Unter diesen Erlaß fallen selbst die Eheringe und die kleinen Erinnerungsstücke. Aber auch bei dieser Anordnung blieb es insofern nicht, als die Abgabefrist vom 7. bis zum 31. März verlängert wurde, weil die Pfandleihanstalten der Aufgabe organisatorisch nicht gewachsen waren und es vielen Juden selbst nach vielstündigem Warten nicht gelang, die enteigneten Werte loszuwerden. - Inzwischen sind einige Ausnahmen zugelassen worden. Zum Beispiel braucht ein Jude oder eine Jüdin, die in einer Mischehe leben, Wertgegenstände nicht abzuliefern, wenn die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder nicht als Juden betrachtet werden, wohl aber sind sie abgabepflichtig, wenn die Kinder jüdisch sind.
Die zweite Rate der Milliardenbuße, die bis zum 15. Februar fällig war, hat dem Reich viel weniger bares Geld eingebracht als die erste. In der Hauptsache ist Effekten- und Immobilienbesitz der wenigen noch bemittelten Juden zugunsten des Reiches abgeschrieben worden.
Seit Dezember 1938 sind verschiedene Durchführungsverordnungen und „Anordnungen zu Durchführungsverordnungen“ über die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft und über den Einsatz des jüdischen Vermögens herausgekommen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um technische Anordnungen, wie die völlige Enteignung der noch im Reiche lebenden Juden zu bewerkstelligen sei. Trotz der Breite dieser Erlasse herrschen noch immer reichlich viele Unklarheiten, und man gewinnt den Eindruck, daß die führenden Stellen dem eigenen Raubzug organisatorisch nicht recht gewachsen sind. Wir geben zur Kennzeichnung einige Bestimmungen aus dem Durchführungserlaß des Reichswirtschaftsministers über den Einsatz des jüdischen Vermögens wieder, der am 15. Februar 1939 im Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Innenministeriums (Ausgabe A) erschienen ist:
„Die Verordnung brachte u. a. die Neuerung, daß Entjudungen auch zwangsweise durchgeführt werden können. Hierzu wird, vorbehaltlich einer Sonderregelung für den land- und forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitz, angeordnet, daß die Anwendung von Zwangsmitteln sich vorläufig nur auf die Entjudung gewerblicher Betriebe und dazugehörender Betriebsgrundstücke beschränken soll. Nachdem die Juden aus dem Einzelhandel, selbständigen Handwerk und Marktverkehr bereits allgemeine ausgeschieden worden sind, sei es nunmehr Aufgabe der höheren Verwaltungsbehörden, mit Hilfe ihrer Vollmachten im Benehmen mit den zuständigen Parteistellen dafür zu sorgen, daß diejenigen Betriebe des Großhandels und der Industrie, die noch heute gemäß Reichsbürgergesetz wegen maßgebender jüdischer Beteiligung als jüdische Gewerbebetriebe gelten, in volkswirtschaftlich vernünftiger Weise entjudet werden. Von einer zwangsweisen Entjudung solcher Minderheitsbeteiligungen, die den Gewerbebetrieb nicht zu einem jüdischen machen, sowie von zwangsweiser Überführung jüdischen Streubesitzes an Aktien und sonstigen Wertpapieren sei vorläufig abzusehen. Ebenso ist, wie der Erlaß bestimmt, die zwangsweise Gesamtentjudung des nicht land- oder forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes nach ausdrücklicher Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan im Augenblick noch nicht in Angriff zu nehmen. Die Durchführung dieser Aufgabe wird zentral angeordnet, sobald die Entjudung der gewerblichen Wirtschaft zu einem gewissen Abschluß gekommen ist.
Schließlich wird die Beteiligung der Partei an dem Entjudungsverfah-ren durch Einschaltung des Gauleiters der NSDAP geregelt.“
Über den Erfolg der Arisierungsaktion veröffentlichte die „Frankfurter Zeitung“ vom 26. Januar 1939 einen Bericht, in dem es hieß:
„Die Auflösung des jüdischen Einzelhandels und der Übergang in arischen Besitz war in der Hauptsache mit Beginn dieses Monats abgeschlossen. Abgesehen von geringfügigen Berichtigungen nach dem endgültigen Stand kann man, wie in der Zeitschrift des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller' mitgeteilt wird, jetzt feststellen, daß von den 3750 jüdischen Einzelhandelsunternehmungen, die am 1. August in Berlin noch gezählt wurden, 1200 als zur Arisierung geeignet befunden wurden. Jedoch sind nur 700 in deutsche Hände übergegangen. Für 500 fanden sich keine Bewerber, so daß in Berlin insgesamt 3050 Einzelhandelsgeschäfte zu bestehen aufgehört haben.“
Neben den hier angeführten reinen Enteignungsmaßnahmen sind weitere Maßnahmen zur völligen Ausschaltung der Juden aus dem Berufsleben, zu ihrer Entrechtung auf juristischem Gebiet und zur Vernichtung des jüdischen Kulturlebens getroffen worden. Am 31. Januar sind die Bestallungen bzw. Approbationen der jüdischen Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker erloschen. Den jüdischen Ärzten war die Bestallung bereits mit Wirkung vom 30. September 1938 entzogen worden. Darüber hinaus ist den Juden die Ausübung der Heilkunde einschließlich der Zahnheilkunde und der Tierheilkunde überhaupt verboten. Als Hilfskräfte in der Gesundheitspflege sind die Juden auf die Betreuung ihrer „Rassengenossen“ beschränkt.
Am 3. Januar 1939 hat der Reichswirtschaftsminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern bestimmt, daß Juden zu den gesetzlichen Prüfungen der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern nicht zugelassen sind. Auswandernden Juden können jedoch Arbeitsbescheinigungen und Bescheinigungen über ihre Berufsausbildung mitgegeben werden.
Das Gesetz zur Änderung familienrechtlicher Vorschriften vom April 1938 gibt eine Handhabe dazu, adoptierte Kinder ihren Adoptiveltern zu entziehen, wenn „die Vertragsparteien verschiedenen Rassen angehören, also ein Vertragsteil Jude oder mit einem Juden verheiratet, der andere deutschblütig oder Mischling zweiten Grades ist“. Auf Grund dieser Bestimmungen hat Reichsjustizminister Dr. Gürtner den Amtsgerichten jetzt Anweisungen für eine Überprüfung der Kindesannahmeverhältnisse erteilt.
