Terror am eigenen Leibe erfahren, und ihre christlichen Freunde verlassen sie oft - wenn auch nicht immer. In Sachsen scheint es sich häufig um Angehörige freier Berufe zu handeln, übrigens um sehr schätzenswerte Leute.

Die nachstehenden Berichte bringen erneut Material darüber bei, daß die Pogrome von der weitaus überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes abgelehnt wurden.

Rheinland-Westfalen: Die Pogrome gegen die Juden im November vorigen Jahres haben die Menschen, besonders die Frauen, sehr erschreckt. Viele arische Frauen haben geweint, als sie das mit ansehen mußten. Diejenigen von der SA, die damals diese Schweinerei mitgemacht haben, schämen sich heute ihrer Taten. Ich habe einen Bekannten in der SA, der erzählte mir wie es kam, daß er bei der Aktion mitmachen mußte. Er kam spät abends nach Hause und da sagte ihm seine Frau, daß soeben ein telefonischer Anruf gekommen sei, er solle sich zum Stellplatz begeben, aber in Zivilkleidung. Mit einem Lastwagen wurden dann die SA-Leute zur Synagoge gebracht und sie bekamen den Befehl, diese anzuzünden. „Da“, so sagte der SA-Mann, „wußten wir erst, was gespielt wurde.“ Ich lief von Entsetzen gepackt, weg. Glauben Sie mir, ich konnte mich nicht daran beteiligen und ich habe es auch nicht getan.

Besonders tragisch war das Schicksal des Pferdehändlers X. und des Rechtsanwalts Y. Sie mußten ihre eigenen Möbel in die Volme schmeißen, die an ihrem Haus vorbeifließt. Nichts blieb heil. Zwei Spießbürger, die vorbeikamen, sagten laut genug, daß es andere hören konnten: „Himmel, schlimmer hätten es die Kommunisten auch nicht machen können.“ Am anderen Tag beobachtete ich eine Frau mit einem achtjährigen Mädel. Das Kind sagte zu seiner Mutter: „Sieh, Mutter, das haben schon wieder die Juden gemacht?“ Die Mutter aber meinte: „Komm hier weg, das waren keine Kommunisten, aber die Nationalsozialisten haben es getan.“ Dabei kamen ihr die Tränen. Die Bevölkerung lehnte die Pogrome im allgemeinen aufs schärfste ab.

Südwestdeutschland: Die fast 6-jährige „Rassenaufklärung“ hat noch nicht die gewünschte Wirkung gehabt. Das zeigte sich am besten im Verhalten der Bevölkerung vor und nach dem Novemberpogrom. Ich durfte als Kriegsteilnehmer meine ärztliche Praxis zunächst weiter ausüben und wurde erst 1937 aus der Reihe der Kassenärzte gestrichen. Aber was nun geschah - und andere Kollegen haben dasselbe erlebt -, muß als rühmendes Zeugnis für die Anständigkeit und Unverdorben- heit des deutschen Volkes festgehalten werden. Die Leute kamen weiter in die Sprechstunde und erklärten sich sogar bereit, die Kosten für die Behandlung zu bezahlen. Das Vertrauen zu ihrem Arzt war stärker als die Furcht vor dem Terror, und auch die Gefahr, die Leistungen der Krankenkasse zu verlieren, wirkte nicht abschreckend. Ich hatte bis zum 9. November 1938, also dem letzten Tag vor dem Pogrom, eine gut frequentierte Praxis. Selbstverständlich mußte man in vielen Fällen Entgegenkommen zeigen oder ganz auf die Honorare verzichten, aber das war kein Opfer angesichts des Risikos, das auf den Leuten lastete. In einem Fall wurde einem Arbeiter die Entlassung angedroht, wenn er weiter einen jüdischen Arzt besuche. Aber das schreckte ihn nicht ab, und er wurde tatsächlich entlassen. Infolge des Arbeitermangels kam er aber rasch wieder unter.

Als man uns am 10. November durch die Stadt prügelte, zollte auf dem ganzen Weg dieser Schande niemand Beifall, als die zu diesem Zweck abkommandierten Leute. Die Masse der Bevölkerung ließ ihre Abneigung gegen dieses Vorgehen sehr deutlich erkennen. Aus ihrem Verhalten, aus ihren Blicken sah man, daß sie uns sagen wollten: „Wir können nichts dafür, wir haben damit nichts zu tun, wir verurteilen diese Handlungen.“

Was für unsere Familien in diesen Tagen der Verzweiflung von anständigen Menschen getan wurde, gehört zum Schönsten, was menschliche Güte und Nächstenliebe bisher geleistet haben. Vielen Juden wurde durch diese geheime Hilfe in Wahrheit das Leben gerettet.

Nicht nur, daß man sie vor dem Verhungern bewahrte, es wurden auch Verfolgte versteckt gehalten, denen dann nichts mehr geschah, als der erste Lärm verklungen war.

Jetzt wissen natürlich alle noch in Deutschland lebenden Juden, daß ihr Schicksal besiegelt ist. Vielfach sind mehrere Familien beisammen oder helfen einander, bis die vorhandene Substanz aufgezehrt ist. Mit Ungeduld warten alle auf Nachrichten aus dem Ausland, wo Familienangehörige oder Bekannte sich bemühen, eine Auswanderungsgelegenheit ausfindig zu machen.

Hannover: Mitglieder der NSDAP erzählen in Hannover, daß zwei SS-Leute, die ersten Mitglieder der Partei im Vorort Limmer, zu je 6 Jahren Zuchthaus verurteilt worden seien, weil sie bei dem Pogrom aus einem Juweliergeschäft in der Adolf-Hitler-Straße Schmucksachen von erheblichem Werte gestohlen hätten. Die beiden SS-Leute sind tatsächlich nicht mehr zu sehen, aber es wird die Möglichkeit zugegeben, daß jenes Gerücht in Umlauf gesetzt wird, um die in weiten Kreisen herrschende Empörung über die November-Ausschreitungen zu beschwichtigen.

