7. Die „Säuberung des deutschen Kulturlebens“
Die „Säuberung des deutschen Kulturlebens“ von jüdischen Elementen nimmt immer groteskere Formen an. So hat das Propagandaministerium z. B. angeordnet, daß Musik jüdischer Komponisten und von Juden ausgeführte Musik nicht mehr auf Schallplatten aufgenommen werden darf und das bereits hergestellte „jüdische“ Schallplatten bis zum 31. März 1938 zu vernichten seien. Komponisten wie Offenbach, Mendelssohn, Mahler, Rubinstein usw. mußten also vom Repertoire der Schallplattenindustrie gestrichen werden, einer Zusatzbestimmung gemäß auch Schubert’sche Lieder mit Texten von Heine, sowie Opern und Operetten mit „jüdischen“ Librettos usw.
Die Kosten, die der Schallplattenindustrie entstehen, werden auf viele Millionen geschätzt.
Der Verlag „Reclam“ präsentierte sich im Januar 1938 als „judenrein“. Aus dem Autorenverzeichnis seien alle jüdischen Namen - vor allem Heinrich Heine - ausgemerzt. Der „Völkische Beobachter“ stellt jedoch fest, daß einige jüdische Dichter, darunter Hugo von Hofmannsthal, vergessen worden sind.
Die im Aufträge der Heidelberger Akademie von Carl Gebhardt im Jahre 1925 herausgegebene vierbändige Spinoza-Ausgabe, die der Spinoza-Forschung in der ganzen Welt als Grundlage dient, ist vergriffen. Die deutsche Regierung gestattet keine Neuauflage.
8. Berichte aus Deutschland
Am 26. Februar hat Adolf Hitler im Münchner Hofbräuhaus eine Rede gehalten, in der er sich über die „Lügenmeldungen“ in der Auslandspresse beklagte und folgende schwere Drohung gegen die deutschen Juden ausstieß:
„Wir können daraus eine Lehre ziehen. Wir werden bald gegen die jüdischen Hetzer in Deutschland energisch Vorgehen. Wir wissen, daß sie Vertreter einer Internationale sind, und wir werden sie alle auch dementsprechend behandeln ...“
Die folgenden Berichte schildern u. a. schwere antisemitische Ausschreitungen in Deutschland, von denen die Auslandspresse bisher nichts erfahren hat. Ein neuer Beweis dafür, daß die mißhandelten deutschen Juden es längst nicht mehr wagen, im Ausland von ihrem Elend zu erzählen, geschweige denn darüber zu schreiben. Die oben zitierte Rede Hitlers stellt einen Versuch dar, die Weltpresse durch die Drohung zum Schweigen zu bringen, man werde sich für das Bekanntwerden der Wahrheit an den Juden in Deutschland rächen.
Berlin, 1. Bericht: Der Kampf gegen das Judentum wird unvermindert fortgesetzt. Im November und Dezember wurde in Berlin vom Gau der NSDAP eine große Propagandawelle unter dem Titel: „Bolschewisten und Juden wollen Aufruhr in der Welt“ gestartet. Damit war der Auftakt zu einer neuen und bisher wohl stärksten Aktion gegen das Judentum gegeben. Diese Propagandaaktion wurde im Januar durch eine Pressehetze fortgesetzt, die vom „Angriff“ und vom „Schwarzen Korps“ getragen wurde. Außerdem beteiligten sich auf Veranlassung des Reichspropagandaministeriums fast ausnahmslos sämtliche Tageszeitungen in Form kurzer Hetzartikel. Besonders aber war es der „Angriff“, der die Gemüter in Aufregung versetzen wollte. Er brachte in mehreren Folgen im Januar eine Artikelserie, genannt „. . . und die Mischpoche verdient . . . Wo die Juden sich eingezwängt haben“.
Diese Aktion wurde auf breitester Grundlage durchgeführt. Kostenlos wurden große Mengen von Sondernummern des „Angriff“ mit den Hetzartikeln verteilt, außerdem wurde eine Propagandamarke herausgebracht, und zwar ein Judenstern mit Inschriften, die sich auf den „neuen Kampf“ bezogen. Diese Judensterne waren bald auf allen Straßen und Plätzen an den Häusern zu sehen. Sie wurden durch die Schuljugend angeklebt, die über die Zellen des NS-Lehrerbundes vom Parteiverlag Franz Eher Nachf. das Material zur Verteilung zur Verfügung gestellt bekommen hatten.
Bei dieser neuen Hetzwelle hat es sich nicht mehr darum gehandelt, das Volk in eine neue Pogromstimmung zu versetzen, sondern vielmehr darum, einen Resonanzboden für die Maßnahmen zu schaffen, die der Propagandaaktion alsbald folgten.
