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Chronik und Quellen
1938
Juli 1938

Die Sopade berichtet

In der Juli-Ausgabe 1938 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:

Der Terror gegen die Juden

a) Das Schreckensregiment in Österreich

Das Schicksal der deutschen Juden ist seit der Angliederung Österreichs in ein neues Stadium getreten. Die Nationalsozialisten haben aus den österreichischen Erfahrungen den Schluß gezogen, daß ein rasches Vorantreiben der Judenverfolgungen dem System nicht schaden könne, daß die Entfesselung aller antisemitischen Instinkte in den Reihen der Anhängerschaft, die Duldung des offenen Pogroms weder wirtschaftliche Schwierigkeiten noch einen erheblichen Prestigeverlust in der Welt nach sich ziehe. Von dieser Vorstellung geleitet, deren Richtigkeit hier nicht untersucht werden soll, bringt das Regime die Wiener Methoden rücksichtslos auch im alten Reich zur Anwendung.

In Österreich sahen sich die Machthaber vor die Aufgabe gestellt, die „Gleichschaltung“ eines ganzen Landes in wenigen Monaten zu vollziehen und auch in der Rassenfrage all das von heute auf morgen nachzuholen, was im alten Reich durch eine jahrelange Entwicklung erreicht worden ist. In der Erkenntnis, daß ein auch nur scheingesetzliches, an Verfügungen und Verordnungen gebundenes Vorgehen dem gewünschten Tempo hinderlich wäre, wählten sie den Weg der sogenannten spontanen Massenaktion, das heißt der unverhüllten Gewalttat. Die Gesetze und Verordnungen hinkten den vollzogenen Tatsachen nach. Sie sanktionierten nur das schon Geschehene. Seitens der Behörden geschah bis jetzt - in großen Zügen betrachtet - der Reihe nach das Folgende:

Die Redaktionen wurden bereits am 14. März veranlaßt, alle jüdischen Mitarbeiter zu entlassen. - Die jüdischen Zeitungen mußten ihr Erscheinen einstellen. Es wurde ein Ausreiseverbot für Juden erlassen, das erst im Mai wieder aufgehoben wurde. - Die Turn- und Sportvereine erhielten den Befehl, alle jüdischen Mitglieder auszuschließen. - Jüdische Turnverbände durften der deutsch-österreichischen Turn- und Sportfront nicht mehr angehören. - Der jüdische Sportklub-„Hakoah“, Wien, wurde aufgelöst. - Die Theater mußten alle jüdischen Leiter und Bühnenmitglieder entlassen. - Die in öffentlichen Diensten tätigen jüdischen Ärzte wurden sofort beurlaubt, ebenso die jüdischen Richter, Staatsanwälte und Lehrer.

Im Rechtsanwalt- und Notarstand wurde zunächst nur eine Aufnahmesperre für Juden und Halbjuden verhängt. Anfang April, nachdem die jüdischen Anwälte längst mit Brachialgewalt aus allen Strafgerichtshöfen hinausgedrängt waren, erließ das Reichsjustizministerium eine Verordnung, nach der jüdischen Rechtsanwälten und Verteidigern die Ausübung ihres Berufes „vorläufig untersagt werden kann“. - Ende Juni teilte die Advokatenkammer im Aufträge des Justizministeriums etwa 800 Wiener Advokaten mit, daß sie sofort die Ausübung ihres Berufes einzustellen und innerhalb von zwei Wochen ihre Kanzleien zu liquidieren hätten. -

Die jüdischen Beamten wurden nicht wie ihre arischen Kollegen auf Hitler vereidigt und schieden damit bereits im März automatisch aus dem Dienst aus. - Am 7. Juni teilte das offizielle Deutsche Nachrichtenbüro mit, das „Gesetz zur Erneuerung des Berufsbeamtentums“ finde nunmehr auch auf Österreich Anwendung. (Dieses Gesetz bestimmt u. a., daß Nichtarier nicht Beamte sein können.) - Am 3. April wurde die „Entjudung der Universitäten“ angeordnet. Die jüdischen Professoren und Dozenten - etwa 35 bis 40 - wurden ausnahmslos entlassen. Jüdische Studenten, die sich zum ersten Mal für das Semester hatten einschreiben lassen, strich man summarisch aus den Inskriptionslisten und erklärte die Registrierung aller anderen jüdischen Studenten für jederzeit widerrufbar. Im Juni wurde für jüdische Studenten ein Numerus clausus von 2 Prozent festgesetzt. Aber in der Zwischenzeit hat man sich schon wieder „freie Hand“ Vorbehalten.

Für die auf den 10. April festgesetzte Volksabstimmung wurden die Juden vom Stimmrecht ausgeschlossen. -

Am 2. April verfügte der Wiener Magistrat, daß die jüdischen Firmen- und Ladenbesitzer sämtliche Stände in den Markthallen und auf den öffentlichen Märkten zu räumen hätten. Diese Verfügung hinkte den längst vollzogenen Tatsachen nach. Ebenso der Erlaß Seyß-Inquarts vom 30. April, daß die bestellten kommissarischen Verwalter und Überwachungspersonen in jüdischen Firmen befugt seien, alle Rechtshandlungen vorzunehmen. In diesem Erlaß hieß es ferner, kommissarische Verwalter und Überwachungspersonen, die „bis jetzt ihre Tätigkeit mit Sorgfalt ausgeübt hätten“, könnten weder haft- noch schadenersatzpflichtig gemacht werden. Zwölf dieser Kommissare wurden im Juni nach Dachau geschafft, weil sie sich „bereichert hatten“. Seither findet ständig ein lebhafter Personenwechsel statt. Die Kommissare haben die Aufgabe, die jüdischen Firmeninhaber, von denen sie noch dazu hoch bezahlt werden müssen, zu einem raschen Verkauf ihres Geschäfts zu zwingen. Seit einiger Zeit werden sie darin von der „Arisierungszentrale“ unterstützt, der „Vermögensverkehrsstelle“, ohne deren Zustimmung kein jüdisches Kapital übertragen werden darf. Diese Stelle beschäftigt 200 Beamte.

Am 30. März bestimmte der kommissarische Präsident der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer in Linz, daß die dort eingetragenen arischen Anwälte keine Juden mehr vertreten dürften. Mitte Juni folgte die Wiener Anwaltskammer diesem Beispiel.

Ende April wurde verfügt, daß die jüdischen Kinder sofort von den arischen getrennt und in eigenen Schulen untergebracht werden sollten. Zu gleicher Zeit wurden 70 jüdische Waisenkinder im Alter von 6 Monaten bis 14 Jahren auf Grund einer behördlichen Verfügung aus dem jüdischen Kinderheim im Tierschanzpark entfernt, um arischen Kindern Platz zu machen.

Im Reichsgesetzblatt vom 24. Mai wurde eine Verordnung über die Einführung der Nürnberger Gesetze im Lande Österreich veröffentlicht. Diese Verordnung sieht u. a. eine erleichterte Annullierung von Mischehen für Österreich vor. Die Anwendung der Nürnberger Gesetze auf die Beschäftigung von Dienstpersonal unter 45 Jahren wurde bis zum 1. August verschoben. Dagegen verhaftete man mehrere hundert Juden wegen Rassenschande, und zwar mit der Begründung, die Nürnberger Gesetze würden rückwirkend vom Datum ihrer Inkraftsetzung in Deutschland angewandt.

Weiter wurde verfügt, daß alle jüdischen Trafikanten bis Samstag, den 14. Mai, 7 Uhr abends, ihre Läden geräumt haben mußten. Diese Maßnahme traf 300 Menschen in Wien, darunter Kriegsinvaliden und Witwen oder Waisen jüdischer Kriegsgefallener. Nur Kriegsopfer haben Lizenzen erhalten.

Am 3. Juni erging eine Anordnung des Gauleiters Bürckel, die durch den Auszug von Juden freiwerdenden Wohnungen seien mit „verdienten Parteigenossen“ zu besetzen. Einen Monat später wurden die Juden gezwungen, die Mieterschutzwohnungen - das sind unter Mietschutz stehende und daher billige Wohnungen - zu räumen. Da gleichzeitig den Hauswirten untersagt wurde, an Juden zu vermieten, blieben die Hinausgesetzten obdachlos.

Kurz vor Pfingsten erging eine Verfügung, daß alle im Staats- und Zivildienst stehenden jüdischen Angestellten „rückwirkend auf den 13. März“ zu entlassen seien. Tatsächlich war das um diese Zeit bereits geschehen. Neu war hingegen eine Ende Juni erlassene Bestimmung, nach der auch jüdische Firmen ihre jüdischen Angestellten zu entlassen hatten, selbst wenn es sich um Frontkämpfer handelte.

Im Juli - man hatte sich inzwischen weitgehend der jüdischen Inlandsvermögen bemächtigt - wurde die Anmeldung und Ablieferung aller in jüdischem Eigentum befindlicher ausländischer Werte verfügt. Die Parteistellen selbst schickten gelegentlich Telegramme an ausländische Banken, und es zeigte sich, daß sie über einen Teil der jüdischen Konten trotz des Bankgeheimnisses recht gut Bescheid wußten.

Neben diesen Verordnungen liefen polizeiliche Maßnahmen einher. Bereits am 13. März erschienen in den zionistischen Büros in der Marc-Aurel-Straße Polizei und SA-Hilfspolizei. Die Vorgefundenen Gelder wurden beschlagnahmt, die Büros verriegelt. Nach und nach fanden derartige Haussuchungen in den Lokalen aller jüdischen Vereine und auch im Haus der Israelitischen Kultusgemeinde statt. Sie waren überall mit der Beschlagnahme der vorhandenen Barsumme und Werte verbunden. Später wurden die Räume sämtlicher jüdischer Organisationen - bis auf fünf Ausspeisungen - für einige Monate geschlossen. Ein der Kultusgemeinde gehörendes großes Haus auf dem Schottenring wurde beschlagnahmt. Dort hatten wichtige jüdische Organisationen ihre Büros.

Die in den öffentlichen Garagen untergebrachten Autos der Juden wurden beschlagnahmt. Die Garagenmiete mußte weitergezahlt werden.

Zahlreich waren die polizeilichen Aktionen gegen Privatpersonen. Allein in den ersten drei Tagen nach der Angliederung wurden etwa 500 Verhaftungen vorgenommen. Auch hier waren mit der ersten Haussuchung regelmäßig Beschlagnahmungen verbunden. Im Laufe der Zeit erfolgten Freilassungen, aber auch Überführungen nach Dachau. Verhaftet wurden Juden aller Stände, neben Kaufleuten vor allem Angehörige der freien Berufe: Anwälte, Ärzte, Gelehrte, Künstler. U. a. wurden folgende Persönlichkeiten, teils vorübergehend, teils für lange Zeit, in Haft genommen: Der Bankier Siefried Basel, der 82-jährige Gelehrte Professor Salomon Frankfurter, der 75-jährige Gelehrte Dr. Armand Kaminka, der Medizinprofessor an der Wiener Universität, Carl Lothberger, der Physiologe und Nobelpreisträger Otto Löwy, der Ohren- und Nasenspezialist Professor Heinrich Neumann, Baron Louis Rothschild, gegen den inzwischen Anklage wegen „Verstoß gegen die Staatsinteressen“ erhoben wurde; der Schriftsteller Felix Salten, die Warenhausbesitzer Brüder Schiffmann, der Chirurg Prof. Dr. Julius Schnitzler, der Schauspieler am Josefstädter Theater, Ludwig Stössl, der Physiker, Ingenieur Siegmund Strauß und zehn führende Mitglieder der B’nai B’rith Loge. Nach Dachau geschafft wurden u. a.: Dr. Desider Friedmann, der 60 Jahre alte Präsident der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, der Bühnenschriftsteller, Charakterdarsteller und Komiker Fritz Grünbaum, A. Geller, früherer Direktor des Steinmann-Verlages, Oberbaurat Robert Stricker.

Fast alle Verhaftungen wurden nachts vorgenommen, teils von beamteten Polizisten, teils von SA-Leuten.

Über die Zahl der Verhafteten ist schwer etwas auszusagen. Es laufen die widersprechendsten Nachrichten um. Die „Times“ schätzte, „daß in den vierzehn Tagen vor Pfingsten allein in Wien 4000 Verhaftungen stattgefunden haben“. Ein Teil der Häftlinge wurde als Zwangsarbeiter in Überschwemmungsgebieten verwendet, darunter viele Intellektuelle. Im Mai wurden Hunderte von Juden in Sonderzüge verladen und von Wien aus nach Dachau geschafft. - Die Angehörigen pflegen in solchen Fällen während der ersten 14 Tage ohne jede Benachrichtigung zu bleiben. Dann kommt manchmal eine Karte aus dem Konzentrationslager, gewöhnlich mit der Aufforderung, Geld zu schicken. Es sind aber auch Fälle vorgekommen, in denen die Familien statt des ersten Lebenszeichens die Todesnachricht erhielten. Z. B. starben in Dachau: der Schriftsteller Raoul Auemheimer, der 72-jährige zionistische Führer Dr. Jakob Ehrlich, Leopold Groß (43-jährig), der Vizedirektor der österreichischen Staatssparkasse, Dr. Robert Flecht, Georg Kiepert, der in Leopoldstadt wohnhaft gewesene 30-jährige Häftling Lilienfeld und Fritz Pollatschek (26 Jahre alt). - Auf dem Wege nach Dachau starb der Zahnarzt Dr. Paul Schott, ein 46 Jahre alter, bei seiner Verhaftung völlig gesunder Mann, der im Krieg als Offizier dreimal für Tapferkeit ausgezeichnet worden war. - Eine Frau Lazarus, deren drei Söhne man nach Dachau schaffte, erhielt eine kurze Benachrichtigung, der 22-jährige Sohn sei gestorben und im Lager beerdigt worden.

Aber die Verhaftungen richten sich nicht immer nur gegen Einzelpersonen. Man ist bereits dazu übergegangen, sämtliche Juden eines Ortes oder Landstriches auf einmal „auszuheben“. So wurden im März alle jüdischen Einwohner der Städte Frauenkirchen und Deutschkreuz verhaftet und in ein Konzentrationslager unweit Bruck gebracht. Es handelte sich um etwa 200 Personen, deren Vermögen man zuvor beschlagnahmt hatte.

Aus Steiermark, Niederösterreich und Burgenland sollen alle Juden „ausgetrieben“ werden. In der Steiermark haben ca. 2000 Juden die Aufforderung erhalten, bis zum September aus der Provinz auszuwandern. 500 Linzer Juden sollen bis Oktober das Land verlassen. Den nach zahlreichen Verhaftungen noch übrig gebliebenen 500 burgenländischen Juden droht man eine Dauerunterbringung im Konzentrationslager an, falls sie nicht schnellstens emigrieren.

Da es für die Mehrzahl der Juden, die selbst den dringenden Wunsch haben, auszuwandern, unmöglich ist, ein Aufnahmeland zu finden, schieben Gestapo und SA in den Nächten Trupps von 30-50 Juden - ohne Geld, ohne Papiere, fast ohne Gepäck - über die Grenzen der benachbarten Länder: nach der Tschechoslowakei, nach Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien. Sie drohen den Abgeschobenen für den Fall der Rückkehr mit dem Konzentrationslager. Aber die benachbarten Länder bedienen sich des gleichen Mittels und schmuggeln die Menschenfracht nach Österreich zurück, so daß die Opfer oft drei- viermal hin- und hergeschoben werden, ehe sie im Konzentrationslager oder auf fremdem Boden in der Illegalität, d. h. in tiefster Not, landen.