Über die Ausschreitungen in Hannover seien noch folgende Einzelheiten nachgetragen:

Sie begannen in der Nacht zum Donnerstag, dem 10. November um 2.30 Uhr gleichmäßig in allen Stadtteilen. Die jüdischen Geschäfte wurden nicht nur im Zentrum, sondern in allen Stadtgegenden zerstört, ebenso viele Privatwohnungen. Die Zerstörungsarbeit wurde ausschließlich von uniformierten SS-Trupps mit Beilen und Spitzhacken durchgeführt, die johlend durch die Stadt zogen. Viele Läden, vor allem Konfektionsgeschäfte, wurden geplündert und die Waren auf die Straßen geworfen. Vor dem Konfektionshaus Herzfeld, Große Packhofstraße und vor einem großen Schuhwarengeschäft am Neustädter Markt fuhren Lastwagen der NSV vor und beschlagnahmten die Waren angeblich für das Winterhilfswerk.

Um dieselbe Zeit, pünktlich 2.30 Uhr brach der Brand in der Synagoge aus. Das Feuer war weithin sichtbar, und es wurden viele Feuermelder in Tätigkeit gesetzt. Feuerwehr rückte an, sowie SA, SS und Technische Nothilfe. Die Feuerwehr machte jedoch keinen Versuch, das Feuer zu löschen, sondern beschränkte sich darauf, ein Ubergreifen des Feuers auf die benachbarten baufälligen alten Häuser zu verhindern. Morgens gegen 7 Uhr stellte sich heraus, daß das Feuer weniger Verwüstungen angerichtet hatte, als man erwartete; nur ein Teil der Synagoge war ausgebrannt. Um das Zerstörungswerk zu vollenden, nahm die Technische Nothilfe Sprengungen vor und riß die Wände des Gebäudes nieder, so daß nur ein Trümmerhaufen übrig blieb.

Ausschreitungen, wie sie anderwärts vorkamen, und bei denen kein einziges jüdisches Geschäft und kaum eine Privatwohnung verschont blieb, hat man in Hannover nicht erlebt. Nazis rechtfertigen den Umfang der Zerstörung damit, daß Grynszpan aus Hannover stamme. Man machte also die hannoverschen Juden in erster Linie für Grynszpans Tat verantwortlich. Außerdem gab man sich Mühe, nachzuweisen, daß Grynszpan mit illegalen politischen Kreisen Verbindung gehabt habe.

Die Empörung über das Vorgehen war außerordentlich groß, und es wurde ihr auch vielfach deutlich Ausdruck gegeben. Nationalsozialisten diskutierten offen mit Leuten, die sich darüber entrüsteten, und sie führen als „Entschuldigung“ an, daß Hitler die Pogromaktion nicht gebilligt habe, ja daß sie gegen seinen Willen geschehen sei. Sie erzählen, daß Himmler und Goebbels ihm von antisemitischen Einzelaktionen in Hessen-Nassau berichtet hätten. Hitler hätte von ihnen strengstens verlangt, daß diese Aktionen lokalisiert werden und nichts davon der Öffentlichkeit bekannt werden solle. Gegen Hitlers Willen hätten also Goebbels und Himmler die Ausschreitungen veranlaßt. Diese Erzählung hörte man immer wieder; es scheint, daß die Partei eine Anweisung zu ihrer Verbreitung gegeben hat. Man weiß zu gut, daß nichts gegen Hitlers Willen geschehen kann, als daß die so versuchte Entlastung Hitlers Erfolg haben könnte.

Schließlich liegen noch folgende Berichte über die Enteignung des jüdischen Vermögens vor:

Bayern: Am 22. April fand in München, organisiert von der Partei, eine Versteigerung aller Silbergegenstände statt, die im November beim Judenpogrom gestohlen worden waren. Jeder Münchner Händler mußte vor der Versteigerung mitteilen, bis zu welchem Betrage er sich an der Versteigerung beteiligen wolle. Der Mindestbetrag war 100,-RMk, der Höchstbetrag 15 000 RMk. Die Gesamtsumme des Ertrages ist nicht bekanntgeworden. Wertgegenstände aus Gold sind direkt nach Berlin weitergegeben worden, soweit diese Wertgegenstände den Weg aus den Taschen der SA in die Zentralparteistelle gefunden haben.

Schlesien, 1. Bericht: Als die jüdischen Geschäftsleute gezwungen wurden, ihre Unternehmungen zu liquidieren, führten sie Ausverkäufe durch, an denen sich besonders die Kinderreichen rege beteiligten. Die Käufer ahnten damals nicht, daß die Photographien, die gemacht wurde, als sie ins jüdische Geschäft einkaufen gingen, ihnen zum Verhängnis werden sollten. Jetzt werden alle die Familien, die ermittelt werden konnten, zur Volkswohlfahrt geladen. Ihnen wird bekannt gegeben, daß sie, die bisher von der Winterhilfe oder von der Unterstützung für Kinderreiche Nutzen gezogen haben, bis auf weiteres keine Unterstützung mehr erhalten würden, nachdem sie bei Juden eingekauft hätten.

2. Bericht: Nach der Wegnahme der Schmuck- und Wertsachen werden jetzt in Gleiwitz, Hindenburg und Beuthen Nachforschungen von der SS und SA geführt, ob noch irgendwo Wertsachen vorhanden sind.

Grundstücks- und Hausbesitzer werden genötigt, den jüdischen Bewohnern sofort die Wohnungen zu kündigen.

Diejenigen Juden in Oberschlesien, die sich zur Auswanderung verpflichtet haben, als sie nach der Novemberaktion aus dem Konzentrationslager entlassen wurden, müssen sich wieder alle drei Tage bei der Polizei melden. Aus Breslau wird dasselbe berichtet. Von dieser Meldepflicht werden in Oberschlesien nur die Juden erfaßt, die bereits Angehörige im Ausland haben.