Allen deutschen „Rechtswahrern“, gleichgültig, ob sie der NSDAP angehören oder nicht, ist seit dem 7. 1. 1939 die Vertretung von Juden grundsätzlich verboten. In der Anordnung des Reichsleiters heißt es:
„Anträgen auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll nur dann stattgegeben werden, wenn einer der folgenden fünf Fälle gegeben ist: 1. Vertretung und Beratung in Rechtsangelegenheiten, in denen der Jude zwar Partei ist, die Inanspruchnahme des Rechtswahrers aber durch ein deutsches Versicherungsunternehmen erfolgt; 2. Vertretung und Beratung deutscher Verwalter jüdischen Grundeigentums; 3. Verwaltung jüdischer Vermögen einschließlich der damit verbundenen Vertretung und Beratung, wenn die zuständige Steuer- oder Devisenbehörde die Verwaltung durch einen Juden für untunlich erklärt; 4. Vertretung und Beratung von Juden fremder Staatsangehörigkeit; 5. Tätigkeit als Konkursverwalter, Vergleichs Verwalter, Zwangsverwalter, Testamentsvollstrecker, Nachlaßpfleger, Abwickler oder sonstiger Treuhänder auf Grund amtlicher Bestellung. In all diesen Fällen ist jedoch stets besonders sorgfältig zu prüfen, oh tatsächlich ein überwiegendes Interesse des deutschen Volkes die Beratung und Vertretung des Judens durch einen Deutschen erfordert. . . Dies gilt auch für Rechtsanwälte, die teilweise jüdisches Blut haben, also für Mischlinge ersten und zweiten Grades, die Reichsbürger sind.“
Da den jüdischen Anwälten die Anwaltschaft entzogen worden ist, kommt somit nur noch die Vertretung durch die wenigen zugelassenen jüdischen Rechtskonsulenten in Frage.
Am 14. Februar hat der Reichswirtschaftsminister in einem Runderlaß angeordnet, daß auch den Devisenberatern untersagt ist, Juden in Devisensachen Hilfe zu leisten.
Es ist eine „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ geschaffen worden, der jeder einzelne Jude als Mitglied angehören soll. Alle übrigen jüdischen Organisationen haben zu bestehen aufgehört, mit Ausnahme der jüdischen Gemeinden, des Jüdischen Kulturbundes und des Palästina-Amtes, das korporativ der Reichsvereinigung angegliedert wird.
Auf Grund der polizeilichen Anordnung haben 160 000 Juden ihre Vornamen ändern oder ihrem bisherigen Namen die Zunamen Sara bzw. Israel hinzufügen müssen.
2. Die antisemitische Propaganda
Über die Hetzpropaganda gegen die Juden ist insofern wenig Neues zu berichten, als sie sich gleich geblieben ist und trotz des vollkommenen „Sieges“ keineswegs nachgelassen hat. Die Nationalsozialisten wissen, daß sie das Volk bei ihren Gewaltakten gegen die Juden nicht hinter, sondern gegen sich haben, und ihre fortgesetzte Haßpropaganda stellt den ständig erneuerten Versuch dar, die gewünschte Massenstimmung doch noch zu erzeugen.
Auf die Jugend übt dieses ständige Trommelfeuer in der AS9 Schule, in der Hitler-Jugend, auf der Straße, in den Zeitungen, natürlich eine starke Wirkung aus. Kinder und Jugendliche haben sich auch - wie die nachfolgenden Berichte wieder bestätigen - in den Pogromtagen durch besondere Rohheit hervorgetan.
Der „Stürmer“, dessen Schreibweise sich im übrigen nicht verändert hat, trägt das Seine dazu bei, die nachfolgende Generation zu „erziehen“. Das zuletzt im Stürmer-Verlag erschienene Bilderbuch „Der Giftpilz“, das widerliche, z. T. wie üblich pornographische Hetzbilder enthält, wird in vielen Schulen eifrig vertrieben. Der „Stürmer“ veröffentlicht ganze Serien von Danksagungen aus den Lehrerkreisen, jeweils mit vollem Namen und häufig mit der Adresse der Schule versehen.
Die antisemitische Propaganda an den Hochschulen ist weiter ausgebaut worden. Z. B. hat ein Dr. Deeg auf Streichers Wunsch einen Lehrauftrag an der Universität Berlin erhalten. Er hat seine Qualifikationen dadurch dargetan, daß er ein Buch „Die Hofjuden“ schrieb. Die Vortragsreihen, die in den Universitäten gehalten werden, bewegen sich auf einem unglaublich niedrigem Niveau. Wir veröffentlichen, um diese Art der wissenschaftlichen Erziehung zu charakterisieren, einige Zitate:
Julius Streicher in der Aula der Universität Berlin, bei der Einführung Dr. Deegs in sein „wissenschaftliches Amt“:
“. . . Zum Schluß seines leidenschaftlichen Appells an die Hochschulen setzte der Redner sich auch mit der Frage auseinander, ob denn nicht einzelne Juden Großes in der Wissenschaft geleistet und manches mitentdeckt hätten. Dies treffe wohl gelegentlich einmal zu, daß auch ein Jude an einer Erfindung mitbeteiligt gewesen sei, aber dann bestehe doch kein Grund, ihn als Juden besonders zu erwähnen. Im übrigen aber möge man wissen, daß eine Geschichtsforschung, die den Juden überhaupt noch als Gelehrten anerkenne, falsche Wege gehe.“ (Frankfurter Zeitung vom 2. Januar 1939)
Der Präsident des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“, Walter Frank, zur Eröffnung des Vortragszyklus über „Judentum und Judenfrage“ in der Berliner Universität:
“. . . Professor Walter Frank hat die Reihe auch selbst eingeleitet mit einer Studie über Alfred Dreyfus. Es konnte ihm nicht darauf ankommen, die juristische oder die politische Seite des Falles darzulegen. Dies sagte er gleich zu Beginn ausdrücklich zu den im Publikum anwesenden ausländischen Zuhörern . . .