In erster Linie wurde von seiten der Ärztekammer in Gemeinschaft mit dem Reichsverband der Ersatzkrankenkassen ein schwerer Schlag gegen die jüdische Ärzteschaft geführt. Die jüdischen Ärzte Berlins erhielten unter dem 28. Dezember 1937 von der Kassenärztlichen Vereinigung folgende Zuschrift, durch die ihnen der Wegfall der Kassenpraxis für die Ersatzkassen angekündigt wird:
Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands Berlin W 35,
Landesstelle Berlin 28. 12. 37
Körperschaft des öffentlichen Rechts Woyrschstr. 33
Tagebuch Nr. Dr.Qu/Lu. (Ärztehaus)
In Nummer I des Deutschen Ärzteblattes von 1938 werden neue Bestimmungen über die Zulassung zur Ersatzkassenpraxis erscheinen. § 1 Abs. 2 der gen. Bestimmungen wird folgendermaßen lauten:
„Die Zulassung der im Sinne der Nürnberger Gesetze jüdischen Ärzte, die bisher zur Ersatzkassenpraxis zugelassen waren, erlischt mit dem Tage des Erlasses dieser Bestimmungen, gleichviel, ob diese Ärzte zu den Pflichtkrankenkassen zugelassen sind oder nicht.“
Ich mache Sie deshalb vorsorglich darauf aufmerksam, daß Ihre Ersatzkassenpraxis seit dem 1. Januar 1938 erlischt.
Da die Wohlfahrtspraxis mit der Ersatzkassenpraxis unbedingt gekoppelt ist, erlischt mit dem gleichen Zeitpunkt die Zulassung zur wohlfahrtsärztlichen Tätigkeit.
Das dreieckige T-Schild ist umgehend hier abzuliefern.
gez. Unterschrift (unleserlich)
Durch diese so kurzfristige Aufkündigung eines alten und bisher erfolgreichen Vertrages, die gleichzeitig die Wohlfahrtspraxis der jüdischen Ärzte aufhob, wurde die jüdische Ärzteschaft zum großen Teil wirtschaftlich ruiniert. In Berlin verlieren sie dadurch etwa 1/4 bis 1/3 ihrer bisherigen Praxis. Zur Zeit laufen Verhandlungen im Reichs-Innenministerium, die durch die Reichsvertretung der deutschen Juden angestrebt worden sind mit dem Ziel, eine Sonderverordnung für jüdische Ersatzkassenmitglieder bzw. jüdische Wohlfahrtspatienten zu erwirken, damit diesen auch weiterhin in diesem Falle die Behandlung durch jüdische Ärzte gestattet wird. Auch nach dem geltenden Recht werden ja arische Ärzte angehalten, jüdische Patienten an jüdische Ärzte zu überweisen.
Bei dieser Maßnahme entfällt also auch die bisherige Begünstigung der jüdischen Frontkämpfer.
Ähnliche Maßnahmen sind in der Bekleidungsindustrie in die Wege geleitet worden. Der Träger des Kampfes gegen das Judentum in der Konfektion ist die Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e. V. (Adefa), Berlin W. 8, Markgrafenstr. 48.
Die Adefa wird weitgehendst durch das Reichs-Propagandaministerium, das Reichs-Wirtschaftsministerium, die Handelskammern und die DAF gefördert. Durch sie wird in gemeinster Form der Kampf gegen das Judentum in der Konfektion geführt. Ihr stehen dafür große Geldmittel in Form von Bankkrediten zur Verfügung, die über das Bankhaus Sponholz & Co., vorm. H. Herz K.G., Berlin SW 19, Jerusalem Straße 25 und (bei Exportfirmen) über die Devisen-Beratungsstelle in Berlin W 9, Potsdamer Platz 1 geleitet werden. Gerade die Konfektion wird angehalten, im Rahmen des Vierjahresplans durch gesteigerten Export devisenbeschaffend zu wirken. Die einzelnen Hauptgruppen der Adefa bringen deshalb in vierwöchentlichen Abständen an die angeschlossenen arischen Betriebe Nachrichtenmaterial zum Versand, das Ratschläge vermittelt.