In Beuthen und Gleiwitz wurden jüdische Hausbesitzer Anfang Mai aufgefordert, ihren Besitz sobald wie möglich zu verkaufen, sonst würden die Behörden diesen Verkauf, gleichviel zu welchem Preis, selbst vornehmen. In Hindenburg bot man einem Juden für sein Grundstück, das einen Wert von über 400 000 RMk hat, 75 000 RMk. an. Nach dem Verkauf dieses Grundstücks hat man Nachversteuerungen durchgeführt, so daß dem Besitzer nur 15 000 RMk auf der Stadtsparkasse gutgeschrieben wurden, die er wiederum nur in Raten von 250 RMk monatlich abheben darf, während der Mieteinnahmebetrag monatlich 4000 RMk betragen hat, da es sich um ein Geschäftshaus handelt.

Bei Juden, die Auslandspost erhalten, wird diese Post vielfach erst auf der Polizei ausgehändigt, wobei man über den Inhalt der Briefe Auskünfte einfordert und auch die Empfänger mit Strafen bedroht, wenn etwas Nachteiliges gegen das Regime in diesen Briefen enthalten ist.

d) Bericht aus Dachau

Ein österreichischer Jude, der während des November-Pogroms nach Dachau gebracht und dort über ein halbes Jahr in Haft gehalten worden ist, berichtet über seine Erlebnisse im Konzentrationslager:

Unsere Familie war seit vielen Jahrzehnten in einem österreichischen Landstädtchen ansässig. Wir hatten auch nach der Annexion Österreichs vonseiten der Bevölkerung kaum unter Antisemitismus zu leiden. Am 13. November erschienen Beamte der örtlichen Gendarmerie bei uns und baten mich in der höflichsten Weise mitzukommen. „Sie brauchen kein Gepäck mitzunehmen. Es handelt sich sicher nur um ein paar Fragen.“ Ich bin noch heute überzeugt, daß die Leute keine Ahnung hatten, was uns bevorstand. Auf der Gendarmeriestation erwartete uns SS. Von allen Seiten, auch aus den Nachbarorten, wurden verhaftete Juden eingeliefert. Man stellte kein Verhör mit uns an, sondern transportierte uns sofort nach Wien. Die meisten Verhafteten waren - wie ich - nie politisch tätig gewesen. Wir wurden auf dem Transport herumgestoßen und angeschrien und schlimmer als eine Viehherde behandelt.

Wir wurden zuerst in das Gebäude der SS, Rossauer Lände gebracht, dann auf die Gestapostelle Hahngasse. Von unserer Zelle aus konnte ich in den Hof sehen. Dort wurden Menschen gestoßen, geschlagen, mit Fauststößen traktiert. Das ging jeden Tag so bis in die späten Abendstunden. Nach vier Tagen brachte man uns zur ärztlichen Untersuchung. Der Arzt schaute jeden nur an und rief dem Protokollanten zu: „Haftfähig! Haftfähig!“ Es wurde von jedem ein Protokoll aufgenommen, wir mußten viele Fragen beantworten. Die Erlaubnis, das Schriftstück durchzulesen, erhielten wir nicht, wir mußten es ungelesen unterschreiben. Ein höherer Gestapobeamter fällte das Urteil: „Dachau!“ oder „Zurück!“ Es war unmöglich, dabei irgendein System zu erkennen. Frontkämpfer - Invaliden mit einem Bein - Leute, die ein Auslandsvisum in der Tasche hatten -, Familienväter und ganz junge Burschen - wurden ins Konzentrationslager geschickt, andere entließ man wieder ohne ersichtlichen Grund, auch unverheiratete, kräftige junge Leute. Ein junger Mann wurde eingeliefert, dessen beide Augen mit Blut gefüllt waren, so daß er sich nur vorwärts tasten konnte. Sie hatten ihn auf der Gestapo-Hauptstelle Morzinplatz so zugerichtet. Er konnte weder stehen, noch sitzen, noch essen, wurde aber für „dachaureif“ erklärt. Ein höherer Polizeibeamter, der ihn zu sehen bekam, hat sich weggewandt und ich habe deutlich gesehen, daß er weinte.

Am vierten Abend wurden wir mit dem sogenannten „grünen Heinrich“ nach dem Westbahnhof gefahren.Dort empfing uns SS mit Gewehr, Bajonett und Stahlhelm. Alte Leute, die nicht schnell genug nach dem Bahnsteig laufen konnten, wurden mit Kolbenschlägen vorwärtsgetrieben. Es stand ein Zug für uns bereit mit langen Schnellzugswag-gons. Jedes Abteil, das für 8 Personen bestimmt war, wurde mit 13 Mann belegt, fünf auf jeder Bank, drei am Boden. Vor jedem Abteil im Gang stand ein SS-Mann mit geladenem Gewehr. Wir fuhren von 6 Uhr abends bis 7 Uhr früh. Unser Bewachungsmann war etwa 16 Jahre alt. Er hatte Befehl, uns ständig ins Licht schauen zu lassen. Das war eine arge Tortur, man fühlte sich nach einiger Zeit wie betäubt und bekam Kopfweh. Der SS-Junge fühlte sich, glaube ich, nicht mal wohl in seiner Rolle. Er bemühte sich sogar, auf seine Weise nett zu uns zu sein. Aber als ein Vorgesetzter vorbeikam, hat der Sechszehnjährige ganz unvermittelt einen älteren Häftling in unserem Abteil geohrfeigt.

In den anderen Wagen ist es viel schlimmer zugegangen. Dort wurden Kolbenstoße ausgeteilt, und mit der Begründung, die Gefangenen hätten „gemeutert“ verübte die SS schwere Mißhandlungen. Ich weiß genau, daß auf der Fahrt mindestens acht Mann erschlagen und erschossen worden sind. Möglich, daß es mehr waren.