Herausgearbeitet wurde also das Jüdische in der Person von Dreyfus und das Jüdische in den Methoden und Mitteln, ihn zu rehabilitieren. Der spätere Freispruch von Dreyfus war ,ein Sieg des internationalen jüdischen Kapitals über das französische Soldatentum“ . . .
So betrachtet Walter Frank Dreyfus als ein Symbol für die ewige Fremdheit des Juden unter den Völkern. Frank selbst glaubt, juristisch sei Dreyfus sicherlich nicht schuldig gewesen, seine Schuld sei die seiner Rasse: unter den fremden Völkern Herr sein zu wollen und doch nicht aufhören zu können, ein Fremder zu sein.“ (Frankfurter Zeitung vom 14. 1. 1939)
3. Tatsachenberichte
Es gehen uns noch immer wieder neue Berichte über die Pogromtage im Oktober und November zu. Ein Beweis dafür, wie tief diese Vorfälle im Volk gewirkt haben und wie schwer sie den Nationalsozialisten vergessen werden. Wir geben einige dieser nachträglichen Schilderungen wieder. Die erste stammt aus dem noch immer nicht aufgelösten Flüchtlingslager an der deutsch-polnischen Grenze bei Zbaszyn, wo ein beispielsloses Elend herrscht. (Siehe unseren Bericht Heft 12/1938, S. A 27).
Der Verfasser ist ein Jude, der aus dem Westen an die polnische Grenze gebracht wurde, obwohl er Polen nie gesehen hatte und kein Wort polnisch spricht.
Deutsch-polnische Grenze: „Auf Grund der Paragraphen 5 und 9 der Ausländer-Polizeiverordnung vom 22. 8. 1938 wird Ihnen hiermit der Aufenthalt im deutschen Reichsgebiet verboten. Sie haben daher das Reichsgebiet bei Vermeidung von Zwangsmitteln unverzüglich spätestens bis 29. Oktober 1938 zu verlassen . . .“
Wenige Worte - Schicksal für Tausende! - Donnerstag Abend 10 Uhr. Es klingelt. „Gestapo, aufmachen!“ - „Was ist los?“ - „Mitkommen!“ - „Können wir wieder nach Haus?“ - „Ich weiß nicht.“ „Was soll das denn alles, sind wir denn keine Menschen!?“ - „Kommen Sie, Sie werden hören!“
Ein großer Saal, viele Menschen. - Juden! Alte Juden mit zerfurchtem Gesicht und mit weißen Bärten, Frauen, Kinder. - In allen Augen dieselbe Frage: Was soll mit uns geschehen?
Eine Nacht ist vorüber. - Trostlos, durchwacht und durchweint. Aschfahle Gesichter, fragende Augen.
Wie weiter?
Die Polizisten lösen sich ab. Gehen irgendwo hin - nach Hause. Und wir?
Einer der Polizisten ruft nach Jungen zum Essenfassen. - Brot und Kaffee wird gebracht, die Menschen drängen sich herzu. Das Leben verlangt sein Recht - und noch leben wir.
Nachmittag. - Freitagnachmittag: Dicht gedrängt sitzen Menschen, die wenige Habe vor sich. - Bündel, Koffer, Säcke - eine Symphonie aus Willkür und Hoffnungslosigkeit. Es sind ja nur Juden.
Autos fahren zum Bahnhof, Menschen und Gepäck tragend. Draußen gröhlende Menschen in drohender Haltung.
Jemand schreit etwas von „Volksverrätern, Blutsaugern, Halsabschneidern“. Auf dem Bahnhof wieder jenes Bild: Koffer, Menschen und Gepäck, schreiende Kinder, alte Menschen, zusammengebrochen und auf Gepäckstücken hockend. - Wir wissen jetzt, wohin es geht!
Ein Zug läuft ein. Ein Sonderzug für unglückliche Menschen. 9.15 Uhr. Wir fahren! Hinter uns bleibt Arbeitsplatz und Eigentum, bleibt die Frucht vieler Jahre. - Aber wir fahren! Fahren! Schon lange Zeit fahren wir. Es ist still geworden in den Abteilen. Die Menschen liegen auf den Bänken und schlafen einen dumpfen Schlaf.
Ein grauer Morgen dämmert herauf. - Die Grenzsteine von Neu-Bentschen. Wieder in allen Gesichtern die Frage: Und nun? Weiter, wohin? Überall SS, Polizei, Grenzbeamte, Zöllner: „Haben Sie Geld bei sich?“ 10 RMk. ist alles, was wir mitnehmen dürfen. Daheim aber, hinter uns, ist unser Eigentum, das wir und unsere Eltern erworben haben in saurer Arbeit.
„Marsch los, was Ihr nicht tragen könnt, bleibt liegen!“ - Schwer schleppen alte Menschen an ihrem Bündel. Ihr weniges gerettetes Gut. Hinten wird ein Junge angetrieben, er trägt einen großen Koffer auf seinen Schultern - sicher nicht seinen eigenen. Ein Viehtreiben mit Menschen. Nein, keine Menschen - nur Juden!
Fast 5 Kilometer liegen hinter uns, noch ein Kilometer, dann kommt der Grenzstein. Das Tempo hat sich beschleunigt. Hinten im Zuge wird nämlich geschlagen, werden Menschen zum Fallen gebracht, angetrieben wie eine Herde Schafe. Alles stürmt nach vorn, will sich retten! Koffer bleiben liegen, einer stolpert, bricht ein Bein. - Weiter! Schneller! Es ist nur noch ein Vorwärtskeuchen. Ein humpelnder Mann, ein Krüppel, wird von 2 SS-Männern geschleppt: „Wir wollen Dir das Tanzen schon beibringen!“
Weiter - nur weiter! Der Grenzbaum ist erreicht. Niemandsland. 100 Meter weiter der polnische Baum. Die Menschen hocken sich nieder, brechen zusammen, raffen sich wieder auf. Doch es geht nicht weiter. Zu schwer war alles in den letzten Stunden.