Dieser zähe Kampf ist auf die Dauer nicht ohne Erfolg geblieben. Zum 1. April haben etwa 40 der größten Berliner Konfektionsfirmen die Schließung ihrer Betriebe oder die Überführung in arische Hände beschlossen, darunter die alten Häuser Leopold Seligmann, Berlin W 8, Mohrenstr. 44, Markwald & Scheidemann, Berlin SW 19, Jerusalemer-str. 23, Alex Hiller & Co., Berlin W 8, Mohrenstr. 42/44, Kurt Loepert & Co., G.m.b.H., Berlin SW 19, Jerusalemerstr. 13, Hugo Kafka, Berlin SW 19, Hausvogteiplatz 9 und zahlreiche, nicht weniger namhafte andere. An ihre Stelle treten arische Unternehmungen, die zum Teil schon recht lebhaften Umsatz erreichen, obwohl ihnen nur beschränkte Geldmittel zur Verfügung stehen. Hier springen Sponholz & Co. als Adefa-Manager in die Bresche. Als Beispiel sei die Firma Hensel & Mortensen, Berlin W 8, Kronenstr. 42/43 genannt. Die beiden Unternehmer verfügen nur über ein Kapital von 25 000 RM, haben aber, obgleich die Firma erst vier Jahre besteht, im letzten Geschäftsjahr einen Umsatz von rund 3 Millionen RM erreicht. Sie verfügen bei Sponholz & Co. über einen offenen Bankkredit in Flöhe von 1 Million RM. Trotz mancher Mängel, besonders hinsichtlich ihrer Bankverpflichtungen, beginnen sie das Feld zu beherrschen.
Die Kleinhändler haben sich ungern bereitgefunden, mit den neuen arischen Firmen zu arbeiten, weil ihnen dort langfristige Zahlungsziele nur selten gewährt werden können und die Forderungen der Großhändler durch die Banken von ihnen eingetrieben werden. Wenn der Kleinhandel sich dennoch von den immer noch lange Zahlungsziele gewährenden jüdischen Lieferanten ab und dem arischen Unternehmer zuwendet, so geschieht es, weil auch auf ihn durch seine Organisationen ein energischer Druck ausgeübt wird und auch die Finanzämter bei Buchprüfungen ihn darauf hinweisen, daß die Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Lieferanten allmählich vollständig abzubrechen sind. Der jüdische Großhändler wird durch diese Maßnahmen fortgesetzt aus seinem bisherigen Tätigkeitsfeld verdrängt. Lediglich im Export halten die Juden noch in der Bekleidungsindustrie ihre Stellung. Auch arische Ausländer bevorzugen, wenn sie überhaupt noch auf dem deutschen Markt kaufen, alte jüdische Geschäfte. Es wird aber auch auf diesem Felde nur eine Frage der Zeit sein, bis durch die planmäßige Arbeit der Adefa die jüdischen von arischen Unternehmungen abgelöst sein werden.
In der Konfektion ist dem Judentum für die Zukunft ohnehin das Wasser abgegraben. Kürzlich wurde eine Verfügung erlassen, daß Neueröffnungen in der Bekleidungsindustrie bis zum 31. Dezember 1938 genehmigungspflichtig sind. Juden wird die Genehmigung nicht erteilt.
In anderen Wirtschaftszweigen liegen die Verhältnisse ähnlich wie in der Konfektion. Wie wir erfahren, finden zur Zeit Beratungen statt, um einen weiteren Wirtschaftszweig, nämlich alle vom Reichsnährstand kontrollierten Unternehmungen, dem Einfluß des Judentums zu entziehen.
Das Judentum beschränkt sich darauf, zu halten, was zu halten ist. Jeder Unternehmergeist ist gebrochen. Von ehemals rund 600 000 Juden in Deutschland sind bereits 225 000 ausgewandert. Die Zahl der Juden in Deutschland wird gegenwärtig nur noch mit etwa 375 000 angegeben.
2. Bericht: Die „Arisierung“ jüdischer Firmen wird jetzt mit Hochdruck betrieben. Bisher haben Schacht und seine Leute gebremst. So sind z. B. die Filiale der Firma Rosenheim am Kurfürstendamm und der „Zigeunerkeller“ im Westen in arische Hände übergegangen. Der Antisemitismus faßt im Volke nur langsam Wurzel, aber die jahrelange Propaganda wirkt eben doch. Es ist ein gutartigerer Antisemitismus als ihn die Nazis predigen, immerhin - es ist Antisemitismus.
Von den alten Richtern werden die jüdischen Anwälte mit besonderer Zuvorkommenheit behandelt, von den jungen meist umso schlechter. Aber sie haben immer seltener auf dem Gericht zu tun. Oft verläuft ein Fall so: Ein Nichtarier braucht eine Prozeßvertretung in einem entfernt gelegenen, kleineren Ort. Der jüdische Anwalt beauftragt einen dortigen arischen Anwalt. Antwort: „Ich vertrete keine Juden, wenden Sie sich an den nächsten jüdischen Anwalt.“ Der nächste jüdische Anwalt wohnt in einer Stadt, die mehrere Bahnstunden vom Gerichtsort entfernt ist. Der Jude, der die mehrfachen Fahrtkosten nicht tragen kann, findet überhaupt keinen Vertreter.
Fast alle Baugesellschaften, die staatliche Zuschüsse haben, setzen jüdische Wohnungsinhaber aus ihren Bauten hinaus.