Der Teil der österreichischen Judenschaft, der bis heute weder verhaftet noch vertrieben ist, lernt die Schrecken der deutschen Judenverfolgung auf andere Weise kennen. Seit dem „Anschluß“ herrscht offener Straßenterror. Rufe: „Juda verrecke!“ und „Juden heraus!“ hallten vom ersten Tage an durch die Straßen. Bald begannen die Demolierungen und „Requirierungen“, d. h. Plünderungen jüdischer Geschäfte, die Erpressungen bei jüdischen Geschäfts- und Privatleuten.

In den Läden erschienen vierzehn- bis sechszehnjährige Burschen, von etwa 20- bis 25-jährigen SA-Männern angeführt und „requirierten“ Lebensmittel, Schuhe, Anzüge, Stoffe usw. Häufig wurde die Beute mit Lastkraftwagen abtransportiert. Auf diese Weise wurden z. B. fast sämtliche jüdischen Geschäfte der Innenstadt (Kärtnerstraße, Roten-turmstraße, Mariahilferstr., Am Graben usw.) heimgesucht. „Requiriert“ wurden u. a. bis auf geringfügige Reste die großen Lager der Firmen Krupnik, Kleiderhaus Gerstel, Teppichhaus Schein, Juwelengeschäft Scheer, Herrenkleidergeschäft Katz. Die Ausräumung des Warenhauses Schiffmann in der Taborstraße dauerte drei Tage. Arbeiter mit Hakenkreuzbinden leerten die Lager, Männer im Braunhemd hielten die neugierige Menge fern. Vor den jüdischen Läden, die trotz dieser Vorfälle ofienzuhalten versuchten, brachte man Plakate an, schmierte Inschriften auf das Pflaster, überpinselte die Schaufensterscheiben mit gröbsten Beschimpfungen. Die Polizei versagte jeden Schutz.

Gleichzeitig wurden, wie bei Beginn des Dritten Reichs, jüdische Putzscharen durch die Straßen getrieben, Männer und Frauen, die man zwang, die Inschriften aus der Schuschnigg-Zeit von den Mauern zu scheuern. An den Häusern wurden die Schilder von jüdischen Advokaten, Ärzten usw. zerschlagen. In Synagogen und Bethäusern wurden die Inneneinrichtungen zerstört, die Thorarollen zerrissen und verbrannt, der Thoraschmuck weggetragen. In vielen Wohnungen mit jüdischen Inhabern fanden „Kontrollbesuche“ jugendlicher SÄ-Leute statt, bei welcher Gelegenheit Bargeld, Schmuck, Effekten, Sparbücher und Autos verschwanden.

ie nationalsozialistischen Machthaber sahen diesem Treiben zu, unterließen es allerdings wie gewöhnlich nicht, sich den Anschein zu geben, als geschehe all das gegen ihre Willen. Am 14. März warnte die Parteileitung vor wilden Aktionen. Am 17. März behauptete der Chef der Sicherheitspolizei in einer zweiten Warnung, die Exzesse würden von „kommunistischen Parteigängern unter Mißbrauch der parteiamtlichen Uniformen“ verübt, am 20. März mißbilligte auch Gauleiter Bürckel in einem Erlaß die Vorfälle, ohne daß eine Änderung eintrat. Erst am 27. April, etwa sieben Wochen nach der ersten Warnung, setzte Bürckel SS-Abteilungen ein, um wenigstens das Straßenbild kurz vor der beginnenden Reise-Saison wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Die Wirkung war allerdings nicht sehr stark. Es kam immer aufs neue zu Exzessen, vor allem im Zusammenhang mit der Ausstellung „Der ewige Jude“, die im August nach Österreich gebracht wurde. Wir gaben eine Schilderung dieser Ausstellung im Februarheft der „Deutschland-Berichte“.

Unter diesen Umständen zogen es natürlich viele jüdische Kaufleute vor, ihre Geschäfte so rasch wie möglich und unter großen Verlusten zu verschleudern. Die „Arisierung“ machte rasche Fortschritte. Von den in den ersten Wochen arisierten Unternehmen seien genannt: Wiens größtes Warenhaus „Gerngroß“, Kaufhaus Herzmansky, die Strumpfwarenfirma Bernhard Schön, die 80 Läden in Wien unterhält, die Anker-Brotfabrik, die Glühbirnenfabriken Johann Kremenetzky und Albert Pregan. Seither sind Hunderte von jüdischen Geschäften „in arische Hände übergegangen“. In der Margarethenstraße wurden - nach vorhergegangenen „Requirierungen“ - vierzehn jüdische Läden geschlossen. - Das Cafe Ankerhof im I. Bezirk wurde von der „Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft“ übernommen. Die Rothschild-Bank ging in die Hände der „österreichischen Kreditanstalt für öffentliche Arbeiten“ über.

Die Selbstmorde und Selbstmordversuche in den Reihen der Wiener Juden nahmen täglich zu. In der Woche nach der Machtergreifung zählte man in der ersten Wochenhälfte täglich etwa zehn Selbstmorde und Selbstmordversuche, in der zweiten Wochenhäfte täglich zwanzig, am Samstag stieg die Ziffer auf fünfzig. Am 21. März fanden auf dem Zentralfriedhof, jüdische Abteilung, 54 Beerdigungen statt, am 22. März 112. In normalen Zeiten sind 6 bis 8 Beerdigungen der Durchschnitt. U. a. schieden folgende jüdische Persönlichkeiten durch Selbstmord aus dem Leben:

Der ehemalige Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatts“, Peter Curanda und seine Mutter; der Röntgenologe Dr. Wolfang Denk; Leiter der Wiener chirurgischen Universitätsklinik, Rechtsanwalt Dr. Jaroslav Fantl und seine Frau, der Kulturhistoriker und Dramatiker Egon Friedeil, Großkonfektionär Gerstl, Generaldirektor der Delta-Schuhgeschäfte Klausner, der Tiroler Großindustrielle Friedrich Reit-linger mit seiner Tochter, der Mathematiker und Versicherungsstatistiker Albert Smolenskin mit seiner Frau, der Flauptredakteur der „Neuen Freien Presse“, Dr. Kurt Sonnenfeld mit seiner Frau und seinem Kinde; Rechtsanwalt Dr. Moritz Stemberg, seine Frau und sein Sohn; die Schriftstellerin und Übersetzerin Marianne Trebitsch-Stein.

Die Not wuchs von Tag zu Tag. Aus der Provinz kam Zustrom von vertriebenen Juden. Endlose Reihen standen vor den jüdischen sozialen Anstalten, die aber bald bis auf fünf Ausspeisungen von den Behörden geschlossen und aller Mittel beraubt wurden. Die Freigabe der Büros wurde an die Bedingung geknüpft, daß die jüdische Gemeinde 550 000 RM, das sind 800 000 Schillinge an die Behörden ablieferte. Ein Teil davon ist bereits entrichtet. Einige der Büros wurden im Mai wieder geöffnet.

Gleichzeitig wurde den Juden die Auswanderung dadurch unmöglich gemacht, daß man ihnen die Pässe abnahm. Inzwischen sind 30 000 Auswandererpässe bewilligt worden. Aber es ist schwer, die Einreiseerlaubnis in andere Länder zu erhalten. Bei der Kultusgemeinde sind bis jetzt 80 000 Menschen für die Auswanderung registriert, beim Palästinaamt ca. 10 000.

 

b) Die Judenverfolgung im alten Reich

Die Frage nach den Beweggründen der neuen, mit maßloser Brutalität durchgeführten Judenverfolgung, ist schwer zu beantworten. Richtig ist, daß die Diktatur, um ihre Propagandamaschinerie in Schwung zu halten und die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu erklären, einen Feind braucht. Nichts ist bequemer und gefahrloser, als „Alljuda“ als diesen Feind hinzustellen. Aber diese Erklärung reicht nicht aus, zumal es nicht den Anschein hat, als bemühe man sich darum, wenigstens einige „Feinde“ dieser Art im Lande festzuhalten, um sie in Zukunft für alle Schwierigkeiten verantwortlich machen zu können. Vielmehr scheint es das Regime auf die völlige Vertreibung der Juden abgesehen zu haben.

Die Einnahme, die dem Reich aus der Beschlagnahme jüdischer Vermögen erwächst, wird zwar im Augenblick dringend gebraucht, aber ihre Bedeutung darf nicht überschätzt werden. Das jüdische Kapital ist bereits weitgehend zerstört und durch die Arisierung werden Unternehmungen, die vor dem Gewinn abwarfen, häufig in Verlustbetriebe verwandelt.

Schließlich ist die Judenvertreibung auch ein Teil der deutschen Kriegsvorbereitungen. Das Regime kann sich im Kriegsfall auf die Juden nicht verlassen. Alle 400 000 Juden aber einzusperren oder abzuschlachten, ist schwer möglich. Deshalb ist es das beste, wenn die Juden, so schnell es geht, aus dem Lande getrieben werden. Aber auch dieser Gesichtspunkt kann nicht allein ausschlaggebend sein. Denn das Regime könnte die Auswanderung der Juden außerordentlich beschleunigen, wenn es die steuerlichen und devisenrechtlichen Auswanderungsbestimmungen auch nur ein wenig erleichtern würde.

Man wird sich damit abfinden müssen, daß die Suche nach rein rationalen Beweggründen an eine Grenze stößt. Einige der Gesetze und Verfügungen, die wir im folgenden aufzählen, können nur von einem wütenden Rassenhaß diktiert sein, der sich jeder vernunftmäßigen Deutung entzieht. Die Sucht, ohne Unterlaß auf Besiegte und Wehrlose einzuschlagen, eine Sucht, die der Nationalsozialismus übrigens nicht nur den Juden gegenüber an den Tag legt, ist für den objektiven Beobachter unfaßbar. Es bleibt nichts anderes übrig, als ihr Vorhandensein festzustellen, und ihre jeweiligen Wirkungen zu registrieren.

Wir zählen zunächst die wichtigsten Gesetze und Verordnungen auf, mit deren Hilfe in den letzten Monaten die Aushungerung und Demütigung der deutschen Juden verschärft wurde.

Die Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 12. Februar (veröffentlicht im RGB, Teil I, vom 18. 2. 1938) bestimmt, daß für jüdische Kinder keine Kinderermäßigung mehr gewährt wird, d. h., daß künftig alle jüdischen Familien Steuern in solcher Höhe zu entrichten haben, als ob sie keine Kinder hätten (Neufassung des § 32). Auch die neueinge-führten sozialen Erleichterungen für ältere Männer und Frauen fallen für jüdische Steuerzahler weg. Eine „Ausdehnung des Rassegedankens auf die Vermögenssteuer“ ist in Aussicht gestellt.

Mit dem Inkrafttreten des am 30. März 1938 veröffentlichten „Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ haben diese Institutionen und ihre Verbände die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts verloren.

Sie gelten als Vereine. § 3 des Gesetzes lautet:

(1) Der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde bedürfen: Beschlüsse der Organe der jüdischen Kultusvereinigungen und ihrer Verbände a) bei Bildung, Veränderung und Auflösung der Vereinigungen und ihrer Verbände, b) bei Veräußerungen oder wesentlichen Veränderungen von Gegenständen, die einen geschichtlichen, wissenschaftlichen oder Kunstwert haben, insbesondere von Archiven oder Teilen von solchen.

(2) Die höhere Verwaltungsbehörde kann gegen die Berufung der Mitglieder der Organe der jüdischen Kultusvereinigungen und ihrer Verbände Einspruch erheben.

Diese Änderung der Rechtsform bedeutet zugleich eine Benachteiligung in steuerlicher Hinsicht, da Körperschaften des öffentlichen Rechts von einer Reihe wichtiger Steuern nicht betroffen werden, die Vereine des bürgerlichen Rechts zu tragen haben. Vor allem handelt es sich um die Grundsteuer und die Gebäudeentschuldungssteuer.

Unter dem Datum des 22. April hat Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan eine „ Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“ erlassen, in der es heißt:

„Ein deutscher Staatsangehöriger, der aus eigennützigen Beweggründen dabei mitwirkt, den jüdischen Charakter eines Gewerbebetriebes zur Irreführung der Bevölkerung oder der Behörden bewußt zu verschleiern, wird mit Zuchthaus, in weniger schweren Fällen mit Gefängnis, jedoch nicht unter einem Jahr, und mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer für einen Juden ein Rechtsgeschäft schließt und dabei unter Irreführung des anderen Teils die Tatsache, daß er für einen Juden tätig ist, verschweigt.“

Am 26. April 1938 trat die „ Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ in Kraft (Reichsgesetzblatt I. S. 414), nach der alle jüdischen Vermögen über 5000 RMK bis zum 30. Juni anzumelden waren, gleichgültig, ob sich das Vermögen im In- oder Ausland befindet. Verletzung oder Umgehung der Anordnung wird mit Gefängnis bis zu 10 Jahren oder mit Geldstrafe bis zur Konfiskation des Vermögens bestraft.

Die am gleichen Tage von Göring erlassene „Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ besagt u. a.:

Artikel I - §1

(1) Die Veräußerung oder die Verpachtung eines gewerblichen, land-oder forstwirtschaftlichen Betriebes sowie die Bestellung eines Nießbrauchs an einem solchen Betrieb bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung, wenn an dem Rechtsgeschäft ein Jude als Vertragschließender beteiligt ist. Das gleiche gilt für die Verpflichtung zur Vornahme eines solchen Rechtsgeschäfts. . .

Artikel II . - §7

Die Neueröffnung eines jüdischen Gewerbebetriebes oder die Zweigniederlassung eines jüdischen Gewerbebetriebes bedarf der Genehmigung-

„Der Angriff“ schrieb in seinem Kommentar zu diesen Verordnungen:

„Wir können mit völliger Sicherheit annehmen, daß ein großer Teil dieses Reichtums durch unsaubere Methoden erworben worden ist und der Kommissar für den Vierjahresplan deshalb angeordnet hat, daß das jüdische Kapital in den Dienst des Geschäftslebens und der Industrie des deutschen Volkes gestellt wird.“

Der Reichsfinanzminister hat in einem Erlaß vom 11. Juni über die Heranziehung außerordentlicher Einkünfte zur Einkommenssteuer auf Grund des § 34 des Einkommensteuergesetzes gewisse steuerliche Erleichterungen eingeräumt, von denen die jüdischen Steuerpflichtigen ausdrücklich ausgeschlossen worden sind.

Im Reichsgesetzblatt vom 15. Juni 1938 wurde die „Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ veröffentlicht, die den Begriff eines jüdischen Gewerbebetriebes festlegt. U. a. wird bestimmt, daß eine Aktiengesellschaft bereits dann als jüdisch anzusehen ist, wenn im Vorstand oder im Aufsichtsrat auch nur ein Jude vertreten ist. Kapitalsmäßig gesehen, gilt eine Aktiengesellschaft als jüdisch, wenn ein Viertel des Kapitals in jüdischen Händen ist. Weiter wird verfügt, daß jüdische Gewerbebetriebe in ein Verzeichnis einzutragen sind.

Am 6. Juli wurde ein „Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung“ erlassen, wonach Juden und jüdischen Unternehmungen der Betrieb folgender Gewerbe untersagt wird:

1. Das Bewachungsgewerbe, 2. die gewerbsmäßige Auskunftserteilung über Vermögensverhältnisse oder persönliche Angelegenheiten, 3. der Handel mit Grundstücken, 4. Geschäfte gewerbsmäßiger Vermittlungsagenten für Immobiliarverträge und Darlehen sowie das Gewerbe der Haus- und Grundstücksverwalter, 5. gewerbsmäßige Heiratsvermittler mit Ausnahme der Vermittlung von Ehe zwischen Juden oder zwischen Juden und jüdischen Mischlingen ersten Grades, 6. das Fremdenführergewerbe.