Das Gepäck kommt in einem Auto. Einiges war schon liegengeblieben. Das wird uns ausgehändigt. Man schenkt uns unsere eigene Habe. Glückliche Augen - wenigstens etwas. Verzweifelte Blicke - der Koffer ist nicht dabei. Ein Leiterwagen kommt heran. - Ob er unser Gepäck mitnehmen möchte? Ja - wir sind zufrieden. Man wird ja so bescheiden. - Viele Wagen fahren nach Zbaszyn.
Platz vor dem Bahnhof. - Menschen, Menschen! Aus Berlin, Hannover, Essen, Köln, Bielefeld - Juden aus Deutschland treffen sich in Zbaszyn.
Ein Tor in einer Bretterplanke. Polizisten davor. „Prosze pani! Treten Sie nur herein.“ Bald beherbergen uns die Baracken. - Ein Lastauto bringt Brot und Butter. Hungrige Menschen drängen. Drängen und schieben vorwärts. Rücksichtslos! Vorne ist Brot - ein hungriger Mensch kennt keine Rücksicht.
Der Abend sinkt nieder. Langsam wird Ruhe. Wo sonst ein Pferd stand, schlafen heute Nacht zehn Menschen. Auf ihren Bündeln hocken sie am Boden. Draußen im Hof scharen sich noch viele um den viel zu kleinen Kessel. Wieder für fünfzig Menschen Tee. Und Hunderte warten, warten auf ein bißchen Tee.
Ein neuer Morgen. Alles schwirrt durcheinander. Registrieren, essen, wegfahren. Warschau, Krakau, Posen. - Stimmen voller Hoffnung!
Dann plötzlich: „Die Straßen sind gesperrt! Keiner kann mehr fahren!“
- Interniert! Hoffnungen verfliegen. Im Hofe werden von einer Plattform Mitteilungen gemacht, die niederdrückend sind. Hoffnungen werden geweckt und brutal zertreten. Was nun weiter.
Junge Menschen organisieren, sorgen für Essen, für die Alten, arbeiten viel und sind aktiv. Das Rote Kreuz arbeitet Tag und Nacht. Menschen mit gequälten Nerven bedürfen der Hilfe. Es gilt, die kleinen Schmerzen zu beseitigen, um die großen ertragen zu können.
In den Baracken hat man sich eingelebt. An Leinen hängen Wäschestücke. Man wäscht und säubert, denn es ist ja so wenig, was man hat.
Dort soll eine Bürste dem Anzug das alte Aussehen geben. Hier muß ein Stück Bindfaden einen Schuhriemen ersetzen.
Tag um Tag vergeht. - Hoffnungen kommen und gehen. - Verhandlungen werden anberaumt und unterbrochen. - Wir sitzen.
Feldküchen kommen, regeln die Verpflegung. - Die Komitees beginnen ihre Arbeit auf vielen Gebieten. Sie sorgen für erste Hilfe und für Kleidung. Wir sitzen. - Strohsäcke, Decken, Stroh. Glücklich tragen Menschen einen Arm voll auf ihre Schlafstätte. Doch wir sitzen.
Grausam dieses Warten ohne Ende. Tag um Tag vergeht. Wir warten auf Erlösung.
Sudetenland: Am 22. November hatte ich mit einigen früheren Genossen, die wie ich zu den neuen Arbeitslosen gehören, eine Tour mit dem Fahrrad unternommen. Als wir am Nachmittag wieder nach Karlsbad zurückkehrten, wurden wir schon außerhalb der Stadt von Genossen erwartet, die mir mitteilten, daß die Juden in allen Straßen zusammengetrieben würden. Die Genossen rieten mir, daß ich versuchen sollte, nach Prag zu flüchten. Da ich mir eines Vergehens gegen die SdP nicht bewußt war, beschloß ich trotzdem, nach Hause zu fahren. Meine Frau erwartete mich ganz verängstigt und berichtete mir, daß um 3 Uhr nachmittags SdP-Ordner in unserer Wohnung gewesen seien und sich nach mir erkundigt hätten. Als sie mich aber nicht antrafen, seien sie wieder gegangen. ½8 Uhr abends kamen sie wieder. Die Führung hatte ein im selben Häuserblock wohnender Nazi. Als er von meiner Frau erfuhr, daß ich zuhause sei, kam er mit in die Wohnung. Mit den Worten: „Ach, das ist der verfluchte Saujud, den ich bis jetzt noch nicht gekannt habe“, begrüßte er mich. „Zieh Dich sofort an und komm mit zur Polizei, dort warten schon die anderen Schweine auf Dich.“
Mit einem Auto ging es nach dem Polizeigebäude. Dort hielt sich seit dem Nachmittag eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf, die immer wieder in den Ruf ausbrachen: „Gebt uns die Saujuden heraus, damit wir mit ihnen Schluß machen können.“ Im Hause selbst wurden wir sofort von Leuten in SS-Uniformen in Empfang genommen, die uns anbrüllten, daß wir „die Beine etwas schneller bewegen“ sollten. Bevor wir noch dazu kamen, ging ein Regen von Schlägen mit den Gummiknüppeln auf uns nieder, und wir wurden alle im Erdgeschoß auf eine Zimmertür zugejagt. Dort saß ein Mann in SS-Uniform mit mehreren Abzeichen. Ich wurde nun von ihm gefragt, ob ich wüßte, weshalb ich verhaftet sei. Da ich das verneinte, gab er den zwei hinter mir stehenden SS-Leuten einen Wink, die mir darauf jeder einen Schlag mit dem Gummiknüppel gaben, auf den Kopf und auf das rechte Schulterblatt. Dgr Mann im Sessel sagte mir dann in aller Gemütsruhe: „Dies geschieht nur, um Sie vor der Volkswut zu retten.“ Dann fragte er mich nach meinem Namen und ob es mir lieber wäre, wenn ich wieder nach Hause könnte, natürlich müßte ich dann sofort durch die auf der Straße stehende Menschenmenge nach Hause gehen. Da ich ihm daraufhin antwortete, daß es wohl doch besser sei, bis zum anderen Tage zu warten, sagte er nur: „Bleibt freiwillig in Schutzhaft.“
Nun wurde ich wieder in den Korridor geschickt, wo mir zugerufen wurde: „Zweiter Stock Nr. 2.“ Ich rannte nun so schnell ich konnte, die Treppe hinauf und verlief mich prompt, da es keiner der auf der Treppe auf mich einschlagenden SS-Leute für notwendig hielt, die Richtung zu sagen, in welcher das Zimmer 2 liegt. Das war ein neuer Anlaß dazu, auf mich einzuschlagen. Da die Schläge alle nach dem Kopf und auf die Schultern gingen, war es unmöglich, den Kopf zu heben. So rannte ich natürlich immer nach der falschen Tür. Als ich endlich die Nummer 2 erreicht hatte und die Tür öffnen wollte, war sie von den schon im Zimmer befindlichen Personen so verstopft, daß ich sie nicht aufbrachte. Da stürzten sich wieder einige SS-Leute auf mich und schlugen auf mich ein. Andere drangen ins Zimmer und schrieen die dort befindlichen Menschen an: „Wenn Ihr Eurem Glaubensbruder nicht Platz machen wollt, dann müssen wir das eben besorgen.“ Man hörte nur noch die Schläge auf die Köpfe der Wartenden fallen. Da ich gleich hinter den Schlägern ins Zimmer trat, hatte ich so einen Gang für mich frei.