Um 7 Uhr früh kamen wir in Dachau an. Dort erwartete uns deutsche SS. Die Fahrt nach dem Lager ging in Güterwagen vor sich. „40 Mann oder 6 Pferde.“ Wir waren 200 in unserem Wagen. Alle Lüftungsklappen waren geschlossen. Obgleich die Fahrt nicht lange dauerte, kam es zu entsetzlichen Szenen, weil viele schon von der Reise völlig zerrüttet waren. Zwei Mann in unserem Wagen wurden wahnsinnig, recht bei Sinnen war keiner von uns. Dann kam der Befehl: „Aussteigen!“ Die zwei Irrsinnigen weigerten sich. Sie wurden von SS-Leuten aus dem Wagen gezerrt und fortgeschleift. Der Vertreter des Lagerkommandanten Kannschuster - Grünewald - hielt uns eine Rede: „Ihr wißt, warum Ihr hier seid. Ihr braucht nicht zu glauben, daß Ihr hier als Menschen behandelt werdet. Ihr seid keine Menschen.“

Aus den Reihen sprang ein jüdischer Häftling heraus und schrie: „Laßt das nicht zu! Wir sind Menschen! Wir sind Menschen!“

Ein SS-Offizier ging langsam auf den Mann zu. Der rief ihm entgegen: „Ich gehe nicht lebend ins Lager, ich bin Frontkämpfer, ich habe für Deutschland gekämpft und bin für Deutschland verwundet worden.“

Der SS-Offizier versuchte, den Mann anzupacken. Als sich dieser wehrte, wurde er sofort niedergeschossen und weggeschleift, ebenso ein zweiter, der gleichfalls etwas rief, was ich nicht verstehen konnte, und auf den Offizier zusprang.

Wir wurden durch das Tor ins Lager geführt. Es war ein unvorstellbares Gedränge. An diesem Tage sind 2000 Juden in Dachau eingeliefert worden. Wir mußten zur Namensverlesung antreten. Einer, der nicht sofort „Hier!“ gerufen hatte, wurde auf einen Bock geschnallt und bekam 25 Stockhiebe. Gleich darauf ein Zweiter. Der hob die Hand - ich weiß nicht, ob zur Abwehr oder um den SS-Mann anzugreifen. Er wurde zu weiteren 25 Hieben verurteilt. Ich wundere mich heute noch, daß er am Leben geblieben ist.

Nach dem Namensaufruf standen wir viele Stunden umher. Kleine Trupps wurden abgeholt, ins Bad geführt, eingekleidet und auf ihre Blocks verteilt. Früh gegen 8 Uhr waren wir angekommen, nachmittags gegen drei hieß es: „Wer etwas zu essen mit hat, darf essen.“ Für 2000 Leute wurde ein einziger Kübel Wasser gebracht. Bis abends 6 Uhr standen wir so. Einige fielen um und wurden mit Wasser angeschüttet. Unter uns war der junge Mann, der von der Wiener Gestapo so zugerichtet worden war und von dem ich anfangs schon erzählt habe. Der ist umgefallen und war sofort tot. Ein bekannter Wiener Arzt, der auch mit uns gemeinsam verhaftet worden war, hatte Gelegenheit, ihn rasch zu untersuchen. Er stellte u. a. mehrere Rippenbrüche fest. Die SS-Leute luden den Leichnam auf einen Wagen und führten ihn fort. Einer von den zwei Irrsinnigen aus unserem Wagen lief frei auf dem Hof herum. Er ging auf den Ausgang zu und verstand offenbar gar nicht, warum die Wachen ihn anriefen. Er ist von einem Maschinengewehrturm aus erschossen worden.

Endlich führte man uns in den Duschraum. Wir wurden gewogen, gemessen und der üblichen flüchtigen „ärztlichen Untersuchung“ unterzogen. Dann erhielten wir die Monturen. Juden und auch die sudetendeutschen Häftlinge, bekamen die sogenannten „Sommermonturen“, Hemd, dünnen Wollsweater, Drillichhose. Im übrigen hat jeder Gefangene sein Zeichen. Ich will sie hier aufzählen, weil man daran gleichzeitig die Zusammensetzung der Belegschaft erkennt:

Es gibt auf die Spitze gestellte Dreiecke in verschiedenen Farben, und zwar bedeutet:

rot                                                   politischer Häftling
violett                                            Bibelforscher
blau                                                 Rückwanderer
weiß mit schwarzem Rand         Rassenschänder
rosa                                                 Homosexueller
schwarz                                         von der Gemeinde als arbeitsscheu Eingelieferter
braun                                             Asozialer
grün                                               Krimineller

Die Juden tragen ein rotes Dreieck auf der Spitze, darunter ein gelbes auf der Basis. Über dem Dreieck ein Streifen in gleicher Farbe bedeutet: rückfällig; ein roter Punkt in weißem Feld: fluchtverdächtig, ein roter Punkt auf weißem Feld: Strafkompagnie.

Am meisten litten wir in der ersten Zeit nach unserer Einlieferung unter der Überfüllung des Lagers. Je 200 Mann wurden in einer Stube untergebracht, die im Höchstfälle, wenn die Betten drei Etagen stehen, für 78 Mann bestimmt ist. Eine „Stube“ besteht jeweils aus Tages- und Schlafraum, 4 Stuben bilden einen Block. Ein „Block“ ist eine Baracke von etwa 100 Meter Länge. 30 solcher Baracken befinden sich im Lager. Je zwei Stuben benützen gemeinsam Eingang, Waschraum und Klosetts. In dieser Zeit der Überfüllung standen für 400 Mann etwa 8 „Springbrunnen“ im Waschraum zur Verfügung und etwa 8 Klosetts. Also alles völlig unzulänglich. Die Uberfüllung dauerte bis Mitte Januar, dann leerte sich die Stube langsam, und als wir vor meiner Entlassung mehr Raum und auch mehr Decken hatten, erschien uns alles erträglicher.