Jüdische Gewerbetreibende, die „zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes ein Gewerbe nach Ziffer 3 und 4 betreiben“, dürfen ihre Tätigkeit bis zum 31. Dezember 1938 weiterführen. Wandergewerbescheine, Legitimationskarten und Stadthausierscheine, die an Juden ausgegeben wurden, verlieren mit dem 30. September ihre Gültigkeit. Damit ist auch den jüdischen Handelsvertretern das Gewerbe untersagt.

Durch die vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 (Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 969) werden die Juden aus der Ärzteschaft in Deutschland ausgeschaltet. Mit dem 30. September 1938 erlöschen die Bestallungen und Approbitationen der jüdischen Ärzte.

Ehemaligen jüdischen Ärzten kann die Genehmigung erteilt werden, weiterhin Juden zu behandeln. Sie bleiben aber auch dann nicht Ärzte und können keiner Berufs- und Standesorganisation angehören. Übrigens wird in den Kommentaren betont, daß die Genehmigung nur dort gegeben werden soll, „wo jüdische Bevökerung in besonders starkem Maße zusammengeballt ist“, etwa in Berlin und Wien. Anderwärts werden Juden gezwungen sein, sich von arischen Ärzten behandeln zu lassen, auch wenn „ehemalige“ jüdische Ärzte am Ort wohnen. - Weiter enthält die Verordnung noch folgende Bestimmung:

„Mietverhältnisse über Räume, die ein jüdischer Arzt für sich, seine Familie oder seine Berufsausübung gemietet hat, können vorzeitig gekündigt werden. Die Kündigung muß für den 30. September erfolgen und dem Vermieter spätestens am 15. August zugehen.“

Das ist keine Schutzvorschrift zugunsten der betroffenen jüdischen Ärzte, sondern ein Freibrief für die Hausbesitzer, die Ärzte vorzeitig herauszusetzen. Dem Mieter, also dem Arzt, steht kein Widerspruchsrecht gegen eine solche Kündigung zu, wohl aber dem Vermieter.

Im Reichsgesetzblatt, Teil I, ist am 26. 7. eine Verordnung über Kennkarten erschienen. Dieser neue Inlandsausweis ist außer für Wehrpflichtige und Grenzgänger auch für Juden zwingend vorgeschrieben.

Die Juden müssen, sobald sie eine Kennkarte erhalten haben, bei Anträgen, die sie an amtliche oder parteiamtliche Dienststellen richten, unaufgefordert auf ihre Eigenschaft als Jude hinzuweisen; sie müssen außerdem Kennort und Kennummer ihrer Kennkarte angeben. Das gleiche gilt für jede Art von Anfragen und Eingaben, die Juden an amtliche oder parteiamtliche Dienststellen richten, und bei der polizeilichen Meldung.

Die Gebühr für die Ausstellung der Kennkarte beträgt im allgemeinen drei Reichsmark. Die Personen, die dem Kennkartenzwang unterliegen, ausgenommen die Juden, bezahlen nur eine Reichsmark.

Nach einer Verfügung des Reichspostministers vom 13. August dürfen arische Absender auf ihren Postwurfsendungen künftig durch den Zusatz „nicht an Juden“ zum Ausdruck bringen, daß bei der Verteilung jüdische Empfänger unberücksichtigt bleiben sollen. Weiter wird verfügt, daß Anträgen von jüdischen Absendern auf Zulassung zum Werbeantwortverfahren nicht mehr zu entsprechen ist. Bereits erteilte Genehmigungen werden widerrufen.

Am 14. August hat die Reichsregierung allen deutschen Banken mitgeteilt, daß die Safes von Juden beschlagnahmt sind und in Zukunft nur geöffnet werden dürfen in Gegenwan eines SS-Beauftragten, eines verantwortlichen Vertreters der Bank und des Inhabers.

Weitere gesetzliche Maßnahmen gegen die Juden werden bereits angekündigt. So teilt das „Deutsche Nachrichtenbüro“ am 29. April mit:

„Wiederholt sind deutsche Rechtsanwälte vor die Frage gestellt worden, wieweit es sich mit ihren allgemeinen Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft und ihren besonderen Berufspflichten vereinbaren läßt, einen Juden in Rechtsfragen zu beraten oder zu vertreten. Im Zusammenhang hiermit steht die weitere Frage, wem etwa sonst die Vertretung von Juden übertragen werden kann, insbesondere in den Verfahren, für die eine Vertretung durch Rechtsanwälte gesetzlich vorgeschrieben ist. Wie wir hören, werden diese Fragen mit Beschleunigung allgemein durch Gesetz geregelt werden.“

Schon heute legt der „NS-Rechtswahrerbund“ seinen Mitgliedern nahe, die Vertretung von Juden abzulehnen. Die Gauführung des NSRB München-Oberbayern droht solchen Anwälten, die Juden vertreten, sogar mit dem Ausschluß aus dem Rechtswahrerbund.

Neuerungen im Staatsangehörigkeitsrecht kündigt Staatssekretär Dr. Stuckart vom Reichsministerium des Innern in der Festnummer der Zeitschrift der „Akademie für Deutsches Recht“ zur fünften Jahrestagung der Akademie an. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht werde daher Vorsorge treffen müssen, daß Juden die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt, Legitimation und Heirat künftig nicht mehr erwerben können. Demnach wird daran gedacht, den künftig in Deutschland zur Welt kommenden Kindern jüdischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit auch dann zu versagen, wenn beide Eltern deutsche Staatsangehörige sind.

Über diese Gesetze und Verordnungen hinaus wird die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben noch durch Einzelmaßnahmen von Gemeinden, Organisationen und Institutionen aller Art betrieben. Einige Beispiele aus den letzten Monaten:

Der Bürgermeister der Stadt Eltmann (Mainfranken) hat verfügt, daß in Zukunft alle diejenigen Geschäftsleute und Einwohner der Stadt Eltmann, die noch mit Juden Geschäfte machen oder in deren Häuser Juden ein- und ausgehen, von seiten der Stadt keinerlei Aufträge mehr erhalten und auch sonst keine Unterstützung mehr bekommen.

Aufsichtsrat und Vorstand der Volksbank G.m.b.H. in Groß-Gerau (Hessen-Nassau) haben folgenden Beschluß gefaßt und bereits durchgeführt:

1. Alle Juden werden sofort aus der Genossenschaft ausgeschlossen, ganz gleich, ob sie Sparguthaben oder Kredite haben oder nicht.

2. Die Bankleitung hat sämtliche Wirtschaftsverbindungen mit Juden gelöst.

3. Das Geld für Kredite fließt nur noch deutschen Volksgenossen zu und den Juden werden keine Zinsen für ihr ergaunertes Kapital mehr bezahlt.

Die Behörden der Stadt Zwickau in Sachsen haben verfügt, daß deutsche Jugendliche nicht mehr als Lehrlinge in jüdischen Läden und Betrieben beschäftigt sein dürfen, auch wenn sie unter der direkten Anleitung eines Ariers arbeiten.

Die Kreisbauernschaft Birkenfeld (Nahe) teilt mit, daß sie allein im letzten Jahre 22 jüdische Viehhandelsbetriebe ausgeschaltet hat. Am 1. Mai 1938 sind drei weitere jüdische Viehhandlungen in diesem Bezirk geschlossen worden.

Am 31. Dezember 1933 sind in Kurhessen neben 435 arischen noch 360 jüdische Viehhändler gezählt worden. Eine neue Zusammenstellung mit dem Stichtag vom 10. Februar 1938 hat ergeben, daß in Kurhessen kein einziger jüdischer Viehhändler mehr seinen Beruf ausübt.

Die Werbegemeinschaft des deutschen Lederwarenfaches teilte im April mit, daß sie „nun vollständig judenrein“ sei. Juden werden nicht mehr aufgenommen und jedes Mitglied hat sich verpflichten müssen, keinerlei Geschäfte mehr mit Juden zu machen.

Auf Anordnung des Reichsorganisationsleiters Dr. Ley ist das Reichsbezugsquellen-Archiv des Hauptamtes für Handwerk und Handel in das Zentralbüro der Deutschen Arbeitsfront eingegliedert und der Zentralstelle zugeteilt worden. Zum Aufgabengebiet des Reichsbezugsquellen-Archives gehört laut amtlicher Mitteilung:

„Die grundsätzliche Beobachtung der gesamten Judenfrage in der Wirtschaft und der Bearbeitung der damit zusammenhängenden politischen Fragen.

Die Beratung und laufenden Prüfungen von Gleichschaltungen.

Die Feststellung der arischen Struktur von Firmen und Auskunfterteilung an Partei-, Staats- und Kommunalstellen sowie Aufklärung der Volksgenossen in geeigneter Form.“

Die „Arisierung“ jüdischer Firmen hat an Bedeutung und Umfang seit unserem letzten Bericht im Februar 1938 noch erheblich gewonnen. Die Liste der arisierten Unternehmen hat einen solchen Umfang angenommen, daß wir sie nicht mehr wiedergeben und Einzelfirmen nur noch in Ausnahmefällen nennen können. - Immer mehr Gewerbezweige melden ihre vollständige „Judenreinheit“. So wurde z. B. im März die letzte in den Händen eines Juden befindliche Schuhfabrik arisiert, die Firma Jacob Adolf in Pirmasens. An der Spitze des Betriebes steht jetzt der Vorsteher der nationalsozialistischen Stadtverordnetenfraktion, Fritz Reinhardt.

Die deutsche Rechtsprechung hat sich der herrschenden Auffassung, daß der Jude minderwertig und allein durch seine Abstammung schuldig sei, mit der Zeit angepaßt. Von dem anfänglichen Bestreben, die Gleichheit vor dem Gesetz nicht ganz zerstören zu lassen, ist kaum mehr etwas zu spüren. In dem Maße, in dem jüngere Richter nachrücken, verschlechtert sich weiter die Situation jüdischer Angeklagter und die Situation solcher Arier, die des Umgangs mit Juden überführt sind. Wir geben einige Entscheidungen wieder, die uns typisch erscheinen.

Das Amtsgericht Berlin-Schöneberg hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß die - grundsätzlich unpfändbaren - Rundfunkgeräte bei jüdischen Besitzern der Pfändung unterliegen. Das Gericht bezieht sich in seinem Urteil auf das Reichsbürgergesetz, nach dem Juden nicht deutsche Staatsbürger sein können. Damit sei offenbar, daß der Staat in keiner Hinsicht, sei es in wirtschaftlicher, kultureller oder politischer, irgendein Interesse an einer irgendwie gearteten staatsbürgerlichen Erziehung der in Deutschland lebenden Juden habe, es sei denn das Interesse an einer strikten Beachtung der bestehenden Gesetze und Verordnungen. In dieser Beziehung aber stehe den Juden die Tagespresse als erschöpfende Informationsquelle zur Verfügung.

Das Amtsgericht Nürnberg hat eine jüdische Familie zur Räumung ihrer Wohnung in einem deutschen Hause verurteilt. Der Vermieter war ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen. In der Urteilsbegründung wurde erklärt, daß die Mieter als Juden nicht Volksgenossen seien. Daraus ergebe sich gerade für das gemeinnützige Wohnungsunternehmen die Pflicht, solange noch eine größere Zahl deutscher Volksgenossen in unzureichenden Behausungen lebe, die Mietaufhebung zu betreiben. Der Klageanspruch diene im übrigen dem begrüßenswerten Ziel einer räumlichen Scheidung zwischen Ariern und Nichtariern.

Ähnlich hat das Oberlandesgericht Köln entschieden, das sich auf den Standpunkt stellte, ein Haus werde dadurch entwertet, daß ein Jude als Mitbewohner darin untergebracht sei.

Das Arbeitsgericht Leipzig hat die Entlassung eines Juden gutgeheißen, die damit begründet worden war, daß die Erfolgsaussichten eines Betriebes im Leistungskampf der Betriebe durch die Zugehörigkeit von Juden wesentlich beeinträchtigt würden. Es könne aber keinem deut-A 75 sehen Betrieb verwehrt werden, sich am Leistungskampf zu beteiligen. Eine solche Beteiligung entspreche der Gemeinschaftsehre und dem Leistungsprinzip. Es seien daher keineswegs eigennützige Motive, die bei der Kündigung des Juden maßgebend seien, sondern gerade die Interessen der Gemeinschaft.

Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Zwickau hat in einer Beschwerdesache entschieden, daß einem jüdischen Betriebe schlechthin die Tauglichkeit als Lehrstelle für Deutsche abgesprochen werden müsse. In der Begründung heißt es, daß „sich der Lebenskampf des deutschen Volkes um die Ausschaltung des jüdischen Einflusses innerhalb eines jüdischen Betriebes nicht praktisch betätigen könne“.

Das Landeserbhofgericht in Celle hat in einem Entschluß festgestellt, daß „geschäftliche Verbindungen mit einem jüdischen Viehhändler einen Bauern grundsätzlich unehrbar machen“.

Das Oberlandesgericht Celle hat eine Ehe für ungültig erklärt, weil die Frau vor der Eheschließung (etwa im Jahre 1932) Beziehungen zu einem Juden unterhalten und der Mann das erst jetzt erfahren habe. (Irrtum über solche persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten, deren Kenntnis von der Eingehung der Ehe abgehalten hätte.) In der Begründung erklärt das Gericht, aus den Beziehungen der Frau zu dem Juden offenbare sich eine persönliche Eigenschaft. Wenn die Vorgänge auch ganz oder zum größten Teil in die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme fielen, so sei doch diese Eigenschaft der beklagten Frau nach den heutigen Anschauungen zu beurteilen, umso mehr, als sich die Vorfälle unmittelbar vor der Machtübernahme ereignet hätten. Die Frau habe nicht so viel Rassengefühl und Rassenstolz besessen, daß sie den näheren, auf erotischer Grundlage beruhenden Umgang mit einem Juden gemieden habe. Sie habe sich dadurch selbst entwertet.

Das Landgericht hatte in erster Instanz die Anfechtungsklage des Ehemannes abgewiesen.

Das Chemnitzer Gericht sprach die Auflösung einer Ehe aus folgendem Grunde aus: Ein Ehegatte, dessen Frau ein uneheliches Kind in die Ehe mitbrachte, erfuhr erst jetzt, nach 22 Jahren, daß das Kind von einem Juden stamme. Das Gericht erklärte, daß durch den vorehelichen Verkehr mit einem Juden die volle deutschblütige Reinheit der Ehe beeinträchtigt war; sie sei darum aufzulösen.

Im folgenden zählen wir die uns bekanntgewordenen Rassenschande-Urteile auf. Sie wurden in der Zeit vom Februar bis zum Juli 1938 gefällt.

Name des Verurteilten:     Wohnort:                    Urteil:

Altgenug, Adolf              Hannover             5 Jahre Zuchthaus
Feiertag                        Dähre                   3 ½ Jahre Zuchthaus
Gross, Heinz                  Köln                     3 Jahre Zuchthaus
Hirsch, Walter                Berlin                   2 Jahre Zuchthaus
Levy, Max                      Rhaunen               2 Jahre, 6 Monate Zuchthaus
Nussbaum, Dr. Robert      Bielefeld              3 Jahre Zuchthaus
Oppenheimer, Arthur       Wanne-Eickel        3 ½ Jahre Zuchthaus
Rascher, Wolf                 Teppenberg           10 Jahre Zuchthaus
Scheyer, Paul                 Bochum                1 Jahr 6 Monate Zuchthaus
Schönfeld, Martin           Hannover              3 ½ Jahre Zuchthaus.