In dem Zimmer müssen sich mehr als 80 Menschen befunden haben. Die Fenster durften nicht geöffnet werden, trotzdem die Dampfheizung auf höchste Temperatur eingestellt war. Ich sah dann, daß die der Zentralheizung am nächsten Stehenden sich mit den Händen von der Wand abdrückten, um nicht direkt an den Heizkörpern anzuliegen. Von Statur kleine Menschen konnten sich nicht anders helfen, als daß sie selbst auf die Gefahr hin, sich die Hände zu verbrennen, sich an den Heizkörpern abdrückten.
In dem Raum Nr. 2 blieben wir noch mehrere Stunden, ohne daß wieder etwas geschah. Dann wurden wir gegen 3 Uhr nachts aufgefordert, so schnell als möglich auf die Straße zu gehen. Daß dies bei den ältesten Leuten wieder nicht ohne Schläge abging, kann sich jeder vorstellen, denn viele von uns hatten sich schon fast 12 Stunden in dem Raum aufgehalten, und da sich ja niemand setzen oder gar legen konnte, ja, es nicht einmal möglich war, sich zu bewegen, waren bei den meisten die Glieder schon steif geworden. Auf der Straße standen Lastautos; an den Hintertüren standen wiederum SS-Leute, die auf jeden einschlugen. Diejenigen Leute, die trotz der Schläge nicht schnell genug in den Wagen klettern konnten, wurden an Händen und Füßen gepackt und wie ein totes Stück Vieh auf den Wagen geschmissen. Von da ging es nach dem Bezirksgerichtsgefängnis in Karlsbad.
Don traten wieder SS-Leute in Dienst, die mit uns nicht besser verfuhren. Wir wurden in Zellen zu je 6 Mann untergebracht, in denen wir uns nun zwar setzen konnten, aber an Hinlegen war auch hier nicht zu denken, denn diese Zellen waren ja nur für zwei Mann eingerichtet. Früh in der achten Stunde gab es etwas „Kaffee“. Am Mittag brachten für viele von uns die Frauen das Essen. Der Fraß, der den anderen aus der Gefängnisküche vorgesetzt wurde, war nicht zu genießen.
Am nächsten Tage wurden wir früh um 6 Uhr geweckt und auf gefordert, uns anzuziehen. Ohne daß wir uns gewaschen oder daß wir gegessen hatten, gings in den Hof. Dort standen große Polizeiwagen bereit, um uns nach Dachau zu bringen. Diese Nachricht wurde von den meisten von uns hingenommen, als ob es sich um eine ganz einfache Sache handelte. Viele werden ja auch kaum etwas davon gehört haben. Wir fuhren in Begleitung reichsdeutscher Polizei. Das beruhigte mich ein wenig. Die Beamten machten uns vor der Abfahrt darauf aufmerksam, daß keiner von uns etwas unternehmen solle, was er später selbst bereuen würde.
Die Fahrt nach Dachau ging über Eger, Nürnberg. Als wir bei Rehau die alte Reichsgrenze hinter uns hatten, wurden die Polizeibeamten uns gegenüber Menschen und unterhielten sich mit uns. Als wir dann in einem kleineren Ort ankamen, wurde uns gestattet, uns etwas zum Essen zu kaufen. Die Polizeibeamten sagten uns dann noch, daß sie uns gern schon früher hätten etwas essen lassen, aber die im Sudetengebiet seien noch zu junge Deutsche und man könnte aufgrund einer menschlichen Regung den Opfern des Naziregimes gegenüber mehr Unannehmlichkeiten haben als dies ihnen, aber auch den Altdeutschen lieb wäre.
In Dachau traf der Transport nachmittags gegen 5 Uhr ein. Es waren vorher schon mehrere Transporte aus den verschiedensten Richtungen angekommen, so daß schätzungsweise ungefähr 300 Mann auf die verschiedenen vorzunehmenden Prozeduren warteten. Alle mußten sofort in zwei Gliedern antreten und in gerader Haltung, die Füße im rechten Winkel aneinander, stehen bleiben. Als sich der erste nach ungefähr 20 Minuten rührte, wurde er geschlagen. Wer sich einbildete, daß die kleinste Bewegung ja doch nicht beobachtet werden könnte, hatte sich geirrt und schon ging die Prügelei von vorn an. Als dann die ältesten von uns infolge der Überanstrengung zusammenbrachen, gab es noch einmal Gemeinschaftsschläge und dann konnte alles in die Baracke 18 gehen. Das ist eine Baracke, die nur zur Aufnahme von neuen Häftlingen oder für solche da ist, die das Lager wieder verlassen. Wer dort ist, ist noch kein Lagerhäftling, aber auch kein freier Mensch mehr. Die Leute in Nr. 18 bekommen noch nichts oder nichts mehr zu essen, gleichviel, wieviel Stunden oder Tage sie noch dort zu verbringen haben.