3. Bericht: Vom Antisemitismus ist in Berlin nichts zu merken. Es gilt immer noch das alte Wort: „Wir sch ... auf die Juden, wir gehen zu Kohn.“ Viele Arbeiter gehen zu jüdischen Händlern usw., ohne daß ihnen daraus große Schwierigkeiten erwachsen.
Südwestdeutschland, 1. Bericht: In Kehl a. Rhein kam es am 11. November 1937 zu Ausschreitungen gegen das jüdische Kaufhaus Wohlgrat. Das Geschäft ging früher sehr gut. Aber seit längerer Zeit fürchtete sich ein Teil der Kunden, hineinzugehen, weil vor dem Haus mehrfach nationalsozialistische Demonstrationen veranstaltet worden waren. Deshalb beschloß der Inhaber, den Betrieb zu liquidieren. Er erhielt von dem Bezirksamt die Erlaubnis zum Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe und mußte dafür 250,- RM Gebühren zahlen. Am Montag, den 8. November begann der Ausverkauf und von Tag zu Tag wurden die Besucherzahlen größer. Jeder wollte die billigen Preise ausnützen. Am Donnerstagabend gegen 5 Uhr kamen plötzlich etwa 100 Mann SA und SS in Zivil, fingen an zu gröhlen und Sprechchöre zu bilden. Das Firmenschild wurde heruntergerissen. Der Inhaber ließ die Rolläden herab und schloß die Tür. Die zahlreichen im Laden anwesenden Kunden wurden durch eine Hintertür hinausgelassen. Einer der Käufer hatte sein Fahrrad vor dem Einkauf auf der Straße stehen lassen. Dieses Fahrrad wurde auf die Straße geworfen und vollständig demoliert. Erst später erschien die Polizei. Verhaftet wurde niemand. Die „Herren“ wurden nur höflich gebeten, jetzt nach Hause zu gehen. Am Freitag blieb das Geschäft geschlossen. Am Samstag und Montag standen zwei Schutzleute vor dem Laden, um den Betrieb zu überwachen.
In Kehl geht es den Juden ganz schlecht. Verschiedene Geschäfte haben schon geschlossen, und die Inhaber wollen ihre Häuser verkaufen. Aber niemand bietet ihnen auch nur einen einigermaßen annehmbaren Preis dafür.
2. Bericht: In der Weihnachtszeit wurde wieder einmal von den NS-Stellen ein Boykott jüdischer Geschäfte für nötig befunden. Offenbar hatte man das Gefühl, daß die antisemitische „Aufklärung“ des „Stürmer“ und der in dieser Hinsicht ebenfalls nicht schüchternen provinziellen NS-Presse keine allzu tiefgehende Wirkung ausüben. Deshalb wurden vor die jüdischen Geschäfte der Stadt - es gibt nur wenige - SA-Posten gestellt, die die Käufer fernhalten sollten. Die Wirkung war nicht überzeugend. Die allerwenigsten Leute ließen sich abhalten. Die Kleinbürger aus der Stadt und die Bauern kamen in hellen Scharen und machten sogar gelegentlich recht deutliche Bemerkungen, wenn der SA-Mann allzu stürmisch seinem Auftrag nachkam. Für die Posten war es bestimmt kein angenehmer Dienst. Ein biederer Bauer aus der Nachbarschaft wurde von einem SA-Mann angehalten, als er das größte jüdische Geschäft des Platzes betreten wollte. Es entwickelte sich folgendes Gespräch. Der SA-Mann: „Was wollen Sie hier? Wissen Sie nicht, daß das ein jüdisches Geschäft ist?“ - Der Bauer: „Ja, das weiß ich. Aber ich habe es schon gewußt, als Du noch in die Hose gesch ... hast!“ Sprachs und verschwand, an dem verdutzten Hitlergardisten vorbei, im jüdischen Warenhaus.
3. Bericht: In Konstanz gehen die großen jüdischen Ladengeschäfte eines nach dem anderen in sogenannte arische Hände über. Es sind jetzt von den vielen jüdischen Geschäften nur noch ein paar übrig. Für die wird die Stunde in den nächsten Wochen auch geschlagen haben.
Von den vielen Juden, die bisweilen über die Grenze nach Kreuzlingen in der Schweiz gingen, können jetzt schon viele nicht mehr hinüber. Den meisten, noch nicht allen, ist der Reisepaß entzogen worden, auch wenn er noch zwei oder drei Jahre Gültigkeit gehabt hätte. Andere bekamen wieder einen Paß. Zuerst auf ein Jahr, dann nur noch auf ein halbes und jetzt gar nur noch auf ein Vierteljahr lautend. Eine große Zahl von Juden erhielt aber überhaupt keinen Paß mehr.