Über all den gesetzgeberischen, behördlichen, organisatorischen, polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen wird die antisemitische Massenpropaganda nicht vernachlässigt, die zwei Aufgaben hat: einerseits den Judenhaß in jenen Kreisen zu säen, die bis heute noch nicht für den Rassengedanken gewonnen werden konnten, und andererseits die erzielten „Erfolge“ vor den - in anderer Beziehung enttäuschten - antisemitischen Parteigängern propagandistisch auszuwerten. In Sachsen wurde zu diesem Zweck vom 4. bis zum 19. März eine „Großaktion“ mit 1350 Versammlungen veranstaltet, die unter dem Motto stand: „Ein Volk bricht Ketten.“ Der sächsische Gauleiter Mutschmann sagte bei dieser Gelegenheit in Dresden, es sei wiederum einem Juden geglückt, unter Zurücklassung einer Steuerschuld von 100 000 Mark ins Ausland zu flüchten. Man müsse erwägen, ob in solchen Fällen nicht alle Juden der betreffenden Stadt für Verluste solcher Art verantwortlich gemacht werden könnten. Der sächsische Staatsminister Lenk erklärte in eine Versammlung in Tharandt: „Es gibt keinen ehrenhaften Juden. Jeder Hebräer muß feilschen, schwindeln und betrügen; das liegt ihm schon im Blut.“ Auf diesen Ton waren alle Reden der „Großaktion“ abgestimmt. Den Lehrern wurde nahegelegt, das Gehörte „im Unterricht nutzbar zu machen“.

Es wird überhaupt viel Gewicht darauf gelegt, die Kinder in dem anerzogenen Judenhaß dauernd zu bestärken. Julius Streicher hat ein zweites Bilderbuch herausgegeben: „Der Giftpilz“, Bilder von Fips, Erzählungen von Hiemer. U. a. enthält es eine Geschichte: „Wie zwei Frauen von Judenanwälten betrogen wurden.“ Streicher selbst kündigt das Buch im „Stürmer“ (Nr. 13/1938) mit den Worten an:

„Was in die Herzen der frühen Jugend hineingelegt wird, geht mit durchs ganze Leben. So, wie das Kirchenchristentum schon in das Kind unablässig Dinge hineinhämmert, die es bis zum Abschiednehmen aus dieser Welt als religiöses Glaubensgut begleiten, so soll auch der deutsche Mensch schon in seiner frühen Jugend ein erstes Wissen vom Teufel in Menschengestalt beigebracht erhalten.“

An intellektuelle Kreise, die auf so primitive Weise nicht zu fangen sind, sucht die antisemitische Propaganda mit scheinwissenschaftlichen Veröffentlichungen heranzukommen. Auf der dritten Jahrestagung des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands“ in der Universität München, betonte der Präsident des Instituts, Professor Walter Frank, es sei die zentrale Aufgabe des Reichsinstituts, „Mittelpunkt des Antisemitismus in der deutschen Wissenschaft und auf den deutschen Hochschulen zu sein“. An die Mitglieder wurde eine „Bibliographie der Judenfrage“ verteilt, die publizistische Pläne zu diesem Thema bis zum Jahre 1948 umfaßt. Frank gab bekannt, das Reich habe beträchtliche Sondermittel für die im Entstehen begriffenen Bücher über die Judenfrage zur Verfügung gestellt.

Das ständige antisemitische Trommelfeuer hat zur Folge, daß deutsche Juden sich in kleineren Provinzorten kaum mehr halten können. Immer mehr Orte melden sich als „judenrein“ (zuletzt Feuchtwangen und Gudenberg). Ebenso geben einzelne Badeorte in der Presse bekannt, daß Juden entweder zum Ort oder wenigstens zu den Kuranlagen keinen Zutritt haben. So u. a. Wiesbaden, Warmbrunn, Schandau, Oberschlema.

Die Auswanderung der Juden ist immer schwieriger geworden. Die Paßentziehung, die Devisenbestimmungen, der niedrige Kurs der Mark bringen endlose Schwierigkeiten mit sich. Von einem Vermögen im Betrage von 100 000 RM können etwa 7,7% transferiert werden, von 10 000 RM etwa 10%. Es bleibt den Juden, die aus den Provinzorten verjagt werden, nichts anderes übrig, als zunächst in die größeren Städte - vor allem nach Berlin - zu flüchten. Viele hoffen auch, von dort die Auswanderung leichter ermöglichen zu können. Die Tatsache aber, daß auf diese Weise ein starker jüdischer Zustrom nach der Hauptstadt fühlbar ist, gibt zu neuer antisemitischer Hetze Anlaß. Bei der Sonnenwendfeier in Berlin, am 21. Juni, hielt Goebbels vor etwa 120 000 Teilnehmern eine Rede, in der er u. a. sagte:

„Ist es nicht geradezu empörend, und treibt es einem nicht die Zornesröte ins Gesicht, wenn man bedenkt, daß in den letzten Monaten nicht weniger als 3000 Juden nach Berlin eingewandert sind? Was wollen die hier? Sie sollen dahin gehen, woher sie gekommen sind, und sie sollen uns nicht noch weiter lästig fallen. Sie sollen nicht so tun, als wenn es eine nationalsozialistische Revolution überhaupt nicht gegeben hätte.“

c) Einzelberichte

Die nachstehenden Berichte aus dem Reich zeigen, daß die Judenverfolgung der letzten Monate den Boykott von 1933 noch bei weitem übertrifft. Die Berichte zeigen aber auch, daß die Bevölkerung zum großen Teil die Judenverfolgung nach wie vor nicht billigt.

Bayern, 1. Bericht: Die Juden sind aus den Innungen hinausgeworfen worden. Es ist ganz undenkbar, daß es etwa noch einem jüdischen Friseur gelingen könnte, ein Geschäft aufrechtzuerhalten. Er müßte, da es sich um eine Zwangsinnung handelt, Mitglied der Innung sein, aber er wird nicht aufgenommen. Er müßte eine Meisterprüfung ablegen, aber Juden werden zur Meisterprüfung nicht zugelassen. So gibt es eben in ganz Nürnberg keine jüdischen Friseure mehr und auch keine jüdischen Modistinnen.

2. Bericht: Dr. Richard Kohn, der Chef des Bankhauses Kohn, früherer demokratischer Stadtrat in Nürnberg, ist wegen angeblicher Rassenschande in Untersuchungshaft gekommen. Nun erfährt man, daß das einst so seriöse Bankhaus Anton Kohn wirtschaftlich erledigt ist. Das Kaufhaus Schocken in Nürnberg ist von der Firma Witt in Weiden aufgekauft worden.

Sodwestdeutschland, 1. Bericht: Zur Zeit erleben wir in Mannheim wieder eine neue Flut von Judenverfolgungen. Selbst kleinere Geschäfte sollen nun durchweg in arische Hände kommen. Die Juden sollen ganz aus dem Geschäftsleben verdrängt werden.

Über dieses Thema wird in den Wirtschaften lebhaft debattiert. Selbst indifferente Geschäftsleute sind gegen die angewandten Praktiken und verteidigen vielfach die Juden. Ein Geschäftsmann sagte kürzlich zu einem hundertprozentigen Nazi: „Wenn Ihr die Juden schon aus dem Lande haben wollt, dann seid wenigstens so anständig, ihnen ihr Geld mitzugeben, damit sie sich im Ausland eine neue Existenz gründen können.“ Bei solchen Debatten setzen sich auch Handwerker und kleine Kaufleute, die noch vor ein oder zwei Jahren gegen die Judenkaufhäuser geschrieen haben, für die Juden ein. Manche Geschäftsleute vertreten die Ansicht, ob das Kaufhaus nun Tietz oder Union, Knopf oder Monopol heiße, sei doch gleichgültig. „Die Warenhäuser bleiben eben Schmutzkonkurrenzfirmen gegen den Mittelstand, ob sie jüdisch oder arisch sind.“

„Die Enteignung der jüdischen Geschäfte, von der wir uns viel versprochen haben, ist ein Schlag ins Wasser“, sagte mir die Inhaberin eines alten Stoffgeschäftes. „In die Judengeschäfte setzen sich eben andere hinein, und die Konkurrenz bleibt. Sie wird sogar gefährlicher, A 80 weil die Arier die Geschäfte zu einem Pappenstiel kaufen und dann mit besonders billigen Preisen die Kundschaft anziehen.“

2. Bericht: Eine antisemitische Aktion hat vom 19. bis zum 25. Juni in Konstanz stattgefunden. An den Eingängen zu den jüdischen Geschäften war über Nacht die Inschrift: „Jüdisches Geschäft“ auf den Gehweg gemalt worden. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag (25.-26. Juni) hat dann eine neue Sonderaktion gegen das beste und älteste Konfektionsgeschäft Spiegel & Wolf eingesetzt. In diesem Geschäft ist immer noch wegen der vorzüglichen Bedienung viel gekauft worden. An den Fenstern stand ganz dick und unförmig geschrieben: „Saujud“ und „Juda verrecke“. Auf dem Gehweg vor dem Geschäft, vor allem vor den Türen: „Jüdisches Geschäft.“ Die Täter müssen gestört worden sein, denn ein Fenster war nur noch ganz dick vollgespritzt und den Farbkübel hatten sie stehen gelassen. Dazu kam noch, daß am Samstag am hellen Tage ein SS-Lastauto so an die ausgezogene Sonnenüberdachung angefahren war, daß es die Tragwinkeleisen gegen das größte Schaufenster gedrückt und dieses vollständig zerschmettert hatte. Das sah alles grausig aus, und der Menschenstrom, der am Sonntag an dem Geschäft vorbeizog, wollte kein Ende nehmen. Es waren auch viele Ausländer da, weil die große Ruderregatta auf dem Bodensee stattfand. So sahen auch sie die Zerstörungen. Alle Leute schimpften über die Verschmierungen und Zerstörungen. Die Vorbeipromenierenden machten ihrem Unwillen laut und ungeniert Luft.

Die letzten jüdischen Geschäfte in Konstanz sind nun im Verkauf begriffen, darunter solche mit 60- und 80-jährigem Bestehen, alte gute Firmen. Sie konnten sich nicht mehr halten.

In der Woche vom 19. bis 25. Juni 1938 gab es in Karlsruhe verschiedene Demonstrationen gegen jüdische Geschäfte, die dann vorzeitig schließen mußten. Die Polizei kam immer erst, wenn der größte Rummel schon vorbei war. Bei einigen Läden wurden die Fenster verschmiert mit Inschriften wie: „Dies ist ein Judengeschäft“ usw.

In Kehl kam es am Donnerstag, den 23. Juni ebenfalls zu einer Demonstration gegen ein jüdisches Geschäft. Die Polizei rückte aber sofort an und unterdrückte die Ausschreitung energisch. Kehl liegt wohl doch zu nahe an der französischen Grenze. In den Grenzgebieten merkt man nicht viel von einer Judenhetze. Hier geht man anders vor.

Man zwingt einfach die wenigen Juden, die noch ein Geschäft haben, an einen Arier zu verkaufen. Ich kenne einen Fall, wo der Verkauf eines jüdischen Geschäfts sich nur deswegen verzögert, weil die arischen Geschäftsleute bis jetzt noch nicht einig geworden sind, wer von ihnen den fetten Brocken zu schlucken bekommen soll.

3. Bericht: In der Pfalz sind in den letzten Monaten fast alle jüdischen Betriebe und Geschäfte verschwunden. Die Bekanntmachungen des Amtsgerichtes bringen fortgesetzt Hinweise auf die Firmen, die als erloschen zu gelten haben. Darunter befinden sich auch die unschein-: barsten Erwerbsmöglichkeiten. Die Juden können jetzt weder Arbeiter oder Angestellte, noch Gewerbetreibende, Händler, Unternehmer oder Bankiers sein. Auch die freien Berufe sind so gut wie gesperrt. Alle vernünftigen Menschen verabscheuen dieses Vorgehen.

Auch in Worms hat die Judenverfolgung scharfe Formen angenommen. Man schreibt die Käufer in jüdischen Geschäften auf und bedroht sie. Alle Geschäfte sind kenntlich gemacht. Man hindert auch die Juden, in anderen Geschäften zu kaufen und verweigert ihnen sogar Lebensmittel. Eine junge Frau, die einem Boykottposten kräftig ihre Meinung sagte, erhielt den Beifall aller Umstehenden.

Im lokalen Teil der Pirmasenser Zeitung vom 2. Juli 1938 war folgende Notiz zu lesen:

„Selbstmord durch Gas. In der vergangenen Nacht hat sich der jüdische Kaufmann Theodor Rubel in seiner Wohnung, Hauptstraße 30, mit Gas vergiftet. Der Grund dürfte in nervösen Gemütsstörungen zu sehen sein, an denen er schon Jahre lang leidet.“

Rubel war Kriegsteilnehmer beim 25. bayerischen Infanterie-Regiment und hat an den Kämpfen in Flandern, in der Campagne und bei Verdun teilgenommen. Er betrieb in Pirmasens ein Porzellanwarengeschäft, das er „im Zuge der Arisierung“ selbstverständlich aufgeben mußte. Da er nie mit Gütern reich gesegnet war und sich schlecht und recht durchs Leben schlug, stand er jetzt einfach vor dem Nichts, denn Bargeld für sein Geschäft hat er nicht erhalten und irgendeine Existenzmöglichkeit gibt es für ihn nicht. So kam es also zu den „nervösen Gemütsstörungen“. Das Geschäft Rubels befand sich gegenüber vom Braunen Haus, so daß es für die Bevölkerung schon seit 5 Jahren mit Lebensgefahr verbunden war, dort zu kaufen. Wahrscheinlich war bei der Zwangsarisierung von der Substanz nichts mehr oder nicht mehr viel übrig.

In Hundsbach (Glan) wurde das Lebensmittelgeschäft der Jüdin Berta Ader polizeilich geschlossen. Nachdem schon verschiedene Versuche unternommen worden waren, das Geschäft zu ruinieren, mußte einfach die Polizei erklären, sie hätte Ratten, Mäuse und sonstiges Ungeziefer festgestellt, weshalb die Schließung erfolgen müsse. Die Inhaberin kann sich dagegen nicht wehren.

Die DAF hat dafür gesorgt, daß in allen Lokalzeitungen und durch die Unternehmer noch einmal darauf hingewiesen wurde, daß jeder Beamte und Angestellte fristlos entlassen werden kann, wenn er in einem jüdischen Geschäft kauft.

4. Bericht: Den meisten mir bekannten Juden wurden die Pässe abgenommen. Soweit sie neue Pässe bekamen, galten sie nur für das Inland.

Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Haltung der Behörden, vor allem der Parteistellen, und der Haltung der Bevölkerung. Behördliche Maßnahmen führen immer wieder zu öffentlichen Demütigungen der Juden, während die Bevölkerung selten eine - nicht mit allzu großen Gefahren verbundene - Gelegenheit vorübergehen läßt, einzelnen Juden ihr Mitgefühl zu bezeugen. Die eine Seite der Judenhetze kennzeichnen folgende Nachrichten aus deutschen Zeitungen:

Bissingen (Enz): Nachdem der letzte bisher hier noch wohnende Jude verzogen ist, ist die Gemeinde zur Freude der Einwohnerschaft völlig judenfrei.

Saulgau: Die Inhaber des Saulgauer Lichtspielhauses haben an ihrem Unternehmen ein Schild angebracht mit der Anschrift: „Juden sind hier unerwünscht.“ Dieser Entschluß wird von der Bevölkerung begrüßt.

Haigerloch (Hohenzollern): Seit einigen Tagen sind an den Wirtschaften Plakate mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ angebracht. Diese Maßnahme wird, da sie zur reinlichen Scheidung der arischen Einwohnerschaft von den Juden beiträgt, von der Bevölkerung sehr begrüßt.

Die andere Seite: Ein jüdischer Reisender, der hauptsächlich in ländlichen Gegenden verkauft, berichtet über seine Erfahrungen. 1933 und 1934 habe er sich kaum sehen lassen können. Die Bauern hätten, selbst wenn er ihre Höfe betreten durfte, sich geweigert, ihm etwas abzukaufen. Die antisemitische Stimmung sei damals ziemlich allgemein gewesen. Seit einiger Zeit habe sich das aber erheblich geändert. Heute könne er wieder beinahe überall hinkommen, wo er früher Geschäfte gemacht habe und er verdiene nicht viel schlechter als vor 1933.