Am nächsten Tage früh um 6 Uhr wurden wir wieder vor das Aufnahmeamt gebracht und hatten abermals Stunden zu warten, bis alle Aufnahmeformalitäten erledigt waren. Dann gings wieder in die Baracke 18, wo wir eingekleidet wurden. Um 12 Uhr erhielten wir unser erstes Essen und man kann sagen, nur der Hunger trieb es uns hinein.
Da die Juden im Lager nicht arbeiten durften, wurden aus uns erst einmal „Menschen gemacht“. Exerzieren vom Morgen bis zum Abend, und wie. Als Sportler habe ich das alles noch einigermaßen überstanden. Wie aber schon nach einem Tage die ältesten und behäbigen Leute umgefallen sind, davon kann man eigentlich viel zu wenig berichten. Wer umfiel, der kam uns nach dem Exerzieren nur ganz zerschlagen wieder zu Gesicht. Schneematsch und Schlamm hinderten die Kommandanten nicht daran, uns stundenlang zu schleifen. Wenn man dann nach Stunden glaubte, einrücken und sich wärmen zu können, dann kam die Kniebeuge. Das ist wohl eine noch größere Tortur als alles andere. „Fußspitzen hebt, Knie beugt“, ganz langsam geht es tiefer, dann mehrere Minuten in der Hocke, dann endlich geht es langsam wieder in die Höhe. Wer auf dem Sportplatz noch nicht zusammengebrochen ist, hier wird er mürbe gemacht, und dann wird immer wieder geschlagen. Das kann man im Laufe des Tages an vielen Orten erleben, ja des Nachts hat jeder SS-Mann das Recht, auch in der Baracke von allen Insassen solange Kniebeugen ausführen zu lassen, wie er seine Freude daran hat. Kein Wunder, daß im Laufe der vier Wochen meines Lageraufenthalts viele Selbstmord versuchten. Aber wehe den Armen, die dabei ertappt wurden. Sie kamen in den Bunker. Und wenn man sie wiedersah, war jeder Lebensmut in ihnen gebrochen.
Als wir am 22. Dezember entlassen wurden, durften wir erst abfahren, nachdem die Besitzenden aus unseren Kreisen sich das Fahrgeld auch für die anderen hatten mitschicken lassen. Nachdem wir wieder mehr als 24 Stunden in der Baracke 18 zugebracht hatten, wurden wir zum ersten Male in München ausgespeist, aber nicht etwa von den deutschen Behörden, sondern durch ein von Juden eingerichtetes Hilfswerk. Sonst hätten die meisten von uns vor Karlsbad oder gar Komotau nichts zu essen bekommen.
Südwestdeutschland (Saarpfalz): Durch Zufall kam ich an dem Platz vorbei, an dem die Juden zusammengetrieben wurden, die in der Stadt eingefangen oder in den Wohnungen abgeholt worden waren. Diesen Eindruck werde ich in meinem Leben nie wieder vergessen. SA, SS, Polizei hatten Privatautos requiriert und brachten nach und nach ihre Gefangenen, Männer, Greise, Frauen und sogar Kinder herbeigeschleppt. Jedesmal, wenn ein Jude dem Wagen entstieg, setzte ein Gejohle der Jugend und einiger hysterischer Frauen ein. Man sah bekannte Geschäftsleute, Arbeiter, Ärzte und alte Invaliden. Eine sehr bekannte, und früher sehr angesehene Persönlichkeit von weit über 70 Jahren wirkte besonders ergreifend auf die Zuschauer. Die Frauen und Kinder sperrte man in einen Raum, die Männer standen den ganzen Tag im Freien herum und bekamen nichts zu essen. Erst abends wurden sie abtransportiert zur Grenze, von wo sie aber am nächsten Tag schon wieder zurückkamen, weil die Franzosen sie nicht durchließen. Dann mußten die Leute erneut vor dem herbeigerufenen Gesindel stehen, bis sie nach Dachau abtransportiert wurden.
Aber die meisten älteren Leute, die zufällig dazu kamen, konnten sich nicht enthalten, ihre Abneigung oder Entrüstung gegenüber diesem Schauspiel zum Ausdruck zu bringen. Es gab an allen Stellen Auseinandersetzungen mit solchen, die das Vorgehen gegen die Juden verteidigen wollten. Die Leute sagten: „Sie sind nicht schlechter als andere Geschäftsleute und diejenigen, die ihre Geschäfte übernommen haben, sind viel teurer und haben schlechtere Waren.“ Die Erregung war offensichtlich so stark, daß gegen die Opponenten nichts unternommen wurde. Ein großer Teil der damals Abtransportierten ist jetzt wieder da, und man kann überall sehen, wie sie von der Bevölkerung freundlich gegrüßt werden. Man fragt sie teilnahmsvoll, ob sie denn keine Möglichkeit haben, ins Ausland zu gehen. Manche sagen, daß sie sich noch bemühen, manche verweisen auf die großen Schwierigkeiten. Es kommt allerdings auch jetzt noch vor, daß Kinder sie anreden: „Jud gib mir Geld.“ Manche geben und machen den Eindruck, als seien sie kindisch geworden.
Ostpreussen, 1. Bericht: Von dem Brand der Königsberger Hauptsynagoge im November vorigen Jahres berichtet ein Augenzeuge einige Einzelheiten. Neben der Synagoge befindet sich das jüdische Waisenhaus. In den frühen Morgenstunden, es war noch stockdunkel, drang SA in das Waisenhaus ein und räumte es. Alle Kinder mußten ohne Kleider und nur in Nachthemden fliehen, auch den Wärterinnen ließ man keine Zeit, sich anzukleiden. Da die Kinder froren, liefen sie zu der brennenden Synagoge, um sich dort an den Flammen etwas zu erwärmen. Das Bild war herzzerreißend.
Eine andere Synagoge in Königsberg konnte die SA nicht anzünden, da sie in einem Hinterhof inmitten von Wohnhäusern liegt. Als die SA dennoch Anstalten machte, an der Synagoge Feuer zu legen, schritten die Einwohner der Hinterhöfe ein und hinderten die SA-Leute zum Teil mit Gewalt an der Brandstiftung.