Die Tageseinteilung sah so aus:

Um 5 Uhr früh aufstehen, Frühstück: schwarzer Kaffee ohne Zubiß.

¼ 7- ½ 7 Uhr Zählappell und Arbeitseinteilung. Anfangs arbeiteten nur die Arier im Außendienst, die Juden wurden in die Blocks zurückgeführt, in kleine Gruppen eingeteilt und mußten bis ½ 12 Uhr exerzieren. 200 Häftlinge hatten jeweils Küchendienst, außerdem gab es 2 bis 3 SS-Köche.

½ 12 Uhr Essenausgabe. Die Kost war nicht schlecht zubereitet, aber völlig unzureichend. Es gab meist Hülsenfrüchte, Erdäpfel usw., manchmal Fischgulasch, sehr selten Fleisch.

½ 2 Uhr aufmarschieren, 1 Stunde exerzieren.

½ 3-5 oder 6 Uhr Arbeit.

Zwischen 5 und 6 Uhr (je nach der Jahreszeit) Abend-Zählappell, dann eine Stunde Freizeit, Essen in der gleichen Qualität wie mittags, um 8 Uhr Nachtruhe.

Wir waren ständig hungrig. Wer Geld hatte, konnte in der Kantine allerlei kaufen, und zwar zu den normalen Tagespreisen. Die Häftlinge haben sich bemüht, gerecht untereinander zu teilen. Während das Lager überfüllt war, bekamen wir sehr wenig Brot, später hat sich das etwas gebessert.

Zunächst haben nur die Arier im Außendienst gearbeitet. Die sogenannten „Wirtschaftskommandos“ waren in Bäckerei, Küche, Schneiderei, Schreinerei, Kesselhaus usw. beschäftigt. Erst etwa im Februar begann man auch Juden im Außendienst zu verwenden. Bis dahin hatten sie viele Lagerarbeiten zu verrichten, Schnee schaufeln, Baracken reinigen, Löcher auf den Lagerstraßen auffüllen usw. Die Arbeit selbst war erträglich, wenn nicht gerade ein besonders unangenehmer SS-Aufseher die Arbeitenden antrieb und peinigte. Bei solchen Gelegenheiten ist auch öfters geschlagen worden, nicht nur von SS-Leuten, sondern auch von arischen Mithäftlingen, meist Kriminellen. Die Vorarbeiter, die sogenannten Kappos waren überhaupt in mehr als einer Beziehung gefürchteter und gehaßter als die SS selbst.

Dicht neben dem Konzentrationslager befindet sich ein großes SS-Lager. Dort geht es ganz militärisch her, die Leute werden sehr gedrillt, und wir hatten den Eindruck, daß sie durchaus nicht zufrieden sind. Die meisten Bewachungsposten haben keine Freude daran, Menschen zu quälen. Fünf bis sechs Schinder mag es im ganzen gegeben haben. Mißhandlungen - so wie wir sie in den ersten Tagen nach der Einlieferung und bei der Einlieferung selbst erlebt haben - waren im allgemeinen selten.

Eine besondere Strafe war das Anbinden. Dabei wurden die Häftlinge, mit den Händen nach rückwärts, an einen Pfahl oder Baum gefesselt, möglichst so hoch, daß sie nur auf den Fußspitzen stehen konnten. Dieses Anbinden besorgte ein krimineller Fiäftling, der gleichzeitig Aufseher im Bunker war. Die arischen Gefangenen erzählten, er sei ein Lustmörder. Jedenfalls nannten wir ihn allgemein so. Natürlich will ich mir diese Behauptung nicht zu eigen machen, ich habe sie nicht nachprüfen können. Ich weiß nur eines bestimmt: daß der „Lustmörder“ entlassen werden sollte und gebeten hat, ihn im Lager zu behalten, da er „sich im bürgerlichen Leben nicht mehr zurechtfinde“. Er genoß unerhörte Begünstigungen. Übrigens pflegte er auch die Tiere des Lagerkommandanten, einen Hund und einen Affen, zu denen er sehr gut war.

Neben dem „Anbinden“ gab es noch die Bunkerstrafe, das ist Dunkelhaft in Einzelzellen, Strafexerzieren, Strafstehen (vor allem in der Freizeit), Essenentzug, bei scharfer Kälte stehend im Freien essen usw. Wie es den Leuten im Bunker ergangen ist, weiß ich nicht. Der Bunker liegt abseits hinter der Küche, wir sind nicht mit den Leuten in Berührung gekommen. Ich weiß aber, daß auch SS- und SA-Leute strafweise dort waren.

Ich sagte schon, daß die Bewachungsmannschaft keine ausgesprochene Freude am Quälen hatte. Bezeichnend für die Einstellung dieser Leute erscheint mir der Ausspruch eines jungen SS-Mannes. Er wurde von den Häftlingen gefragt, ob man einem Mithäftling nicht gewisse Erleichterungen gewähren könne. Der Mann sei Frontkämpfer gewesen, er sei alt und krank. „Helfen Sie ihm im Namen der Menschlichkeit!“ sagte ein jüdischer Gefangener. Der SS-Mann antwortete in schnarrendem Ton: „Bei uns gibt es keine Menschlichkeit; bei uns gibt es nur Disziplin. Ihr braucht nicht zu glauben, daß wir besser behandelt werden.“

Gelegentlich kommt es sogar vor, daß so ein junger SS-Bursche den Wunsch verspürte, uns eine Freundlichkeit zu erweisen. So ganz ohne einen Funken „Menschlichkeit“ waren die Leute also doch nicht, wenn sie es auch selbst nicht wahr haben wollten. Auf dem Appellplatz hustete z. B. ein Häftling sehr stark. Als der SS-Posten auf ihn zuging, versuchte er den Husten ängstlich zu unterdrücken. Der SS-Mann trat heran und fragte: „Du bist verkühlt?“ - „Ja, starken Husten und Schnupfen.“ Darauf gab ihm der Posten eine Handvoll Hustenbonbons und ging dann möglichst schnell weg. - Ein andermal sind wir beim Turm vorbeimarschiert. Die Dienstfreien spielten in der Stube Karten. „Abteilung halt! Habt Ihr Hunger?“ „Jawohl!“ - „Stehen bleiben!“ Und sie reichten uns ihr Brot zu. Solche Ausnahmefälle wurden von den Häftlingen mit maßlosem Staunen quittiert, und ich hatte den Eindruck, daß die jungen SS-Leute über sich selbst genau so erstaunt waren wie die Häftlinge.