Rheinland-Westfalen, 1. Bericht: In erster Linie und mit besonderer Heftigkeit ist der Kampf gegen die jüdischen Geschäfte in der Kleiderindustrie entbrannt. Es ist die „Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e. V.“, die „Adefa“, die sich über diesen angeblich völlig verjudeten Wirtschaftszweig hergemacht hat und nun nach Herzenslust räubert und plündert, indem sie Nationalso- A 83 zialisten in die Fabriken und besonders in die Konfektionsgeschäfte setzt. Darüber hinaus sind alle Adefa-Mitglieder verpflichtet, keinerlei Geschäftsverkehr mit jüdischen Vertretern und Lieferanten zu unterhalten, keine jüdischen Vertreter zu empfangen, vom jüdischen Handel und von jüdischen Konzernen keine Waren zu kaufen oder an sie zu verkaufen. Die Anordnungen gelten sowohl für die Herren- wie für die Damenbekleidungsindustrie, für die Ober- und Unterbekleidungsindustrie, für die Krawatten-, Wäsche- und Damenhutindustrie. Die Waren aus allen diesen Industrien müssen das Adefa-Zeichen, das „Zeichen für Waren aus arischer Hand“ tragen.

Auf der ganzen Linie hat der „Kampf gegen die Tarnung“ der Juden in diesen Geschäftszweigen eingesetzt. Überall wird herumgeschnüffelt, um festzustellen, ob nicht doch der Leiter des Geschäfts nur ein Strohmann ist, ob sich nicht doch hier und da ein Jude verbirgt. Natürlich gab es und gibt es noch so etwas. Was aber sollen die Juden denn anders machen, wenn sie nicht alles verlieren wollen. Übrigens hat mancher der arischen „Strohmänner“ die Lage der Juden so erpresse-I risch ausgenützt, daß der Jude ohnehin keine Freude mehr an seinem I, Geschäft haben konnte.

Es ist ein Zutode-Quälen der Juden, ein langsames Erwürgen, eine I unglaubliche Roheit, lebendige Menschen aus Fleisch und Blut planmäßig und ununterbrochen so zu quälen. Bis heute hatten noch viele Juden, die sich niemals als Juden, sondern immer als Deutsche gefühlt haben, die Illusion, man würde nicht bis zum Letzten gehen. Und es gab viele, die uns immer wieder erklärten, so schlimm wie es im Ausland dargestellt würde, sei es ja gar nicht. Jetzt erfahren sie alle, daß ihre Auffassung falsch war.

2. Bericht: Nach der Judenhetze in Berlin hat der Kampf gegen die Juden in Köln wieder neuen Auftrieb erhalten. Köln hat sich während der letzten fünf Jahre immer durch ganz besonders rigorose Feldzüge gegen die Juden ausgezeichnet. Jetzt geht man wieder gegen diejenigen los, die in jüdischen Geschäften kaufen. Es gibt nämlich, oder es gab bis vor kurzem, noch eine ganze Anzahl jüdischer Geschäfte, die gut gingen, weil ein Teil des Volkes schon aus Gegnerschaft gegen den Nazismus beim Juden kaufte. Nun soll damit auch radikal Schluß gemacht werden. Besonders will man jetzt endgültig die Geschäfte rund um das Rathaus und in den engen Straßen, die zum Rhein hinabführen, „ausräuchern“.

3. Bericht: In einem Ort im Ruhrgebiet hat man alle Arbeiter, die bei Juden kauften, von der Unterstützung durch die NSV ausgeschlossen.

Photographen stehen wieder vor den Läden. Beim Schuhkauf wurde einem Käufer vor der Tür gesagt: „Die Beine solltest Du Dir in den Judenschuhen brechen.“ Der Mann antwortete trocken: „Der Wunsch ist unfreundlich, aber die Schuhe sind billig. Schade, daß Du als Nazi von dieser billigen Gelegenheit keinen Gebrauch machen kannst!“

In X. bereiten sich eine Reihe von Juden nun endgültig zur Ausreise vor. Ich kenne einige ältere Juden, die jetzt Englisch lernen. Sie haben einen britischen Sprachlehrer, der ihnen wöchentlich zwei Stunden gibt, und zwar immer in der großen Wohnung eines Juden. Letzthin erschien während des Unterrichts die Gestapo, und nur der Umstand, daß der arische Lehrer recht energisch auftrat, hat die Juden davor bewahrt, abgeführt zu werden. Gemeinsamen Unterricht dürfen sie jedoch nicht mehr nehmen.

Bei vielen Juden sind alle Bemühungen um einen Reisepaß umsonst. Einem jungen Juden, dessen Mutter seit Jahren in der Schweiz lebti wollte man nicht einmal einen ganz kurzbefristeten Paß geben, als die alte Frau schwer krank war und mit ihrem Ableben gerechnet werden mußte.

4. Bericht: Die Judenhetze hat am ganzen Niederrhein Formen angenommen, wie wir sie trotz aller Erfahrungen auf diesem Gebiet nicht mehr für möglich hielten. Neuerdings werden alle Beamten und Parteimitglieder, die noch mit Juden geschäftliche oder sonstige Beziehungen unterhalten, aufs strengste und bei Androhung von Strafe zum völligen gesellschaftlichen und geschäftlichen Boykott der Juden aufgefordert.

Die Juden, die Geschäfte haben, sind gezwungen, ihre Geschäfte zu verkaufen, wenn sie nicht schon sowieso ruiniert waren. Es wird jedoch bei den Verkäufen aufs strengste darauf geachtet, daß sich jüdische Geschäftsinhaber ihren „arischen Kundenkreis“ nicht mitbezahlen lassen können. Man beruft sich auf den sogenannten Verstoß gegen die guten Sitten und sagt, was sittenwidrig sei, bestimme das „völkische Gewissen“. Dem Juden stehe im arischen Staat die arische Kundschaft nicht zu. Wenn ihm Moral und Recht hierauf keinen Anspruch zubillige, so könne er auch keinen Anspruch auf Bezahlung des arischen Kundenkreises erheben. Wenn ein arischer Volksgenosse bereits einem Juden seinen arischen Kundenkreis abgekauft habe, so sei zu prüfen, ob ein Rückforderungsrecht bestehe.

Man erklärt auch jeden für „unanständig“, der noch beim Juden kauft, den man aber nicht fassen kann, weil er weder in der Partei, noch Beamter oder sonst abhängig ist.

Schließlich betreibt man neuerdings planmäßig die Ausschaltung der Juden aus dem Haus- und Grundbesitz. In verschiedenen Orten ist man bereits dazu übergegangen, jüdischen Hausbesitz durch einen von der DAF bestellten Hausverwalter verwalten zu lassen. Der Jude sei als Mieter ein Fremdkörper, deshalb sei er erst recht ein Fremdkörper als Hausbesitzer und -Verwalter. Der Hausgemeinschaft falle immer mehr die Ausübung wichtiger vaterländischer Aufgaben zu, wie z. B. Altstoff- und Abfallverwertung, Luftschutz usw. Da sei der Jude nicht zu brauchen. Er störe die Hausgemeinschaft. Deshalb sei er auch im Hausbesitz und in der Hausverwaltung nicht mehr zu dulden.

Die Bevölkerung reagiert allerdings nicht immer auf solche Maßnahmen so, wie es die Nazis wünschten. Sie zeigt oft genug den Juden ihre Sympathie, manchmal sehr deutlich. So wurde Anfang Juli in . . . ein Haus eines Juden fast gänzlich leer, weil die Nazis auszogen. Andere aber, die als „Marxisten“ bekannt sind, zogen sofort in die leergewordenen Wohnungen ein.

Berlin, 1. Bericht: Die in der Auslandspresse vielbeachteten Razzien am Kurfürstendamm haben ausschließlich jüdische Lokale betroffen, und zwar die Konditoreien von Moritz Dobrin, Reimann und Mikosch. Es ist deshalb nicht auffällig, wenn bei dieser Gelegenheit ausschließlich Juden als Besucher festgestellt wurden. Zu der Razzia bei Dobrin wird bekannt, daß der Inhaber Moritz Dobrin selbst mit festgenommen wurde und erst am 9. Juni auf freien Fuß kam. Moritz Dobrin hat sich verpflichten müssen, sein gutgehendes Geschäft am Kurfürstendamm innerhalb von 4 Wochen in arische Hände zu übergeben.

Die schlimmsten Berichte kommen aus Tegel. Dort wurde vor den Pfingstfeiertagen ein ausgesprochener Pogrom durchgeführt. Am 30. Mai wurde dem Weißwarenhändler Großmann in der Scharnweber-straße in Tegel die Schaufensterscheibe eingeworfen. Großmann wurde vom Mob verprügelt. Ein jüdischer Arzt erlitt das gleiche Schicksal. Ein jüdischer Wirkwarenhändler in der Crossenerstraße im Osten Berlins verlor sein ganzes Pfingstgeschäft, weil man ihm den Laden beschmiert hatte und kein Kunde eintreten konnte, wenn er sich nicht größten Belästigungen durch den davor lärmenden Volkshaufen aussetzen wollte. Auch im Westen Berlins herrschen ähnliche Zustände.

Es sind auch einige Fälle bekannt, in denen die Inhaber der jüdischen Geschäfte keinen Ausfall zu beklagen haben, obgleich die Schaufensterscheiben beschmiert wurden. Die Käufer drängten sich im Gegenteil in die Läden, um den Verfolgten ihre Sympathie zu bekunden. Aber das ist eine Seltenheit. In unserem Bezirk finden die geringsten Anstöße zu Judenverfolgungen in der breiten Masse eine weitgehende Resonanz. Seit Monaten bringt „Der Stürmer“ große Aufstellungen über die Rassenzugehörigkeit der Geschäftsleute in allen Teilen der Stadt. Ganze Straßenzüge und Stadtviertel werden listenförmig behandelt und in vielen Fällen einzelne Beispiele durch Berichtsmaterial ergänzt, das nur von den in den einzelnen Betrieben beschäftigten Pgs. usw. beigebracht worden sein kann. Die Folge ist, daß niemand mehr einen jüdischen Laden, der so gebrandmarkt wird, betritt. In verschiedenen Stadtteilen werden neuerdings sogar unbekannterhand in den Eingängen der Häuser große Aufstellungen der in der Nachbarschaft vorhandenen jüdischen Geschäfte angebracht. Der Antisemitismus wächst, und die Zahl derer, die sich ein eigenes Urteil bilden, ist gering.

2. Bericht: Die Übergriffe gegen das Judentum haben sich als eine planmäßige, wohl vorbereitete Hetze erwiesen. Aus allen Teilen des Berichtsbezirks liegen einheitliche Nachrichten vor, die besagen, daß es sich nicht um spontan entstandene, gleichgeartete Zufallserscheinungen handelt.

Im Juni fanden allnächtlich polizeiliche Razzien statt, die zu Verhaftungen von Juden führten. Gleichzeitig bewegten sich durch alle Straßenzüge mehr oder minder umfangreiche Kolonnen von Haus zu Haus, die nach einem anscheinend sorgfältig vorbereiteten Listenmaterial die Geschäfte der Juden mit großen Farbanstrichen kenntlich machten. Es fanden sich hauptsächlich Beschriftungen mit dem Wort „Jude“, es kamen aber auch Fälle vor, in denen Totenköpfe, unkünstlerische Judengesichter mit unwahrscheinlich großen Hakennasen, Davidsschilde und ähnliches angemalt wurden. Diese Malereien nahmen ganze Schaufensterflächen ein. Durch sie wird in vielen Fällen jeder Blick in die Schaufenster unmöglich gemacht. Während früher bei ähnlichen Aktionen nur Detailgeschäfte von diesen Schmierereien betroffen wurden, werden jetzt auch die Namensschilder von Engrosfirmen und Fabrikanten beschmiert, auch häufig vollständig mit Lackanstrichen überzogen.

Vor den Geschäften stauen sich Menschen, die häufig in erregten Worten gegen die Juden losgehen. Am 20. Juni z. B. standen vor dem Krawattengeschäft von Kornblum in der Königstraße im Zentrum der Stadt etwa 200 bis 300 Menschen. Dieser Menge bemächtigte sich eine große Erregung, weil an dem Geschäft die Beschriftungen auf Veranlassung des Inhabers vom Personal entfernt worden waren. Es wäre unmöglich gewesen, den Laden zu betreten, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von dem davorstehenden Menschenhaufen buchstäblich zerrissen zu werden. Das Geschäft wurde demzufolge geschlossen. Es reihte sich damit ein in die Unzahl der Läden, die seit Wochen ihre Türen nicht mehr öffnen.

Veranlassung dazu sind besonders noch weitergehende Exzesse, wie sie sich in der Woche vom 13. zum 20. Juni im Osten und Nordosten, aber auch in anderen Stadtteilen abgespielt haben. Im Osten wurden in der Frankfurter Allee in den ersten Morgenstunden mehreren Geschäften die Scheiben eingedrückt. Als Beispiele sind zu nennen: das Schuhgeschäft Beigel, das Konfektionsgeschäft Westmann und der Juwelier Freundlich. In diesen drei Fällen sind den Inhabern zusätzliche Schäden entstanden, weil bei den Tumulten auch mehr oder weniger wertvolle Waren aus den Auslagen verschwanden. Ähnliche Vorgänge fanden in der Schönhauser Allee statt. Die Ausschreitungen halten weiterhin an. Am 20. Juni wurden dem Schirmgeschäft Liechtenstein am Rathaus in der Königstraße ebenfalls drei Schaufenster eingeschlagen. Einer jüdischen Speisewirtschaft in der Oranienstraße, Ecke Kommandantenstraße geschah dasselbe. Der Inhaber dieses Lokals hat seinen Laden jetzt mit einem Staketenzaun statt einer Fensterscheibe abgeschlossen.

Die Liste solcher und ähnlicher Vorgänge wäre beliebig zu erweitern. Man spricht auch von Fällen, wo junge Burschen in jüdische Haushaltungen eindrangen, wo in jüdischen Heimen das arische Personal zum Verlassen der Arbeitsplätze aufgefordert wurde, wo Gärtner auf jüdischen Friedhöfen ihre Arbeit einstellen mußten usw.

Hand in Hand mit diesen Aktionen, die vom Pöbel durchgeführt oder vorgetrieben werden, geht die Tätigkeit mit der Polizei. Es gibt kein Lokal in Berlin, das nicht einer Razzia ausgesetzt war, ganz gleich ob es Arier oder Juden zum Inhaber hat, vornehmes Volk oder Proletarier zu seinen Gästen zählt. Aus der Liste dieser Vorfälle seien erwähnt die polizeilichen Aktionen eines einzigen Abends, und zwar des 15. Juni im Stadtviertel um die Gedächtniskirche. An diesem Abend wurden durch Schutzpolizeikommandos abgeriegelt die Gaststätten Zuntz sel. Wwe., Romanisches Cafe, Cafe Trumpf, Uhlandeck, Mi-kosch und einige andere.