2. Bericht: Der Judenpogrom in Elbing in den Oktober-Tagen vorigen Jahres hat viele Opfer gefordert. Am 9. November waren die Nazis überall zu den sogenannten Revolutionsfeiern zusammengezogen, die etwa bis gegen 11 Uhr abends dauerten. Die Mitglieder von SA und SS hatten dann Befehl erhalten, um 4 Uhr morgens wieder anzutreten, um die Synagoge in Brand zu stecken, die gleich hinter dem Polizeipräsidium gelegen ist. Die Synagoge ist bis auf den Grund niedergebrannt, man hat lediglich die Umfassungsmauern stehen lassen. Die Feuerwehr war alarmiert und hat die umliegenden Häuser geschützt.
Später hat man auf dem jüdischen Friedhof in Elbing alle Grabgitter und auch die Friedhofsumzäunung entfernt. Man hat das Altmetall den Nazisammlungen zur Verschrottung abgeliefert. Zu diesen Arbeiten waren SA-Leute abkommandiert. Selbstverständlich wurden auf dem Friedhof Grabsteine umgeworfen, schwer beschädigt und zum Teil sogar fortgetragen.
Es tritt immer deutlicher zutage, welche Rolle die persönliche Bereicherung in diesen Tagen gespielt hat und wie wenig der nationalsozialistische Mob zwischen „politischer Aktion“ und Straßenraub, zwischen „Racheakt“ und Raubmord unterscheidet.
Südwestdeutschland: Anfang des Jahres ist in Rastatt etwas geschehen, worüber die Zeitungen nichts berichten durften. Zwei junge Leute, Mitglieder der SA oder SS, aus besseren Kreisen, fälschten ihre Ausweise und gaben sich als Kriminalbeamte aus. Sie gingen zu einem Juden namens Dreyfuß und verlangten einen Vermögensnachweis. Bei der Durchsicht dieses Nachweises erklärten sie dann, Gebühren verlangen zu müssen und zwar in der Höhe von tausend Mark. Der Jude erzählte die Sache einem Bekannten und der erstattete dann Anzeige. Die beiden jungen Leute kommen nun vor Gericht, angeklagt sind sie aber nur wegen Fälschung von Dokumenten. Daß sie dem Juden auch tausend RMk abgeknöpft haben, wird vertuscht.
Schlesien: In Gleiwitz wurde ein Fall bekannt, wo eine Familie in den Novembertagen verschont geblieben ist. Da erscheint eines Tages ein Nazi, angeblich im Aufträge einer Parteistelle, läßt sich eine größere Summe Geld geben und verschwindet, ohne zu quittieren. Die jüdischen Opfer wagen nicht, solchen Erpressungen nachzugehen und sie zur Anzeige zu bringen, weil befürchtet wird, daß dann die Akte von November sich eventuell wiederholen könnten.
Bei den Pogromen am 10. November in Beuthen wurde der Goldschmied und Juwelier Jakobowitz auf der Tarnowitzer Straße von einer Bande von SA-Leuten überfallen und derartig mißhandelt, daß er nach einigen Tagen verstarb. Augenzeugen, die den Vorfall gesehen haben, erzählen: Während ein Teil der SA-Leute den Juden prügelten, nahmen die anderen zahlreiche Wertgegenstände mit, stopften sich die Taschen voll; der Rest ist dann von der Hitlerjugend gestohlen worden.
Über die derzeitige Situation der Juden wird uns berichtet:
Bayern: Die Banken werden gezwungen, für die Arisierung jüdischer Geschäfte an alle möglichen Nazis größere Kredite zu geben, und zwar unter Verzicht auf die sonst übliche Deckung, also sogenannte Blankokredite. Dadurch sollen möglichst viele Nazis in die Lage versetzt werden, jüdische Geschäfte zu erwerben. Diese werden weit unter dem Preis losgeschlagen. Sämtliche jüdische Hausbesitzer wurden zu den Notaren der DAF bestellt und mußten ihre Häuser für 10% des Einheitswertes „verkaufen“. Der Kaufpreis wurde nicht an die Juden ausgezahlt, sondern bei der Bank der DAF (früher Arbeiterbank) hinterlegt. Man rechnet damit, daß den Juden die 10% vielleicht einmal in Wertpapieren ausgehändigt werden, die jetzt infolge der vielen Verkäufe im Kurs stark gefallen sind.
Schlesien, 1. Bericht: In den letzten Wochen sind im Bezirk Oppeln mehrere Fälle zu verzeichnen, in denen auf Antrag der Angehörigen Juden aus den Gefängnissen oder Konzentrationslagern zur Entlassung kommen. Das geschieht teils deshalb, weil Formalitäten bei der Geldbeschaffung für die Kontribution zu erledigen sind, teils auch, weil bereits ein Auswanderungsschein vorliegt und der Verhaftete schon einen Platz hat, wohin er sich mit der Familie begeben kann. Die Pogromopfer kommen zwar zum Teil aus den KZ-Lagern und Gefängnissen heraus, aber die untergeordneten Nazistellen machen die denkbar größten Schwierigkeiten, erheben die unmöglichsten Gebühren - so in Beuthen und Gleiwitz -, vollziehen auch Erpressungen, lassen die Verwandten wiederholt auf die Ämter kommen, um sie unverrichteter Dinge wieder heimzuschicken usw.
2. Bericht: Der bekannte Rechtsanwalt Dr. Fränkel in Beuthen, Oberschlesien, der anläßlich der Pogrome an der Grenze verhaftet wurde, hat bereits den Ausreiseschein für Palästina erhalten. Die Behörden weigern sich indessen, ihn freizulassen, weil er nicht im Zusammenhang mit den Pogromen, sondern wegen Devisenschieben unter Anklage stehe. Dr. Fränkel hat zahlreiche Prozesse zugunsten des Reichs gegen Polen mit Erfolg geführt. Das Reich hat Millionenbeträge durch ihn erspart; vor dem Genfer Schiedsgericht war er einer der anerkanntesten Rechtsvertreter des Reichs, die Nazis haben ihn selbst in verschie-denen Fällen in Anspruch genommen. Alle Interventionen, auch sehr hoher Nazikreise, blieben bisher ohne Erfolg. Man findet die Anklage gegen Frankel auch in Parteikreisen unberechtigt.