Es existierte ein Befehl des Lagerkommandanten: „Wenn ein Häftling sich das Leben nehmen will, so ist es bei Strafe verboten, ihn davon abzuhalten.“ - Einmal sah ich an einem Wintermorgen einen jüdischen Häftling einsam über den Appellplatz gehen. Ein SS-Mann kam auf ihn zu: „Was machst Du da?“ - „Herr Blockführer, ich will nicht mehr, ich habe keine Chance, entlassen zu werden, ich gehe nach dem Turm und laß mich erschießen.“ - „Kehrt Euch! Marsch, nach Haus.“ Der Mann machte wirklich befehlsgemäß kehrt und der junge SS-Mann blieb sehr lange auf dem Fleck stehen und sah ihm nach. Ich weiß nicht, was in ihm vorgegangen ist, ich weiß aber, daß der Häftling ohne sein Dazwischentreten den Todesweg bestimmt fortgesetzt hätte. Einige Lebensmüde haben während meiner Haftzeit diesen Weg des Selbstmordes gewählt. Er war am sichersten und am einfachsten.

Sehr schlecht waren die Kranken daran, und Kranke gab es im Lager übergenug. Vor allem war in den kältesten Monaten die Kleidung viel zu dünn. Nur vorübergehend bekamen wir Mäntel, die uns ebenso wie die Wollwesten gleich nach Weihnachten wieder abgenommen wurden. Eine Zeitlang gab es in der Kantine Ohrenschützer zu kaufen. Dann wurde das Tragen dieser Ohrenschützer verboten und sie mußten abgeliefert werden, natürlich ohne daß jemand das Geld zurückbekam, das die SS in der Kantine dafür kassiert hatte.

Mitte Dezember hatte schon die Hälfte der Gefangenen teils leichte, teils mittelschwere Erfrierungen. Grippeerkrankungen gab es natürlich in Massen. Wer sich krank fühlte, mußte sich beim Rapportführer melden. Der entschied, ob er einen Kranken oder einen „Simulanten“ vor sich hatte. Der Mann hatte keine Ahnung von medizinischen Fragen. Wer am Rapportführer glücklich vorbei war, kam im Spital erst mal zu einem jungen SS-Mann, den niemand von uns für einen Arzt hielt, obgleich er es gewesen sein mag. Der schaute die Kranken wieder nur an und „siebte“ wieder. Wer sich krank meldete, kam frühestens am Morgen des folgenden Tages zu einem Lagerarzt. Wer aber das Pech hatte, Freitag nacht oder samstags zu erkranken, der sah den Arzt keinesfalls vor Montag früh.

Ich weiß, daß Leute mit 40 Grad Fieber so lange als „Simulanten“ bezeichnet worden sind, bis sie zusammenbrachen. Ein Mithäftling bekam eine Geschwulst am Halse mit starker Eiterung. Der SS-Arzt, der ihn untersuchte, sagte: „Es liegt nichts vor.“ Der Mann hat die ganze Nacht in der Baracke schwere Erstickungsanfälle gehabt. Am nächsten Tag hat ihn ein Universitätsprofessor, der auch unter den jüdischen Häftlingen war, mit den primitivsten Instrumenten operiert. Der Mann wäre sonst zugrundegegangen wie viele andere, die in den Baracken elend und ohne ärztliche Hilfe verendet sind. Sie wurden am Morgen auf Wagen gepackt und weggefahren. Man sagt, die Leichname seien alle verbrannt worden.

Eine Zeitlang versuchten die im Lager inhaftierten Pfarrer und Rabbiner zu den Sterbenden vorzudringen, die nach ihnen verlangten. Das wurde aber untersagt. Ebenso war es den Christen verboten, am Sonntag Gottesdienst abzuhalten, und den Juden, am Freitag abend zu beten.

Ich selbst bin dadurch freigekommen, daß ich mir beim Strafexerzie-ren eine schwere Verletzung am Knie zuzog, die mich arbeitsunfähig machte und mich heute noch am Laufen hindert. Da wir uns im Schlamm dauernd niederwerfen mußten, war die Wunde schon am selben Abend schwer verschmutzt. Ich kam aber wie üblich erst am zweiten Tag zum SS-Arzt, der kaum hinsah, nur etwas Salbe auf die Wunde schmierte und mich verbinden ließ. Am vierten Tag sah das Bein sehr schlimm aus, und der SS-Arzt konstatierte: „Schlamperei des Häftlings. Morgen amputieren.“ Wieder kam Salbe auf die Wunde, und wieder wurde ich entlassen. Auch mich hat ein Mithäftling, ein ausgezeichneter Arzt, heimlich behandelt mit sehr primitiven Instrumenten. Es hat arg weh getan, aber am nächsten Tag verkündete der SS-Arzt stolz: „Es muß nicht amputiert werden, den Mann haben wir gerettet.“ Ich glaube, er hat wirklich nicht gemerkt, daß ein anderer Arzt die Wunde behandelt hatte.