Ferner wurde das Alhambra-Kino am Kurfürstendamm unweit der Wilmersdorferstraße während der Vorstellung polizeilich geräumt. Dort fanden sich im Verlauf der letzten Vorstellung plötzlich Schutzpolizisten ein, die den Film unterbrachen, das Licht einschalteten und den Ruf ertönen ließen: „Polizei, Juden Hände hoch!“ Alles, was in der Aufregung sofort die Hände hoch nahm, wurde aufgefordert, sich im Foyer zu versammeln. Durch diesen plumpen, aber psychologisch interessanten Kniff hatte die Polizei alle Juden in ihre Hände bekommen. Die im Foyer Versammelten wurden mit Lastwagen zum „Alex“ aufs Polizeipräsidium befördert. Der „Alex“ befindet sich seit Wochen in einem besonderen Alarmzustand. Nach Hunderten zählen die Personen, die bisher als Opfer solcher Razzien in den verschiedensten Stadtteilen eingeliefert wurden. Die dort Eingelieferten werden in großen Sammelzellen festgehalten und werden mehr oder weniger genauen Vernehmungen unterzogen. Das Milieu wird belebt durch wenige Arier und Zigeuner; die ersteren scheinen bevorzugt zu Spitzelzwecken verwendet zu werden. Es sind Fälle bekannt, bei denen die Leute nach wenigen Stunden, andere nach zwei Tagen, wieder andere nach acht Tagen, entlassen wurden. Einige kehrten bisher gar nicht in ihre Wohnungen zurück. Die Beamten benehmen sich gegenüber den Festgenommenen bestimmt, aber korrekt.

Angehörige der Leute, die von den Razzien betroffen wurden, kümmern sich beim Ausbleiben ihrer Nächsten natürlich um den Verbleib. Wir erfahren dazu, daß die Vermißtenzentrale überhaupt nichts in die Wege leitet. Don befindet sich eine Dienststelle der Staatspolizei Berlin, auch die gibt jedoch keine Auskünfte.

Die Stimmung der jüdischen Kreise ist entsprechend. Es hat sich eine Depression breitgemacht wie nie zuvor. Viele Juden schließen ihre Läden und verkaufen nach Möglichkeit über Nacht. Es kommt dabei zu grotesken Situationen. Beispielsweise erhielt ein Geschäft mit beschmierten Scheiben plötzlich darüber eine neue Aufschrift: „Arisches Unternehmen“ oder „In arische Hände übergegangen“ oder „Dieses Geschäft ist vom Personal übernommen worden“.

Die Folge all dieser Maßnahmen ist, daß die Juden ihren ganzen Besitz abstoßen müssen und in keiner Weise ihr Kapital nutzbringend anlegen können. D. h., sie werden ihr Vermögen verzehren und dann wirtschaftlich vor dem Nichts stehen, wenn sie im Lande bleiben. Es kann sich nur noch um eine kurze Frist handeln, bis alle Juden wirtschaftlich ruiniert sind.

Über die Ursache dieser neuerlichen Verfolgungen kursieren die phantastischsten Gerüchte, in denen immer wieder in verschiedenen Varianten das Wort „Revanche“ eine Rolle spielt. Einmal heißt es „für A 89 das volksschädliche Verhalten der Tschechen als Soldknechte des Judentums während der letzten Entwicklung“ und schließlich „als Antwort für Amerika für die Beschlagnahme deutscher Industriewerte, das Festhalten des Passagierdampfers Bremen im Hafen von New York“ usw.

Es soll nicht vergessen werden, daß auch nicht wenige Stimmen laut werden, die gegen die Exzesse protestieren. Aber viele Menschen sind infolge der langen antisemitischen Hetze selbst antisemitisch geworden.

3. Bericht: Der Jude Glückmann hatte in Berlin-Tempelhof, Dorfstr. Ecke Reinhardtstr. ein Weiß- und Wirkwarengeschäft betrieben. Dem Zuge vieler seiner Glaubensgenossen folgend, beabsichtigte er in Kürze Deutschland zu verlassen. Er tat, was jeder Geschäftsmann an seiner Stelle auch tun würde, er räumte sein Geschäft und kündigte einen Warenausverkauf an, der am 20. Mai stattfinden sollte. Am 20. Mai stellte Glückmann fest, daß man das Pflaster der Straße vor seinem Laden mit weißer Ölfarbe beschrieben hatte: die üblichen Hetzparolen gegen den Kauf bei Juden. Große Pfeile zeigten auf die Ladentür. Schon in den ersten Morgenstunden stauten sich die Menschen vor dem Laden, um die Wirkung zu beobachten. Es fanden sich auch bald Leute, die Arbeiterfrauen vor dem Betreten des Ladens „warnten", da „kein Deutscher bei einem Juden zu kaufen hat“. Im Verlauf des Tages trafen dann auch die Vertreter der antisemitischen Asphaltpresse ein, die von den Kunden photographische Aufnahmen machten. Dies widerwärtige Theater dauerte noch am 21. Mai und den folgenden Tagen an, bis Glückmann seinen Laden schloß.

Eine größere Konfektionsfirma in Berlin, die seit Jahrzehnten mit einer holländischen Firma Geschäfte betreibt, wollte von der Devisenstelle die Genehmigung zur Überweisung des Provisionsbetrages für ihren in Holland arbeitenden Vertreter erwirken. Nach den Feststellungen der Devisenstelle handelt es sich bei dem Vertreter um einen Juden. Aus diesem Grunde wurde die Genehmigung verweigert.

Das jüdische Kaufhaus Westmann in der Frankfurterstraße in Berlin wurde an einem Tage in der vorletzten Juni-Woche, morgens um 5 Uhr, vollkommen ausgeplündert. Eine Horde von Menschen, von denen keiner irgendeine Uniform trug, drang in das Kaufhaus ein und machte es vollkommen leer. Dabei wurden Fensterscheiben und viel Mobiliar zertrümmert. Vor dem Warenhaus hatte sich trotz der frühen Stunde eine große Menschenmenge angesammelt, nur die Polizei fehlte völlig. Die Banditen brachten viele gestohlene Sachen auf die Straße, wo sie Umherstehenden zum Mitnehmen angeboten wurden. Wer sich weigerte, solche Gegenstände in Empfang zu nehmen, wurde beschimpft und manchmal sogar geschlagen. Alle nahmen deshalb, was man ihnen reichte. Einige Passanten sind damit jedoch zur Polizei gegangen und haben die Sachen dort abgegeben. Die Polizeibeamten haben die Sachen als gefunden in Empfang genommen und Fundprotokolle aufgenommen. Es handelte sich im wesentlichen um Textilwaren und Konfektion.

Ein Gewährsmann war am 24. Juni Augenzeuge der Plünderung eines in der Friedrichstraße gelegenen Schuhgeschäftes durch uniformierte SA-Leute. Polizei war während der ganzen Ausschreitungen nicht zu sehen.

4. Bericht: Viele judenfeindliche Aktionen wurden unter Führung der HJ und unter Beteiligung der SA durchgeführt. Viele finden es beschämend, daß die Jungen, die zur Achtung vor dem Alter erzogen werden müßten, sich an älteren Juden austoben. Die meisten Menschen stehen dem Treiben gegen die Juden fremd, desinteressiert, oft auch ablehnend gegenüber. Selbst diejenigen, die für eine Zurückdrängung der Juden aus dem Wirtschafts- und dem öffentlichen Leben sind, lehnen zum größten Teil die grausamen und unmenschlichen Methoden ab, mit denen die Juden gequält werden. Besonders die letzte Aktion gegen die Juden wurde als eine Ablenkung des Volkes von den außenpolitischen Mißerfolgen Hitlers und von den Schwierigkeiten, die das Regime in Österreich hat, angesehen.

5. Bericht: Nach der Brandrede, die Dr. Goebbels am 21. Juni zur Sonnenwendfeier im Olympiastadion Berlin gehalten hat, und in der er weitere Schritte zur Ausmerzung des deutschen Judentums ankündigte, sind die ins Auge fallenden Boykottmaßnahmen zunächst beendigt worden. Damit beginnt eine neue Etappe im Kampf gegen das Judentum. Im Bekleidungsgewerbe ist die „Adefa“ (Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten des Bekleidungsgewerbes) äußerst aktiv. Wir erfahren, daß sie die Kleinhändler aller Bekleidungszweige zum Abbruch der Geschäftsbeziehungen mit jüdischen Großfirmen auffordert. Den Geschäften, die durch Kredite an jüdische Großfirmen gebunden sind, wird durch die „Adefa“ ein Darlehen zur Ablösung ihrer Verpflichtungen angeboten, sofern sie sich verpflichten, künftig keine neuen Geschäftsverbindungen mit jüdischen Firmen einzugehen.

Wir hören von verschiedenen jüdischen Vertretern, daß sie große Schwierigkeiten haben, um ihren Kundenkreis zu erhalten. Ein Vertreter sagte uns, daß es ganz unmöglich geworden ist, für ein jüdisches Unternehmen jetzt noch eine neue Geschäftsbeziehung anzubahnen. Daß gerade die Vertreter Opfer der neuen Hetze wurden, hat eine starke Nachfrage nach arischen Vertretern zur Folge. Der Mangel hat derartige Formen angenommen, daß sich das Arbeitsamt Berlin zur Einrichtung einer neuen Stelle bereitfinden mußte, die nur die Vermittlung arischer Vertreter durchführt. Firmen, die arische Vertreter einstellen wollen, sind wochen- und monatelang eingetragen, ehe sie den ersten Bewerber zugewiesen erhalten. Das zeigt, wie viele Unternehmungen ihre jüdischen Vertreter entließen und wie viele andere die Boykottmaßnahmen ausnützten, um ihr Geschäft auszudehnen.

6. Bericht: Die Verordnungen zur Ausschaltung des Judentums aus der Wirtschaft mehren sich täglich. Die Handelskammer Berlin hat alle jüdischen Handelsvertreter benachrichtigt, daß sie bis zum 1. Oktober ihre Ausweiskarten abzugeben haben.

Die Juden erhalten bei Aufgabe ihrer bisherigen Position die üblichen Arbeitslosenunterstützungen und fallen in kurzer Zeit der öffentlichen Wohlfahrt anheim, die natürlich nicht sonderlich um sie bemüht ist. Bei Gewährung der öffentlichen Unterstützungen an die Juden wendet man auf sie ausnahmslos die Bestimmung an, nach der Unterstützungsempfänger zu unentgeltlichen Pflichtarbeiten herangezogen werden können. Die Juden werden den öffentlichen Bauvorhaben als Hilfskräfte zugeteilt, d. h. auch sie werden eingereiht in die Produktionspläne des Vierjahresplanes, allerdings als unbezahlte Arbeitskräfte. Bisher sind viele Juden als Bauhilfskräfte, z. B. bei den Hausabbrüchen, beschäftigt worden, wo für die Prunkbauten des Dritten Reiches Raum geschaffen wird. Ferner sind 800 Juden auf dem großen Areal der füheren städtischen Gasanstalt in Schmargendorf an der Ringbahn zu Abbrucharbeiten herangezogen worden und auch weiterhin bei den Bodenarbeiten zur Schaffung einer NS-Muster-Sportkampfstätte. Bei diesen Arbeiten wird besonders darauf Rücksicht genommen, daß die Juden nicht mit den wenigen arischen Arbeitern in Berührung kommen. Ähnlich wurde auch eine große Zahl Juden beim Abbruch der Gasometer in der Greifswalderstraße in Berlin NO 55 und bei der Schaffung von Grünanlagen auf dem geräumten Gebiet beschäftigt. Für alle diese Arbeiten werden keine Löhne bezahlt. Die dort beschäftigten jüdischen Kräfte sind zu täglich achtstündiger Arbeitsleistung verpflichtet, weil dadurch ihr Unterstützungsbezug „gerechtfertigt wird“. Wenn ein Jude die Arbeit einstellt, so müßte er verhungern. Dem körperlichen Ruin sind sie aber ohnehin ausgeliefert, denn bei der teilweise recht schweren Arbeit sind sie mit den Mitteln aus ihrer Unterstützung nicht in der Lage, die notwendigen Nahrungsmittel zu kaufen, die der schwerarbeitende Mensch zur Erhaltung seiner Arbeitskraft nötig hat.

Furchtbar ist das Schicksal der Juden, die bei den letzten Razzien festgehalten und in eins der Konzentrationslager bei Weimar oder Sachsenhausen gebracht wurden. Die dort internierten Juden müssen die schlimmsten Folterqualen erdulden. Wieweit das geht, beweisen drei Fälle, die uns genau geschildert wurden und einwandfrei verbürgt sind. In allen drei Fällen sind die Inhaftierten an den Folgen der in Buchenwald erduldeten Mißhandlungen gestorben. Den Angehörigen wurde in einem Fall lakonisch mitgeteilt, daß die Urne mit den Überresten der Leiche dem jüdischen Friedhof in Weißensee übergeben worden sei. Die Angehörigen hatten zuvor von dem Tod des Mannes nichts erfahren. In einem anderen der drei Fälle wurden die Angehörigen ersucht, dem KZ Buchenwald mitzuteilen, wo sie den Verstorbenen beisetzen lassen wollten und wie sie sich zu den daraus entstehenden Kosten verhalten wollten. Auch hier hatten die Angehörigen vorher keine Information über den eingetretenen Tod erhalten. Es handelt sich bei den drei Verstorbenen um den Steinsetzmeister Simon, zuletzt in der Lothringer Straße wohnhaft, um einen Mediziner und einen Kaufmann.

Im Juni wurde in Berlin der Zigarrenhändler Fränkel, Charlottenburgerstraße, eines Morgens im Anschluß an eine Steuerkontrolle verhaftet. Seine Angehörigen gingen noch am selben Nachmittag zur Polizeiwache, um sich nach dem Verhafteten zu erkundigen. Sie erhielten die Auskunft, man solle am nächsten Tage im Polizeipräsidium nachfragen. Das geschah auch. Der Beamte, den Frau Fränkel zu sprechen bekam, sagte ihr, er müsse ihr leider mitteilen, daß es ihrem Mann nicht gut gehe. Darauf fragte Frau Fränkel, ob ihr Mann etwa tot sei, man solle es ihr ruhig sagen, denn sie sei darauf vorbereitet. Der Beamte antwortete: „Wenn Sie es selbst sagen, will ich Sie nicht weiter im unklaren lassen. Ihr Mann ist gestern Abend an Herzschlag gestorben.“ Fränkel war 42 Jahre alt.

Sachsen, 1. Bericht: In einer Großkundgebung im Kaufmännischen Vereinshaus in Chemnitz sprachen der Kreishauptmann Popp und der Kreisleiter Papsdorf zur Judenfrage. Papsdorf sagte, man werde sich jetzt nicht nur mit den Juden allein befassen, sondern auch mit ihren arischen Freunden. Dieser Kampf werde kompromißlos geführt werden. Er habe sich einen Einblick in die Kundenlisten der jüdischen Geschäfte in Chemnitz verschafft und gefunden, daß es noch Tausende gäbe, die dort kauften. Namen zu nennen, verbiete „noch“ der Anstand, aber er könne sich nicht versagen, einige Berufe anzuführen. An erster Stelle stünden Beamte und Angestellte des Staates, die von dem Geld jedes Volksgenossen lebten und im fünften Jahr des Dritten Reiches noch immer nichts begriffen hätten. Daneben fände man Baroninnen und Rittergutsbesitzer, Regierungsräte, Regierungsbaumeister, Fabrikbesitzer und -direktoren, Ingenieure, Studienräte, Lehrer und Pfarrer, hauptsächlich katholischer Färbung, Rechtsanwälte, führende Angestellte der Wirtschaft und Industrie bis herab zum Volksschullehrer und mittleren Beamten. Papsdorf erklärte, er werde jedem einzelnen dieser Judenknechte schreiben und an ihr deutsches Gewissen appellieren. „Wir wollen, daß der Jude kaputt geht, restlos kaputt!“ schrie er immer wieder.

In Wurzen wurde die Schützengilde aufgelöst, weil der Verein angeblich heimlich Beziehungen zu jüdischen Händlern aus Weimar und Apolda aufrecht erhalten hat.

2. Bericht: Der jüdische Inhaber des großen Modewarenhauses Goldmann am Altmarkt in Dresden wurde gezwungen, aus der Firma auszuscheiden. Auch das große Herrenartikelgeschäft Schweriner in der Altstadt ist arisiert worden.