In X. wollte eine sterbende jüdische Frau den Beistand einer evangelischen Gemeindeschwester haben. Die Gemeindeschwester aber durfte nicht kommen. Tatsächlich ist den kirchlichen Schwestern verboten worden, Juden zu betreuen. Die evangelischen Schwestern halten sich auch daran, während die katholischen Schwestern das Verbot umgehen.
Bayern, 1. Bericht: Die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Juden werden in unserem ländlichen Bezirk bis jetzt nicht so rigoros durchgeführt wie in anderen Landesteilen. Mancher Jude macht bei uns noch gute Geschäfte. Viele Arbeiter gehen noch zum Juden kaufen, und sogar Pgs. und Beamte kaufen noch in jüdischen Geschäften. Siemens-Schuckert in Nürnberg dagegen hat zu Weihnachten eine Arbeiterin entlassen, die im jüdischen Warenhaus Schocken eingekauft hatte.
Daß die Bevölkerung antisemitisch geworden wäre, kann man bei uns nicht sagen. Man macht zumindest einen Unterschied zwischen Juden und Juden. Man bedauert es, wenn beliebte Juden das Land verlassen. Oft genug hat man dazu die Erfahrung gemacht, daß christliche Geschäftsleute schlimmer waren als jüdische. Bei uns sind die Juden im Besuch von Lokalen und Geschäften keiner Beschränkung unterworfen. Gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen wird allerdings vermieden.
Seit 1. Januar dürfen die jüdischen Geschäfte nicht mehr inserieren.
Alle jüdischen Buchhandlungen in München mußten schließen.
2. Bericht: Im Bibliotheksbau des Deutschen Museums in München wurde bis 31. Januar die Ausstellung „Der ewige Jude“ gezeigt. Ähnlich wie in der antibolschewistischen Ausstellung werden die Besucher in der verlogensten Weise beeinflußt. Der Eintritt kostet 50 Pfg., für Mitglieder der DAF 35 Pfg. In den großen Münchner Betrieben befanden sich die Billetts in den Lohntüten, der Betrag war vom Lohn abgezogen worden. In allen staatlichen und städtischen Betrieben wurde der Kartenverkauf gleichfalls erzwungen. Große gelbe Plakate schreien in den Straßen und überall ist das Gesicht des ewigen Juden zu sehen. Das riesige verzerrte Judenbild auf dem Dach des Deutschen Museums ist bei Nacht mit Scheinwerfern beleuchtet.
Die Ausstellung selbst ist mit größter Raffiniertheit zusammengestellt und bleibt nicht ohne Eindruck auf den Besucher. Im ersten Raum sieht man u. a. große Modelle von Körperteilen, so z. B. das jüdische Auge, mandelförmig mit stechendem Blick, die jüdische Nase, den jüdischen Mund, die Lippen usw., dann die verschiedensten Rassentypen. Da sind drei Bilder von Trotzki, betitelt: „Die jüdische Geste“, da sind zwei Meter große Photographien von Chaplin usw., alles in der abstoßendsten Form. Im zweiten Saal sieht man alte jüdische Dokumente, das Buch Esther, Kupfersticharbeiten, Übersetzungen in Streicher-Manier. Die politischen Juden haben ihren eigenen Platz. Da sieht man Marx, Lassalle, Radek, Paul Singer, viele Russen, deutsche Reichstagsabgeordnete, darunter Dr. Hertz, Stampfer, Dr. Hilferding usw.
Von Paul Singer wird behauptet, daß er einmal zu den Arbeiterinnen seines Betriebes gesagt hätte, wenn sie bei ihm nicht genug verdienten, so sollten sie eben auf die Straße gehen. Jüdische Ärzte und Wissenschaftler werden gezeigt, darunter sind aber nicht zu finden: Ehrlich, Haber, Wassermann, Herz. Ein Raum zeigt alle Requisiten einer Freimaurerloge: Skelette, Ketten, Kerzen. In einem anderen kann man jüdische Damenmoden sehen. Das sind einfach Moden aus früherer Zeit, die allgemein getragen wurden, die aber heute lächerlich aussehen, weil man nicht mehr an sie gewöhnt ist. Jüdische Literatur wird unter Zellophanpapier gezeigt. Schaufenster mit Stoffen und großen Aufschriften: „Ausverkauf“ sollen den „jüdischen Geschäftsschwindel“ darstellen. Künstler und Journalisten, Philosophen und Ärzte, alle werden in bösartigen Karikaturen gezeigt. Da sieht man „Max Reinhardt wie er kam und wie er ging“. Im letzten Raum wird „Die Filmkunst der Juden“ gezeigt. Neben Bildern, Filmplakaten usw. sieht man einen Film, der wohl das wirkungsvollste Machwerk der Ausstellung ist. Einen Film, den niemand verteidigen kann und der in seiner Kitschigkeit auch niemals von ernsten Menschen anerkannt worden ist.