In Wien auf der Gestapo mußte ich vor meiner Ausreise nochmals zum Verhör. Ein Beamter ließ sich die Wunde zeigen und sagte: „Na, alsdann. Wir haben’s schon lieber, wenn solche Leute wie Sie im Lager sterben. Die draußen glauben Euch Juden zwar eh nix mehr - aber wenn einer halt was zeigen kann . . Damit meinte er die Wunde. Er hat das alles ganz freundlich und mit der größten Selbstverständlichkeit gesagt. Es war der letzte Eindruck, den ich aus Deutschland mitnahm.

 

3. Flüchtlinge ohne Asyl

Für die Juden, die den Verfolgungen in Deutschland glücklich entronnen sind, ist der Leidensweg gewöhnlich nicht zu Ende. Die anderen Länder wehren sich dagegen, die völlig Mittellosen aufzunehmen und bestrafen die illegal Eingereisten mit Ausweisung und Gefängnis. Einige überseeische Staaten haben die Einreise völlig gesperrt.

a) Juden im Niemandsland

Bereits in unseren Berichten aus dem November und Dezember 1938 haben wir das tragische Schicksal der aus Deutschland vertriebenen Juden polnischer Herkunft geschildert. Im Dezember-Bericht hieß es u. a.:

„Von den Juden polnischer Herkunft, die von den Nationalsozialisten in der Nacht vom 27. zum 28. Oktober über die polnische Grenze abgeschoben worden sind, sitzen noch heute hunderte in elenden Notquartieren an der polnischen Grenze bei Zbaszyn. Man läßt sie nicht ins Innere Polens, und nach Deutschland gibt es natürlich kein Zurück. Die Unglücklichen leiden Hunger und Kälte; zwölf von ihnen sind wahnsinnig geworden und mußten in eine Anstalt überführt werden. Epidemien haben Todesopfer gefordert.“

Inzwischen hat sich die Not der Vertriebenen ständig gesteigert, und es sind ständig neue hinzugekommen. Im Flüchtlingslager Zbaszyn befanden sich Anfang Juni 3600 Juden. Im sogenannten Niemandsland zwischen der deutschen und der polnischen Grenze irren gleichfalls tausende von Juden umher. Der englische Abgeordnete Stokes nannte am 6. Juli im Unterhaus die Ziffer 4000. In Polen befinden sich zur Zeit 16 000 Juden, die seit September 1938 aus Deutschland vertrieben wurden und von denen rund 12 000 auf Unterstützungen angewiesen sind. Die Kassen der Warschauer Flüchtlingskomitees sind völlig erschöpft. Wir haben folgenden Bericht aus Schlesien erhalten:

Jüdische Familien im Industriegebiet erhielten in den letzten Tagen wiederholt Besuche der Polizei oder mußten sich bei der Gestapo melden. Man befragte sie, wann sie endlich aus Deutschland auswandern wollen. Hatte die eine oder andere Familie nichts in der Hand, um nachweisen zu können, daß man sich um eine Auswanderung bemüht, so wurde ihnen aufgegeben, daß sie sich bereit halten sollte, da sie in den nächsten Tagen über die Grenze abgeschoben würde. Bei dieser Gelegenheit verwies man sie darauf, daß sie nicht berechtigt sind, in der bisherigen Wohnung zu verbleiben. Sie sollten Zusehen, daß sie außerhalb der Ortschaft Aufenthalt fänden, sonst werde man sie einfach vor die Stadt setzen.

Seit Mitte Juni kann man entlang der polnischen Grenze solche Judentransporte, Männer und Frauen, Kinder und Greise, beobachten, die man gewaltsam über die Grenze nach Polen zu vertreiben sucht.

Man macht auch von Waffen Gebrauch, teils ist es eine Mannschaft der SA oder des sogenannten Grenzschutzes, teils aber auch Polizei. Solche Gewalttransporte wurden festgestellt bei Lublinitz mit etwa 100 Personen, an der Beuthener Grenze nach Chorzow zu mit etwa 200 Personen, bei Beuthen nach Radzionkau zu mit ca. 80 Personen, bei Kunzendorf in der Nähe von Hindenburg 150 Personen, in der Rybniker Gegend mit etwa 80 Personen; alles im Juli.

Nur wenige Personen konnten in Polen Aufenthalt finden, die meisten jüdischen „Auswanderer“ wurden von der polnischen Polizei wieder auf deutsches Gebiet zurückgeschickt.

Es spielten sich hierbei Schreckensszenen ab, denn auf deutscher Seite wurden die Juden mit Prügeln und Schüssen empfangen. Schließlich ließ man sie an der Grenze liegen, ohne sie irgendwie zu verpflegen. Man fing sogar die Deutschen - meist Landfrauen - ab, die diesen Vertriebenen Speisen und Wasser bringen wollten.

b) Die Flüchtlingsschiffe

In eine andere Art „Niemandsland“ geraten die jüdischen Flüchtlinge, und zwar abermals zu vielen tausenden, auf hoher See. Aus allen Häfen gejagt, außerstande, ihre verzweifelnde menschliche Fracht wo immer in der Welt an Land zu setzen, kreuzen die „Geisterschiffe“ auf den Meeren. Lebensmittel, Trinkwasser und Kohle werden knapp, die Passagiere werden von ansteckenden Krankheiten befallen, die Selbstmorde mehren sich. Hilferufe werden nach allen Seiten gefunkt, aber nur selten wird Hilfe gewährt. Einige Beispiele:

„Flandre“ hatte etwa 100 Flüchtlinge aus Deutschland an Bord. Cuba und Mexiko verweigerten die Landung. Am 19. Juni ist das Schiff nach wochenlanger Irrfahrt im Hafen von St. Nazaire (Bretagne) gelandet.

„St. Louis“, ein Hapag-Dampfer mit 937 Flüchtlingen an Bord, konnte in Cuba nicht landen, weil die cubanischen Visa der Passagiere sich nicht als gültig erwiesen. Amerika lehnte eine sofortige Aufnahme dieser Flüchtlinge ab. Endlich, nach einer wochenlangen Irrfahrt des Schiffes erklärten sich die Regierungen von England, Frankreich und Belgien damit einverstanden, daß die Passagiere auf ihre Länder verteilt würden.