In Chemnitz hat die Hetze gegen die Juden wieder zu Maßnahmen geführt, die die in den Apriltagen 1933 noch übertreffen. Vor den Warenhäusern Tietz und Schocken standen wieder Photographen, um die Besucher der Geschäfte zu photographieren und wie sie sagten, für später „unwiderlegbare Beweise in die Hände zu bekommen“. Einige der Belästigten verwiesen darauf, daß sie ja schon deshalb in den Geschäften kaufen müßten, weil sie sich dort als Butterbezieher hätten eintragen lassen. Ihnen wurde geantwortet, das sei keine Ausrede, die Leute hätten ja 1936 wissen müssen, daß den Juden in Deutschland mit allen Mitteln der Garaus gemacht werde.

Die neue Hetze ist nicht ohne Erfolg geblieben. Immer mehr Leute werden davon abgehalten, weiterhin bei Juden zu kaufen.

Das jüdische Schuhgeschäft Speiser, das in der ganzen Stadt und auch in der Umgebung als sehr solide galt, war auch in den schlechtesten Krisenjahren in der Lage, seine 15 Angestellten zu beschäftigen. Jetzt hat es den Totalausverkauf veranstaltet, weil der Firma die gewaltsame Schließung des Geschäftes angekündigt worden ist, falls es nicht freiwillig geschlossen würde. Und so wie diesem Unternehmer geht es fast allen jüdischen Geschäften, die sich trotz aller Schikanen bis jetzt noch halten konnten.

Im Juni stürzte sich der Besitzer des Kaffeehauses Central in Annaberg, Chenange, aus dem Fenster seiner Wohnung und war sofort tot. Chenange war Jude und wurde in der letzten Zeit entsprechend drangsaliert. Sein Sohn durfte nicht mehr im Stadtbad baden, obwohl der Großvater des Sohnes 30 000 RM zur Errichtung des Annaberger Stadtbades gespendet hatte, nicht mehr die Schule im Ort besuchen. Er versuchte es in Berlin, wurde aber wieder fortgejagt usw. Der Kreisleiter verbot dem Personal von Chenange, an dessen Beerdigung teilzunehmen. Der Fall hat bei der Stadtbevölkerung, abgesehen von den fanatisierten Parteigängern, große Anteilnahme ausgelöst.

3. Bericht: Ein Ausländer, der vorübergehend als Gast in Deutschland war, erzählt: Die noch in Deutschland lebenden Juden werden alle kaputt gemacht. Mich beeindruckte besonders folgender Vorfall: Meinem Gastgeber gegenüber wohnt eine Judenfamilie, die ein kleines Geschäft betreibt. Während meines Aufenthaltes wurde der Geschäftsinhaber an drei Nächten herausgeholt. Ein Auto kam jedesmal vorgefahren, und unter starkem Gepolter an der Haustür wurde der Jude aufgefordert, seine Geschäftsbücher herauszugeben. Der Lärm war dabei so stark, daß die Nachtruhe der ganzen Nachbarschaft gestört wurde. Einmal sind die Leute auch ins Haus hineingegangen und kamen erst nach zwei Stunden wieder heraus. So werden bei den Juden „die Geschäftsbücher zur Kontrolle abgeholt“.

Schlesien, 1. Bericht: Wie stark die Judenverfolgungen auf die Juden selbst gewirkt haben, geht allein aus der Tatsache hervor, daß in Breslau während der Verhaftungswelle männliche Juden zu Hunderten auf den jüdischen Friedhof flüchteten und dort Nächte hindurch hinter den Grabsteinen ihrer Angehörigen blieben, weil sie hier noch den einzigen Platz sahen, wo sie das Recht hatten, sich aufzuhalten. Es haben sich dabei erschütternde Szenen abgespielt.

In der Bevölkerung weiß man allgemein, was vorgeht. Viele sehen den Sinn dieser Kampagne nicht ein, da doch die Juden schon weitgehend aus dem Wirtschaftsleben verdrängt sind. Es gibt weite Kreise, die Anteil nehmen an dem Schicksal der Verfolgten, vor allem, wenn sie einige Juden persönlich kennen. Andere lassen sich nicht davon abbringen, daß „diese Juden etwas ausgefressen haben müssen“. Sie meinen, sonst hätte der Staat doch nicht eingegriffen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß man besonders häufig Vorbestrafte verhaftet hat oder solche, die bereits einmal mit der Polizei oder der Gestapo zu tun hatten.

Ein Fall kennzeichnet die Lage: Ein Kaufmann, der wegen eines kleinen Vergehens angezeigt war, wurde im Jahre 1932 freigesprochen.

Der Prozeß fand in Oberschlesien statt. Nach der Machteroberung wurde das Verfahren wieder aufgenommen und führte zur Verurteilung. Dieser Mann wurde jetzt in „Vorbeugungshaft“ genommen und in ein Lager geschickt, wo er an einem Staudamm arbeiten muß.

Die jüdische Gemeinde erwies sich auch in diesem Fall als völlig einflußlos. In ihrer Sorge sind Angehörige des Verhafteten nach Berlin gefahren, um dort bei Behörden Auskunft zu erhalten, was zu tun sei. Don kannte man den Ausdruck „Vorbeugungshaft“ überhaupt nicht. Die Hilfesuchenden wurden an die Gestapozentrale verwiesen. Diese erklärte, sie habe mit den Verhaftungen nichts zu tun, es handle sich um eine Aktion der Kriminalpolizei. Die Kriminalpolizei erklärte sich ebenfalls für unzuständig. Niemand konnte die Stelle finden, die die Verhaftung veranlaßt hat. Ein hoher Beamter der Gestapo erklärte, daß er nichts über die ganze Sache wisse. Nach längerem Gespräch, das zuerst freundlich begann, wurde er wütend und schrie die Juden an, daß sie sich nur keine Hoffnungen machen sollten, ihren Angehörigen so bald wiederzusehen. Und immer wieder laufen die Angehörigen von einer Stelle zur anderen. - Überall Achselzucken.

Ähnlich ging es den Juden bei der Abgabe der Vermögenserklärung, die bis zum 30. Juni fällig war. Die Formulare, die genau ausgefüllt werden mußten, konnte man am 28. Mai noch nicht bekommen, so daß eine große Panik unter den Juden entstand.

Aus Berlin erfahren wir, daß dort etwa 1000 Juden verhaftet worden sind. In Breslau wird die Zahl mit 380 angegeben. Die Zahlen sind aber völlig unkontrollierbar. Amtlich wird darüber nichts bekanntgegeben.

Wie in Berlin, so waren auch in Breslau die Geschäfte beschmiert. Kleine Rachsucht zeigte sich überall. Man bemalte irrtümlich oft bereits arisierte Geschäfte mit „Jude“. Dann setzte man darunter „Judenfreund“ und strich „Jude“ durch. Hatte aber irgend ein SA-Führer einen persönlichen Gegner, so ließ er auch dessen Geschäft mit „Judenfreund“ beschmieren, selbst wenn es sich um ein Parteimitglied handelte. Die Polizei ist in solchen Fällen ganz hilflos. Die geschädigten Arier riefen das Überfallkommando an, von dem sie als Deutsche und Staatsbürger Schutz verlangten. Nach einer halben Stunde kommt dann ein Polizist, um sich zu erkundigen, was eigentlich los ist. So verlief die Sache auch bei jüdischen Geschäften, deren Inhaber Ausländer sind.

Es gibt Fälle, die in besonderem Maße die Empörung der Bevölkerung erregen. In Breslau wurde ein 70 Jahre alter Jude, der nur auf Krücken gehen kann, verhaftet. Auch einen 80% kriegsbeschädigten Juden holte die Polizei. Solche Leute wurden dann erst nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt.

Als der jüdische Chef eines Konfektionshauses starb, nahmen viele Angestellte aufrichtigen Anteil. Besonders die alten Angestellten, die schon 25 Jahre und länger in dem Geschäft sind. Bei allen war es selbstverständlich, daß die Betriebsangehörigen geschlossen zur Beerdigung gingen. Als der Vertrauensrat davon erfuhr, rief er telephonisch die Arbeitsfront an und teilte mit, daß er sich gegen die Beteiligung an der Beerdigung verwahre. Daraufhin erließ die DAF ein Verbot, nach welchem kein Arier zur Beerdigung gehen durfte, wenn er Wert darauf lege, weiter im Betrieb zu bleiben. Es haben sich dann nur zwei Angestellte an der Beerdigung beteiligt, die dem Chef persönlich verbunden waren.

Persönlich kommen die Juden in eine schreckliche Lage. Da trifft z. B. ein älterer jüdischer Flerr auf der Straße eine ihm bekannte Dame.

Die Dame spricht ihn an. Er unterhält sich kurz mit ihr. Er möchte das Gespräch Heber abbrechen, will aber gegen die Dame nicht unhöflich sein. Am nächsten Tage wird er dieses Gesprächs wegen verhaftet und es wird eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Die Juden wagen nicht mehr, mit einer „Arierin“ zu sprechen. Sie machen einen großen Bogen, wenn ihnen Bekannte begegnen.

In Ohlau, einem kleinen Provinzort in der Nähe Breslaus, gibt es keinen Friseur mehr, der einen Juden rasieren oder ihm die Flaare schneiden würde. Die Juden müssen sich die Haare gegenseitig schneiden. So entwickelte sich bereits eine Art neues Ghetto.

In einem großen Geschäftshaus fährt ein junger Jude mit dem Aufzug. Ein Liefermädchen steigt zu. Es gibt ein Verhör, und der Fahrstuhlführer wird einvernommen.

Zwei junge Juden gehen in einem großen Geschäftshaus, in dem sie angestellt sind, in die Kantine. Am nächsten Tag prangt ein großer Zettel an der Eingangstür: „Juden ist der Zutritt in die Kantine verboten!“

In den arischen Konfektionsgeschäften stehen jetzt große Schilder der „Adefa“. Adefa-Angehörige versuchen, sich von der jüdischen Konkurrenz zu befreien, indem sie veranlassen, daß jüdischen Firmen keine Rohware mehr geliefert wird.

Den jüdischen Reisenden ist es kaum mehr möglich, ihr Brot zu verdienen. Sie können in kleineren Provinzorten kein Nachtlager finden. Dazu kommt noch, daß sie an Arier nichts mehr verkaufen dürfen. Ebenso schwierig wird auch die Wohnungsfrage für die Juden. Hausbesitzer nehmen meist keine Juden auf. Wenn sie dazu bereit sind, gibt es irgend einen Hauseinwohner, der Parteinazi ist und erklärt, daß er mit einem Juden nicht unter einem Dach wohnen will. Viele Juden sind heute ohne Wohnung und müssen bei ihren Bekannten oder Verwandten um Unterkunft betteln. Man zieht zusammen und sucht sich einzuschränken.

Ein politisch abgeurteilter Jude hat seine Strafe schon längst abgesessen. Man wollte ihn nicht freilassen, es sei denn, daß er sofort auswandern könne. Er machte vom Gefängnis aus Versuche, nach Argentinien zu kommen. Die deutschen Behörden bearbeiteten den Fall sehr schleppend. Inzwischen kam die Sperre für jüdische Einwanderung in Argentinien. Jetzt bemüht sich der Mann aus dem Gefängnis heraus um ein Zertifikat nach Palästina. Das zu erlangen, ist fast aussichtslos. Es hat Fälle gegeben, daß jüdische Gefangene erst zwei Tage vor der Abreise ins Ausland freigelassen wurden. Wer in der Freiheit keine Angehörigen mehr hat, kann nicht auf Befreiung rechnen.

Die Behandlung der Juden in den Gefängnissen ist unmenschlich. Man ist jetzt dazu übergegangen, sie zu Arbeitskolonnen zusammenzustellen und in Steinbrüchen und bei Straßenbauten einzusetzen.

Letzten Endes bleibt den Juden, nachdem ihnen die Existenz genommen ist, nichts anderes als die Auswanderung übrig. Aber wohin? Die jüdischen Gemeinden sind von Bittstellern belagert. An die jüdischen Auswanderungsstellen ist kaum heranzukommen. Sie haben für mehr als ein halbes Jahr Arbeit und nehmen keine neuen Fälle mehr an, selbst wenn jemand aus eigener Tasche seine Reise finanzieren kann.

Am traurigsten ist die Lage der jüdischen Jugend. Sie ist heute in Deutschland faktisch vom Leben abgeschnitten. Der Verkehr mit Ariern fällt weg. Soweit die jungen Leute nicht entlassen werden, kündigen sie selbst ihre Stellungen, weil sie das Leben am Arbeitsplatz nicht mehr aushalten können. Sie versuchen sich umzuschulen, um ins Ausland gehen zu können. Dazu sind aber etwas Kapital und eine Arbeitsstelle nötig. Viele sitzen heute bei ihren Eltern und leben von dem, was noch da ist. Sie haben kein Ziel und keinen Ausweg und verfallen in eine verzweifelte Stimmung.

2. Bericht: Aus Beuthen und aus Gleiwitz wird berichtet, daß Juden wiederholt von der Hitlerjugend auf offener Straße angegriffen worden sind. Die Juden selbst dürfen sich natürlich nicht wehren und nur in den seltensten Fällen ergreift das Publikum für die Angegriffenen Partei. Immerhin sind solche Fälle zu verzeichnen. In keinem Falle ist bisher aber festgestellt worden, daß die Polizei eingegriffen hätte. Meist verschwindet sie, wenn solche Zwischenfälle passieren oder erklärt, sie sei gegen die Hitlerjugend machtlos.

In Hindenburg und Gleiwitz stellt die Polizei bei jüdischen Händlern, denen die Gewerbescheine abgenommen worden sind, jetzt Ermittlungen an, womit sie sich beschäftigen, ob sie Handel treiben usw.

Vor dem Schuhgeschäft des Juden Miodownik in Hindenburg wurde eine Frau tätlich angegriffen, als sie in das Geschäft eintreten wollte. Ein Hitlerjunge, ein siebzehnjähriger Angestellter des Magistrats, schlug die Frau blutig und brachte sie dann zur Anzeige, weil sie ihn behindert habe, den Boykott durchzuführen. Die Polizei verhaftete auch tatsächlich die Frau und erstattete gegen sie Anzeige wegen Angriffs auf einen Hitlerjungen.

Einige Nazigrößen versuchen nach wie vor, an den Juden zu verdienen. Sie bieten sich gegen entsprechende Provision als Vermittler bei Verkäufen an, wobei sie sich ausdrücklich darauf berufen, daß man doch als Nazi viel mehr Möglichkeiten habe.

Die Concordiagrube sollte ein deutscher Leistungsbetrieb werden. Erste Voraussetzung dafür war, daß man innerhalb der Beamtenschaft eine Nachprüfung vornahm, ob auch alle rein arischer Abstammung seien. Zwei Beamte entpuppten sich als „Mischlinge“ und kamen unmittelbar nach dieser Feststellung zur Entlassung.

Viel kommentiert wird hier ein Selbstmordversuch der Frau Martha Waldbrunn, die im Prozeß Samter als Zeugin aufgetreten ist. Samter, der wegen angeblicher Rassenschande in seinem Radio- und Fahrradgeschäft seinerzeit zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, beteuerte seine Unschuld, wurde aber durch die Aussage der Martha Waldbrunn sehr belastet. Der Prozeß erregte seinerzeit in Hindenburg großes Aufsehen. Man erzählte ziemlich offen, daß die Waldbrunn von der Gestapo zur Zeugenaussage gegen Samter, übrigens einen Sozialdemokraten, veranlaßt worden war. Der Selbstmordversuch dieser Zeugin scheint vielen zu bestätigen, daß die Frau kein gutes Gewissen hat.