Er läuft hier als Beweis für die jüdische Verderbtheit. Am Schluß des Filmes erscheint Rosenberg auf der Leinwand. Er sagt: „Sie sind entsetzt über diesen Film. Ja, er ist ganz besonders schlecht, aber gerade diesen wollten wir Ihnen zeigen.
Ein Freund, der die Ausstellung besichtigte, äußert sich über den Eindruck: „Ich habe beruflich seit 20 Jahren mit literarischen Angelegenheiten zu tun und kenne mich auch etwas auf dem Gebiet des Films aus. Ich habe die antisemitischen Aktionen der Nazis und ihre Wirkung immer mit Interesse verfolgt. Meine lange Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung bewahrt mich davor, über die Vergangenheit falsch zu urteilen und läßt mich die Geschichtsfälschungen der Nationalsozialisten erkennen. Als ich die Ausstellung verließ, war ich tief beeindruckt. Hier wird eine propagandistische Wirkung erzielt, die auf den unwissenden Betrachter starken Einfluß gewinnen muß. Wahrheit und Lüge sind in einer so raffinierten Weise miteinander verkoppelt, daß die Lüge wie Wahrheit wirken muß. Meine Begleiterin, die sich früher nie mit Politik beschäftigt hat, fragte mich, was ich einzuwenden habe und ob denn all das nicht wirklich überzeugend sei. Ich wußte nicht, wie ich ihr den Schwindel erklären, wo ich die Lüge anpacken sollte. Man bekommt das Gefühl, daß all die Menschen, die da hineinrennen, sich kein Urteil bilden können, man spürt, wie die Lüge sich ihnen als Wahrheit in die Herzen frißt, weil sie die Wahrheit nicht wissen und deshalb die Lüge nicht erkennen können. Man leidet unter seiner Ohnmacht vor diesem tollen Gemisch von Haß, Propaganda und Verdrehung. Gelingt es dem Faschismus wirklich, die Geschichte zu fälschen und die Wahrheit aus den Hirnen der Menschen zu vertreiben? Gelingt es ihm wirklich, die Völker glauben zu lehren, daß die Sonne um die Erde kreist? Ich jedenfalls habe meiner Begleiterin die Wahrheit nicht erklären können, ich war zu schwach dazu.“
3. Bericht: In Nürnberg läuft eine „Aktion“, die darauf hinzielt, die jüdischen Ladengeschäfte aus den Hauptgeschäftsstraßen zu verdrängen. Als Endtermin für diesen Umzug ist der 1. April oder 1. Mai dieses Jahres vorgesehen. Auch das erfolgt auf Verlangen Streichers, der die jüdischen Geschäfte aus dem Stadtbild nach Möglichkeit völlig verdrängen will. Es hat den jüdischen Geschäften auch nichts genützt, daß sie auf Anregung der Gauleitung während des letzten Parteitages eine Woche lang geschlossen hatten. Wie diese Verlegung der Ladengeschäfte in die Seitenstraßen bei den großen Warenhäusern erfolgen soll, ist unerfindlich. Aber es ist nicht daran zu zweifeln, daß die Nazis alles daran setzen werden, ihre Absicht durchzuführen.
Einige Firmen haben bereits den Anfang gemacht. So hingen in den Läden der Firma Salberg z. B. bereits im Januar Plakate, daß hier zu vermieten sei. Salberg hat übrigens besonders große Schwierigkeiten. Es heißt in der Stadt, daß Streicher Wert darauf legt, diese Firma überhaupt aus Nürnberg zu vertreiben. Sie soll auch in keiner Seitenstraße mehr Unterschlupf finden. Der Druck auf Salberg ist wohl deshalb besonders stark, weil diese Firma sehr gute Geschäfte gemacht hat und eine außerordentlich schwere Konkurrenz für die arischen Ladengeschäfte darstellt. Eine andere Firma, das Seidenhaus Lehmann, früher das größte Nürnberger Modegeschäft mit einem großen Laden in einer der Hauptgeschäftsstraßen, zog am 1. März in eine kleine Nebenstraße. Der Umzug kostete diese Firma angeblich 40 000 Mark. Aber es ist dabei auch noch die Frage, ob sich diese 40 000 Mark überhaupt rentieren.
Die Angestellten der jüdischen Firmen sind der Auffassung, daß man in Nürnberg sehr bald überhaupt kein jüdisches Ladengeschäft mehr dulden wird.