3. Bericht: Das . . . geschäft in X. gehörte einem Juden, ebenso das Haus, in dem sich das Geschäft befand. Dieser Jude wurde gezwungen, das Geschäft und das Haus zu einem Viertel des Wertes zu verkaufen. Am nächsten Tag wurde bei ihm von der Politischen Polizei eine Haussuchung gemacht. Man wühlte die ganze Wohnung um und riß sogar die Tapeten von den Wänden. Schließlich gaben die Beamten zu, daß sie das Geld suchten, das er gestern beim Verkauf erhalten habe. Y. erklärte, daß das Geld auf der Sparkasse im Safe sei, worauf er und seine Frau verhaftet wurden, weil sie sich nicht sofort bereit erklärten, einen Teil des Geldes dem Winterhilfswerk zu überweisen. Das Ehepaar blieb einen Tag in Haft. Sie wurden aus der Haft entlassen, weil sie sich „freiwillig“ bereit erklärt hatten, fünf Sechstel des Geldes dem Winterhilfswerk zu spenden. Die restliche Summe soll zur Finanzierung der Auswanderung dienen.
Danzig, 1. Bericht: Die jüdischen Mitglieder der Krankenkasse in Danzig haben am 12. Januar 1939 die Mitteilung erhalten, daß in Zukunft nur noch ein einziger jüdischer Zahnarzt im gesamten Gebiet der Freien Stadt Danzig für sie in Frage komme. Dieser Zahnarzt wohnt dazu nicht einmal in Danzig, sondern in Zoppot. Allen arischen Zahnärzten ist untersagt worden, ab 13. Januar jüdische Patienten, Privatoder Kassenpatienten, zu behandeln. Dagegen behandeln polnische Ärzte und Zahnärzte Juden nach wie vor. Man wagte bisher auch nicht, ihnen Vorschriften zu machen.
Kürzlich wurden Ziffern über die bisherige Judenabwanderung aus Danzig veröffentlicht. Danach sollen bisher etwa 6000 Juden Danzig verlassen haben.
2. Bericht: Die Angleichung der Danziger Judengesetzgebung an die des Reichs macht weitere Fortschritte. So sind die Juden durch eine Verordnung des Senats, die im Januar erschien, von dem Bezug aller Renten, auch der Blindenrenten, ausgeschlossen worden. Mit dem 28. Februar mußten alle Juden aus der Rechtsanwaltschaft ausscheiden und ihre Notariate abgeben. An Stelle der jüdischen Anwälte werden jüdische Rechtskonsulenten zugelassen, für die folgende Bestimmungen gelten:
Die Zulassungsgesuche legt der Gerichtspräsident mit seiner Stellungnahme dem Senat vor. Die Entscheidung des Senats teilt der Gerichtspräsident den Gesuchstellern mit. Die Zulassung hat er außerdem mitzuteilen dem Gauleiter der NSDAP, dem Präsidenten der Rechtsanwaltskammer und dem Polizeipräsidenten. Als Einnahmen verbleiben den Konsulenten: a) die Auslagen einschließlich der Schreibgebühren, b) ein vom Präsidenten der Rechtsanwaltskammer festzusetzender Pauschalbetrag als Entschädigung der Kanzlei-Unkosten, c) von den darüber hinaus erzielten monatlichen Einnahmen - einschließlich einer vereinbarten Sondervergütung - für Beträge bis zu 400 Gulden 90%, von 400 bis 600 Gulden 70%, von 600 bis 1200 Gulden 50%, darüber 30%. Die überschießenden Beträge gehen an die Ausgleichsstelle. Der Präsident der Rechtsanwaltskammer kann nicht zugelassenen Juden aus der ehemaligen Rechtsanwaltschaft Unterhaltsbeiträge gewähren und zwar für Ledige 250,- Gulden monatlich, für Verheiratete 300,- Gulden.
3. Bericht: Der Senat steht seit einiger Zeit mit der Danziger Synagogengemeinde in Verhandlungen wegen Ankaufs der Danziger Hauptsynagoge. Die Synagogengemeinde soll 600 000 Gulden Kaufpreis verlangen, der Senat wird jedoch nur 300 000 Gulden zahlen und behält dieses Geld in seiner Verwahrung. Es ist dazu bestimmt, die Auswanderung von Danziger Juden zu finanzieren.
Durch den Ausfall der jüdischen Kassenärzte wird die Allgemeine Ortskrankenkasse in Danzig finanziell erheblich stärker belastet. Die übrigbleibende Ärzteschaft hat außerordentlich viele Patienten zu behandeln, so daß es die meisten Ärzte ablehnen, Krankenbesuche im Hause der Kranken zu machen. Es hat sich der Brauch herausgebildet, daß in diesem Falle stets eine Überweisung des Patienten an die Krankenhäuser erfolgt, die infolgedessen überbelegt sind. Die Allgemeine Ortskrankenkasse muß nun die Mehrkosten, die durch die Krankenhausbehandlung entstehen, bezahlen.
Die Haltung der Bevölkerung ist ungewöhnlich einheitlich.
Die Berichte, die uns schon in den ersten Tagen nach den Pogromen zugegangen sind, werden immer wieder bestätigt: die erdrückende Mehrheit des deutschen Volkes lehnt die antisemitischen Gewalttaten, lehnt auch den jetzt durchgeführten Raubzug mit Entrüstung ab. Anfänglich haben die Nationalsozialisten offenbar gehofft, es werde genügen, die „Meckerer“ einige Stunden auf der Wache festzuhalten, und mit der Zeit werde die Ablehnung verschwinden. Jetzt aber sind die deutschen Gerichte angewiesen worden, mehr Strenge gegen die Pogromgegner anzuwenden. Es werden Gefängnisurteile bis zu sechs Monaten verhängt.
Wir stellen an den Anfang einige aufschlußreiche Denunziationsnotizen aus dem „Stürmer“ (Januar 1939, Nr. 2). Die Auswahl könnte beliebig erweitert werden, das Streicherblatt ist voll von ähnlichen Berichten.