Von Zeit zu Zeit erscheinen immer wieder vor jüdischen Geschäften SA-Posten, um zu verhindern, daß Kunden in die Geschäfte eintreten. Trotzdem muß gesagt werden, daß besonders Arbeiterfrauen sich nicht hindern lassen, beim Juden zu kaufen. Die SA-Leute beschimpfen die Kundinnen mit Ausdrücken wie „alte Säue“ usw.

Mit dem 1. März sind im Bereich von Hindenburg-Gleiwitz 20 Lehrer entlassen worden, denen man die Stellung zum Weihnachtsfest gekündigt hatte. Wie es heißt, sollen sie, teils auch ihre Frauen, keine „reine Ahnentafel“ aufweisen. Unter den Entlassenen befinden sich auch Lehrer, die sich im Abstimmungskampf sehr verdient gemacht haben. So der Dichter Kaluza aus Hindenburg, der Schwerkriegsver-letzte Larisch, der das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse hat, usw.

3. Bericht: Es hat den Anschein, als ob mit der gegenwärtigen Judenaktion ganz Oberschlesien judenrein gemacht werden solle. Täglich kommen neue Verhaftungen vor. Die Familie des Arztes Dr. Wiener in Beuthen erhielt ohne nähere Angaben nach der Verhaftung des Mannes die Urne mit der Asche zugestellt. Jegliche Auskunft wurde verweigert. Auch ein katholischer Kaufmann, der im Juni mit 22 Juden zusammen verhaftet wurde, blieb spurlos verschwunden, keine Behörde wußte, was mit ihm geschehen war. Erst auf direkte Intervention eines SA-Führers, eines nahen Verwandten, erhielt die Familie die Urne zugestellt. Beim Empfang derselben wurde den Leuten verboten, irgend eine Veröffentlichung in der Zeitung vorzunehmen. In Groß-Strehlitz ist der angesehene jüdische Kaufmann Habels „gestorben“, als er ins Konzentrationslager überführt werden sollte. In Hindenburg wurden in zwei Fällen die Urnen zugestellt. Man nimmt an, daß es sich um Selbstmorde, vielleicht auch um „Erschießungen auf der Flucht“ handelt.

Soweit Juden noch Hausbesitzer oder Geschäftsinhaber sind, erhalten sie täglich Besuche teils von SA-Leuten, teils von Abgesandten der Partei, die ihnen Fragen vorlegen, was sie unternommen hätten, um das Grundstück oder das Geschäft zu verkaufen. Beim Abschied sagen sie, dies sei die letzte Warnung, man werde die Juden einfach abschieben und ihr Vermögen konfiszieren. Selbst Juden polnischer Staatsbürgerschaft, die seit Jahrzehnten in West-Oberschlesien wohnen, erhalten amtliche Aufforderungen, das deutsche Reichsgebiet zu verlassen, da für Juden im Dritten Reich kein Platz mehr sei.

Vor jüdischen Geschäften werden SA-Wachen aufgestellt, die die Kunden gewaltsam vom Einkauf abhalten. Diese Aktionen dehnt man auch auf die Landorte aus. Dabei wird in der Regel SA aus anderen Ortschaften herangezogen. Hitlerjugend veranstaltet vor jüdischen Geschäften Demonstrationen mit antisemitischen Sprechchören. Auf den Märkten sind die jüdischen Händler isoliert; SA und Polizei halten die Kundschaft ab. Im Industriegebiet hat man es auf den Wochenmärkten schon fast ganz erreicht, daß sie von jüdischen Händlern nicht mehr besucht werden. Zur gleichen Zeit werden bei den öffentlichen Beamten und auch bei den Industriebeamten durch die Arbeitsfront Vorstellungen erhoben. Man „habe in diesen Kreisen noch immer nicht begriffen, daß der Jude Deutschlands Unglück ist“. In Hindenburg wurden einige Magistratsangestellte vom Bürgermeister vorgeladen, der ihnen nachwies, daß ihre Frauen nach wie vor bei Juden kaufen.

Jüdische Händler, denen man jetzt den Gewerbeschein entzogen hat, und auch jüdische Reisende, denen man die Ausübung ihres Berufes untersagte, sind zur Abgabe ihrer Kundenlisten vorgeladen worden. In Gleiwitz mußten sie sogar ihre Lieferungsbücher beibringen.

Der jüdische Regierungsrat Dr. Katz in Oppeln war mit seinem Freunde im Kino und erklärte leise, daß Göring noch eine Uniform fehle. Sofort wurde er von einem Nazi denunziert, die Polizei nahm ihn mit; später wurde er in Breslau nach 6-monatiger Untersuchung zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Als seine Haft zu Ende war, ist er in Schutzhaft genommen worden, er befindet sich im Konzentrationslager Oranienburg.

4. Bericht: In den Landgebieten macht man eine energische Propaganda gegen die Juden. Diese, so heißt es, müßten aus Deutschland verschwinden, besonders aus dem Grenzgebiet, wo sie für die Volksgemeinschaft gefährlich seien. In der letzten Zeit hat sich auch innerhalb der Bevölkerung ein Wandel vollzogen. Sind breite Kreise auch nicht antisemitisch, besonders die Arbeiter nicht, so werden doch die jüdischen Geschäfte gemieden.

Aus der Landgegend im Industriegebiet sind die Juden völlig verdrängt und täglich werden im engeren Industriegebiet jüdische Geschäfte geschlossen oder in arische Hände überführt. In Beuthen sind in den letzten Wochen sechs große Firmen, die seit Jahrzehnten im jüdischen A 101 Besitz waren, in arische Hände übergegangen, in Gleiwitz sind 4 jüdische Geschäfte aufgelöst und 8 andere arisiert worden, in Hindenburg 12 Geschäfte aufgelöst, 7 in arischen Besitz übergegangen, meist Kolonialwaren- und Textilunternehmen. Auf jüdische Grundbesitzer wird ein verschärfter Druck durch Banken und Magistrate ausgeübt, sie müssen ihren Besitz verkaufen, wenn sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollen, daß ihnen ihr Grundbesitz enteignet wird.

Aus Hindenburg und Beuthen ist bekannt, daß Juden, die ihre Grundstücke verkauft haben, den Erlös weder in die Hand bekommen, noch an Verwandte und Angehörige übertragen dürfen. Kommt so ein Kauf zustande, so erhält der Besitzer den Bescheid, daß das Geld auf dieser oder jener Bank, meist in der Stadtsparkasse hinterlegt sei und man ihm monatlich, je nach der Größe der Familie, zwischen 250 und 400 RMk auszahlen werde. Erbschaften oder Legate dürfen Juden nicht übergeben werden, wenn es sich um Gelder handelt, die aus Grundstücksverkäufen stammen.

Die Maßnahmen gegen jüdische Ärzte, die zwar erst vom 15. September 1938 an Geltung haben, werden jetzt schon praktiziert. Die Betriebskrankenkassen, soweit sie noch jüdische Ärzte zuließen, sind von der Arbeitsfront angewiesen worden, an Juden keine Krankenzettel mehr auszuhändigen. Während sonst die Wahl des Arztes dem Kranken zustand, wird ihm jetzt verboten, den „Judenarzt“ aufzusuchen, da für diesen der Krankenschein nicht mehr gilt. Die jüdischen Ärzte sind ihrem Schicksal überlassen, obgleich sich unter ihnen zahlreiche Frontkämpfer, sogar mit hohen Kriegsauszeichnungen befinden.

Man macht gar kein Hehl mehr daraus, daß man alle Juden vertreiben wird, wenn sie es nicht vorziehen, „einfach zu verschwinden“. Einem alten Rechtsanwalt, der beim Magistrat um die Zuteilung einer Wohnung nachsuchte, weil ihm der arische Wirt seine bisherige Wohnung mit dem 1. September 1938 entzog, bekam die Antwort: „Sie müssen raus, machen Sie, was Sie wollen!“

In der Bevölkerung fürchtet man den nahen Kriegsausbruch. In dieser Stimmung hat man naturgemäß für die ganze Judenfrage nur wenig übrig. Man hat andere Sorgen, als sich um die Juden zu kümmern. Man bedauert zwar, daß die Juden so unterdrückt werden, aber selbst bei Arbeitern kann man hören: „Ja, was ist da zu machen? Was wird aus uns selbst?“

Ostpreussen: Auf dem Pferdemarkt in Wehlau, der als der größte Pferdemarkt Europas gilt, sind in diesem Jahre, Anfang Juli, überhaupt keine Juden mehr zugelassen worden. Ebenso hat man die Zigeuner vollkommen ferngehalten. Die Anordnung ist vorher nicht bekannt geworden, so daß Juden und Zigeuner wie bisher, wenn auch in sehr beschränkter Zahl, zum Markte erschienen. Hier wurde dann von der SS und SA regelrecht eine Jagd auf sie veranstaltet.

Danzig, 1. Bericht: Wenn auch seit dem November vorigen Jahres in der Judenfrage durch Verwaltungsakte und Terror in Danzig nahezu die gleichen Maßnahmen durchgeführt worden sind wie im Reich, so weiß man in der Danziger Bevölkerung doch von gewissen Bemühungen Polens, eine Judengesetzgebung nach reichsdeutschem Muster in Danzig zu verhindern. Man weiß, daß diese polnischen Anstrengungen nicht den Juden zuliebe gemacht werden, wohl aber dazu dienen sollen, die Interessen des polnischen Handels in Danzig zu schützen, der zum großen Teil in jüdischen Händen liegt. Deshalb sieht die Danziger Bevölkerung die Judenfrage auch unter außenpolitischen Gesichtspunkten.

Allerdings liefen Gerüchte um, daß die Judengesetzgebung auch in Danzig eingeführt werden solle. Nachdem nun die Volkstagssitzung am 20. Juni vorbeigegangen ist, ohne daß es zu der Vorlage von verfassungsändernden Judengesetzen gekommen ist, ist man in Danzig der Ansicht, daß die Nazis die Gerüchte über die angebliche Einführung der Judengesetzgebung nur deshalb kolportieren mußten, um noch mehr Juden dazu zu veranlassen, Angstverkäufe zu tätigen und Danzig zu verlassen. Man hat dieses Ziel auch ohne Zweifel erreicht, denn es sind zahlreiche jüdische Geschäfte zu Spottpreisen veräußert worden und in arische Hände übergegangen.

Das Gauschulungsamt Danzig der NSDAP hat einen eigenen Film für die antisemitische Propaganda hergestellt. Der Hersteller ist der Gauschulungsleiter Löbsack. Der Film ist technisch außerordentlich schlecht, man zeigt ihn deshalb nur in Mitgliederversammlungen. Die Aufnahmen stammen aus den Ghettos der polnischen Städte. Man hat Wert darauf gelegt, besonders eindringlich darzustellen, wie schmutzig die Juden dort wohnen. In dem Film werden auch Originalaufnahmen einer jüdischen „Schächtung“ gezeigt. Dazwischen sieht man sehr schlechte Trickzeichnungen antisemitischen Inhalts und Karikaturen russischer Staatsmänner.

2. Bericht: Die Firma Essig- und Mostrich-Fabrik o.H.G. in Danzig befindet sich seit dem Jahre 1861 in Händen der alteingesessenen Danziger jüdischen Familie Josephsohn. Die Fabrik galt immer als ein absolut reelles Unternehmen, das auch seinen steuerlichen Verpflichtungen stets nachgekommen ist. Die Inhaber haben schon vor dem Kriege städtische Ehrenämter innegehabt und gehörten zu den Gründern der Danziger Philharmonischen Gesellschaft und des Danziger Kunstvereins. Vor einiger Zeit erschien bei dem Inhaber Hugo Josephsohn und seinen beiden Söhnen ein Mann in der Uniform eines politischen Leiters, der früher einmal bei der Firma angestellt war. Dieser Mann erklärte, er wolle die Fabrik kaufen und könne 5000 Danziger Gulden anzahlen. Uber den Rest werde man sich schon einig werden. J. wußte, daß er gezwungen werden würde, den Betrieb zu veräußern und nannte als Kaufpreis eine Summe, die weit unter dem Wert lag, nämlich 120 000 Danziger Gulden. Er könne im äußersten Fall höchstens auf dieser Basis verhandeln. Daraufhin erklärte der Nazi, daß dieser Preis nicht gezahlt werden dürfe, Josephsohn werde weiter von der Sache hören. Einige Tage später erschienen zwei Beamte der Steuerfahndungsstelle und nahmen eine Revision vor. Nach einem Tag bereits hatten sie „festgestellt“, daß die Firma der Steuerbehörde Steuerbeträge in Höhe von 6000 Gulden hinterzogen habe. Alle drei Josephsohns wurden sofort in Haft genommen. Nach etwa drei Wochen Haft erkannten sie im Unterwerfungsverfahren die Steuerschuld an und verpflichteten sich, außerdem 60 000 Gulden Steuerstrafe zu bezahlen. Gleichzeitig wurde mit dem Nazi ein Kaufpreis von 73 000 Gulden vereinbart. Der Betrieb befindet sich bereits in seinen Händen.

Bei dem Kaufmann Salomon Lieb in Danzig fanden Beamte des Steuerfahndungsamtes in der Wohnung 30 000 Gulden in Gold, in einer Wolldecke aufbewahrt. In Danzig ist der Besitz von Gold und Devisen nicht anmeldepflichtig, es herrscht freier Devisenverkehr, nur die Dan-ziger Währung, der Gulden, ist im Zahlungsverkehr und Reiseverkehr nach dem Ausland reglementiert. Ferner besaß Lieb noch ein Sparkassenbuch in Höhe von 3000 Danziger Gulden. Er betrieb kein Geschäft, trotzdem stellte die Steuerbehörde Steuerschulden fest, beschlagnahmte den Goldschatz und zog ihn als angebliche Steuerschuld bzw. als Steuerstrafe ein. Mit den 3000 Danziger Gulden, die ihm übrig blieben, muß Lieb Danzig verlassen.

Der jüdische Zahnarzt Dr. Kurt Zausmer, den die Steuerbehörde völlig ausgefleddert hat, benötigte zu Auswanderungszwecken ein polizeiliches Führungszeugnis. Die Polizeibehörde erhob für Ausstellung des Führungszeugnisses eine Gebühr von 160 Gulden. Man hatte bei einer Haussuchung bei Zausmer kurz vorher einen Schuldschein vorgefunden, der über 160 Gulden lautete und den ein Schuldner Zausmers, ebenfalls ein Jude, unterschrieben hatte.

Der Danziger Rechtsanwalt Dr. Hellwig, Mitglied der NSDAP, wurde im Juli aus der NSDAP ausgeschlossen, weil er eine jüdische Firma steuerlich beraten hatte. Gleichzeitig wurde ihm das Notariat entzogen.

In sämtlichen Seebädern im Freistaat Danzig, die sich in Verwaltung der Stadtgemeinden Danzig oder Zoppot befinden, ist es in diesem Jahre Juden untersagt, den allgemeinen Strand zum Baden zu benutzen. In einigen Bädern ist ein Stück des Strandes abgeteilt, der von Juden benutzt werden kann. Dieser Strand ist aber stets leer. Die Bevölkerung von Zoppot z. B. - Zoppot wurde früher vornehmlich von polnischen Juden besucht - ist über diese Neuregelung sehr empört, da die polnischen Juden Zoppot boykottieren. Die Folge dieser Maßnahmen ist, daß das Bad Zoppot fast leer ist. Gauleiter Förster und der Zoppoter Oberbürgermeister Temp hatten zwar vor der Saison großen Fremdenzustrom aus dem Reich angekündigt. Diese Ankündigungen haben sich jedoch nur in sehr geringem Umfang bewahrheitet, da das reichs-deutsche Publikum nicht genügend Devisen zur Reise nach Danzig erhält. In Zoppot wird jetzt in der Bevölkerung das Witzwort verbreitet: „Ein Volk, ein Reich, ein Kurgast!“

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