Mit der Aktion „Juden aus den Hauptstraßen“ sind die Geschäftsstraßen gemeint, also vor allem die Königstraße, die Karolinenstraße und die Kaiserstraße. Es ist wahrscheinlich, daß die jüdischen Geschäfte, die sich besonderer Abneigung erfreuen, überhaupt keine Läden mehr bekommen werden, d. h., daß man ihnen keine Erlaubnis mehr geben wird, sich in einer anderen Straße anzusiedeln, oder daß sich kein Hausbesitzer mehr findet, der ihnen einen Laden vermietet oder kein Handwerker, der ihnen den Laden ausbaut. Wege gibt es jedenfalls genug, um die unliebsamen Juden ohne großes Aufsehen loszuwerden.
Über diese Dinge verlautet in der Presse nichts, aber das ist die Atmosphäre, in der die Angestellten der jüdischen Geschäfte und die Besitzer jüdischer Unternehmen leben. Man muß berücksichtigen, daß es sich bei diesen Geschäften zwar der Zahl nach um wenige Läden handelt, aber doch um die größten und repräsentativsten Geschäfte der Stadt. Vorwiegend sind es Textilgeschäfte, d. h. Bekleidungsgeschäfte jeglicher Art, Galanteriewarenhandlungen, Warenhäuser usw.
Im August vorigen Jahres ist der Nürnberger Oberbürgermeister, der zugleich Preisüberwachungskommissar ist, gegen die jüdische Holzgroßhandlung M. Bettmann & Co. in Nürnberg wegen „verbotener Preissteigerung“ vorgegangen und hat zunächst das gesamte Vermögen Bettmanns und seiner sämtlichen Verwandten beschlagnahmt.
Dann erschien ein großer Artikel in der Zeitung und eine Erklärung über Preissteigerungen wurde veröffentlicht. Der Firmeninhaber wurde angeklagt und schließlich zu einer Geldstrafe von 100 000 RM verurteilt. Diese außerordentlich hohe Strafe dürfte für die Firma die oberste Grenze der Zahlungsfähigkeit bedeuten.
Schon 1933 wurde den Juden in Nürnberg verboten, die Badeanstalten, und zwar Fluß- und Hallenbäder, zu besuchen. Sie durften nur noch in die städtischen Brausebäder gehen. Im Dezember 1937 ist auch diese Erlaubnis zurückgezogen worden. Oberbürgermeister Liebei hat in der Ratsherrensitzung wörtlich erklärt: „Man kann keinem Deutschen zumuten, daß er eine Wanne besteigt, in der sich vorher ein Jude befunden hat.“
In Nürnberg hat es nur einen einzigen jüdischen Apotheker gegeben, der im Zuge der Apotheker-Neuordnung ebenfalls weichen mußte.
Eine Medizinaldrogerie, die sich in jüdischen Händen befand, ist nun auch arisch geworden. Das ging sehr schnell. Der „Stürmer“ hat eine Notiz über diese beiden Firmen gebracht und einige Wochen später waren beide Läden kassiert.
Es gibt jetzt zwei jüdische Cafés (Bristol und Habsburg), die ausschließlich für Juden bestimmt sind. In allen anderen Cafés sind die bekannten Schilder angebracht: „Hier sind Juden unerwünscht!“ Die beiden jüdischen Cafés müssen jedes Jahr während des Parteitags schließen. In andere Lokale gehen die Juden nicht, sie machen schon gar nicht mehr den Versuch, solche Lokale zu betreten. Ebenso gehen sie auch in kein Kino. Das ist ja auch verständlich. Wenn schon der Film nicht antisemitisch ist, so wird doch sicher in jeder Wochenschau etwas gezeigt, was gegen sie gemünzt ist. Ebenso verhält es sich natürlich mit dem Theater. Diese völlige Ausschließung vom öffentlichen Kulturleben ist für die Juden sicher schwer zu ertragen, wenn man bedenkt, daß sie auch in Nürnberg früher zum interessierten Publikum gehörten. Die Juden finden keinen Ersatz in geselligen Veranstaltungen. Ich habe, zumindest, soweit mein Bekanntenkreis in Betracht kommt, den Eindruck, daß sich die jüdischen Familien wirklich von allem zurückziehen. Sie scheuen sich, arische Bekannte auch nur zu grüßen, um sie nicht in Verlegenheit und Schwierigkeiten zu bringen.
Daß der Theaterbesuch für die Juden gesperrt ist, macht sich besonders fühlbar, denn vor 1933 waren die Nürnberger Theater vor allem von jüdischem und intellektuellem Publikum besucht. Einer meiner Freunde, ein jüdischer Sportler, gab zunächst Kino- und Theaterbesuche auf, verengerte seinen Freundeskreis, vermied es, arische Freunde auf der Straße anzusprechen und später, sie zu grüßen, ging nicht mehr zu Ariern in die Wohnung, schränkte auch seine sportliche Betätigung ein, ebenso das Wandern. Wenn wir uns in den letzten Jahren auf irgend einer Wanderung zufällig trafen, dann sind wir noch zusammen gegangen, aber sowie wir auf dem Nachhauseweg zum Bahnhof und unter Menschen kamen, dann erklärte er: „Steig Du vorn in den Zug ein, ich gehe nach hinten, es ist zu gefährlich für Dich, mit mir zusammen zu sein.“ Das ist ein typisches Beispiel. Ablenkung zu finden ist für diese Leute kaum möglich. In Bayern können sie in keinem Gasthaus mehr Unterkommen und aus den Sportorganisationen und allen anderen Vereinen sind sie ausgeschlossen. Was auf die Dauer mit ihnen geschehen soll, ist mir unerfindlich. Auswandern scheint die einzige Lösung für sie zu sein.