„Orinoko“ befand sich mit 200 jüdischen Flüchtlingen etwa um die gleiche Zeit auf der Fahrt von Deutschland nach Cuba. Im Hafen von Cherbourg erreichte sie aus Berlin der funkentelegrafische Befehl: „Sofort zurück nach Hamburg!“ Mehrere Flüchtlinge versuchten, ins Meer zu springen. „Orinoko“ ist das erste Schiff, das zwangsweise nach Deutschland zurückbeordert worden ist, und zwar unter Hinweis auf das Aufsehen, das das Schicksal der St. Louis erregt hat.

„Usaramo“ irrte mit 500 jüdischen Flüchtlingen, darunter mehrere Ärzte, Anwälte, Schriftstellern, sechs Wochen auf dem Meer umher und nahm dann Kurs nach Shanghai. Die Unterbringung auf dem Dampfer war denkbar schlecht. Die Flüchtlinge durften die Baderäume nicht benutzen.

„Orbita“ mit 68 jüdischen Flüchtlingen durfte in Ecuador nicht landen und lag lange Zeit in Balboa, Panama-Kanal-Zone, in Quarantäne. Endlich bekamen die Passagiere die Erlaubnis, in Panama an Land zu gehen, wo sie für drei Monate Aufenthaltsbewilligung erhielten. Nach Ablauf dieser Frist müssen sie, sofern sie nicht von Amerika aufgenommen werden, nach Europa zurückkehren.

„Cap Norte“ hat mit 15 Flüchtlingen an Bord am 28. April Flamburg verlassen, und zwar mit dem Ziel Südamerika. Paraguay, Uruguay, Argentinien verweigerten die Landung. Am 26. 6. landete das Schiff in Boulogne sur mer. Die Passagiere wurden vorübergehend in Frankreich aufgenommen.

Auf dem Motorschiff „Monte Olivia“ der Hamburg-Südamerika Linie befanden sich 78 jüdische Passagiere, die eine Einreiseerlaubnis nach Paraguay hatten. Aber Uruguay verweigerte Landung und Durchreise. Die Passagiere durften nach wochenlanger Unsicherheit am 15. Juni in Buenos Aires an Land gehen, wo sie Aufenthaltsgenehmigung für 20 Tage erhielten. Schließlich nahm Chile sie auf.

„Prosula“ mit 65 Flüchtlingen, meist aus der Tschechoslowakei stammend, verließ am 25. Juni den Hafen Sulina (Donaumündung) mit dem Ziele Shanghai. Unterwegs gingen Geld und Lebensmittel aus. Das Schiff lief den ersten besten Hafen an, und zwar den nordlibanesischen Seehafen Tripoli. Die Behörden des Libanon beschlossen Mitte Juni, die Passagiere zuzulassen.

„Dora“, ein alter griechischer Kohlendampfer, verließ unter der Flagge von Panama reisend mit 500 jüdischen Flüchtlingen an Bord am 17. Juni Amsterdam, angeblich um nach Siam zu fahren. Tatsächlich irrt er heute noch auf dem Meer umher. Unter den Passagieren, die zum größten Teil deutsche Juden sind, befinden sich zahlreiche Frauen und Kinder.

Auf dem italienischen Dampfer „Fressula“, der 658 tschechisch-jüdische Flüchtlinge an Bord hat, brach die Pest aus. Zwei Passagiere starben daran. Der französische Hochkommissar für Syrien gestattete der Fressula für kurze Zeit im Hafen von Beirut in Quarantäne zu gehen. Nach der Desinfektion des Schiffes wurden die Passagiere, die vorübergehend an Land gegangen waren, sofort wieder auf den Dampfer zurückgebracht. Die Abreise wurde auf Ende Juli festgesetzt. Das weitere Schicksal der Fressula-Flüchtlinge ist ungewiß.

„Osiris“ mit 600 Flüchtlingen ankert gegenwärtig vor der syrischen Küste. Sechs Wochen lang hat das Schiff nach einer Landungsgelegenheit gesucht. Die Lebensmittelvorräte waren schon lange erschöpft. Bis jetzt ist noch keine Entscheidung über das Schicksal der Passagiere gefallen.

„Thessalia“ mit 550 Flüchtlingen ist vor Beirut von einem libanesischen Küstenwachtboot gestellt und gezwungen worden, die syrischen Hoheitsgewässer zu verlassen. Tripoli verweigerte die Landung. Der Dampfer irrt weiter auf hoher See umher.

Am 2. März 1939 sind 424 Danziger Juden in plombierten Waggons nach einem rumänischen Hafen überführt worden. Ein kleiner griechischer Dampfer sollte sie illegal nach Palästina bringen. Britisches Militär hat die Landung verhindert. Speisevorräte und Trinkwasser waren zu jener Zeit schon sehr knapp. 13 Wochen lang irrte das Schiff auf dem Meer umher. Endlich sind die Vertriebenen auf der griechischen Insel Kreta abgesetzt worden. Sie sind ohne Kleidung und Schuhwerk, leiden unter Hunger und epidemischen Krankheiten, werden von Ratten und Ungeziefer fast zerfressen. Einige Flüchtlinge sind bereits gestorben.

Am 28. Juli meldete die „Times“:

Etwa 900 jüdische Flüchtlinge aus Mitteleuropa, die vor 3 Wochen auf einem jugoslavischen und einem ungarischen Dampfer in Rustschuk, Bulgarien, ankamen und denen die Landungserlaubnis verweigert wurde, sind jetzt auf denselben Schiffen nach Sulina, Rumänien, abgereist. Sie hoffen, daß sie von dort aus imstande sein werden, irgendwo im Mittelmeer einen Zufluchtshafen zu finden.

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