Im Januar sind den jüdischen Vertretern von der Handelskammer die Vertreterkarten entzogen worden. Die Mitglieder des Einzelhandelsverbandes mußten bis zum 31. Januar eine Erklärung unterzeichnen, daß sie künftig nicht mehr bei jüdischen Firmen kaufen und keine jüdischen Vertreter empfangen würden. Die Inhaber größerer Firmen wurden zum Einzelhandelsverband bestellt, wo ihnen entsprechende mündliche Anweisungen gegeben wurden. Zunächst wird der jüdische Handel und Großhandel boykottiert, dann kommt wohl auch die jüdische Industrie an die Reihe. Schachts Rücktritt, das ist die allgemeine Auffassung, hat diese Entwicklung beschleunigt.
Sachsen, 1. Bericht: In Dresden wurden in der Nacht vom 22. zum 23. Januar alle jüdischen Geschäfte mit gelben Plakaten beklebt, die die Aufschrift trugen „Judengeschäft“. Außerdem fuhr die ganze Woche das NSKK (Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps) mit Wagen herum, an denen Stürmerplakate hingen. Mutschmann hat kürzlich im „Weißen Adler“ in dem zu Dresden gehörigen Kurort Weißer Hirsch eine Versammlung gegen die Verjudung des Weißen Hirsch abgehalten.
U. a. wurde dort der Beschluß gefaßt, daß die Juden von nun an nur noch in besonderen Judenhotels und Pensionen wohnen dürfen. Außerdem sei ihnen der Aufenthalt im Kurpark und an der Sprudelhalle nur in der Zeit von 15 bis 17 Uhr gestattet. Der „Angriff“ veröffentlichte Fremdenlisten des „Weißen Hirsch“, in denen die jüdischen Namen unterstrichen waren. Sonderdrucke davon wurden kostenlos verteilt.
Ein Geschäftsmann aus Z. berichtete, daß dort die Juden dauernd von Steuerkontrolleuren besucht werden und daß dabei Geschäftsgebarungen beanstandet werden, die man arischen Kaufleuten nicht übel nimmt. Die Schikanen seien so groß, daß viele jüdische Geschäftsinhaber auswandern wollen, zumal sie mit dem Entzug des Gewerbescheines rechnen müssen.
Das Kaufhaus Tietz in Greiz besteht noch und die Leute kaufen dort noch immer gern ein, weil die Preise vorteilhafter sind als bei anderen Kaufleuten. Selbst SA-Leute lassen sich durch andere Personen dort Waren einkaufen.
2. Bericht: Die Hausgrundstücke, die von Juden verkauft werden oder verkauft werden müssen, sind noch immer begehrenswerte Käufe, obgleich Grundstücke sonst nicht sehr gefragt sind. Beispiele aus Dresden, Freiberg und anderen Orten beweisen, daß solche Häuser oft nur zu 25% des Schätzwertes verkauft werden. Die arischen Hausbesitzer fühlen sich mit den jüdischen Hausverkäufern im stillen solidarisch, da durch diese Maßnahmen auch ihr Hausbesitz im Wert gemindert wird.
Die Parteikäufer lachen über solches „Mitgefühl“. Sie sind der Auffassung, daß sich hier zeige, wieviel der Jude opfern könne. Der niedrige Preis zeige schon ein Stück Schuldbewußtsein.
3. Bericht: In unserem Bezirk gibt es nur wenig Juden. Lesen die Leute von Maßnahmen gegen die Juden in den Großstädten, dann stimmen sie zu. Wird aber ein Jude aus dem näheren Bekanntenkreis betroffen, dann jammern dieselben Leute über den Terror des Regimes. Da rührt sich wieder das Mitgefühl.
4. Bericht: In einer Gastwirtschaft kam ich mit einigen Fremden ins Gespräch, die mit der Zeit Vertrauen faßten. Sie wandten sich gegen die Judengesetze. Wenn auch früher manches hätte anders gemacht werden können - z. B. hätte man verhindern sollen, daß die Juden in den Nachkriegsjahren mit Vorliebe Ärzte und Rechtsanwälte wurden so müsse doch gesagt werden, daß die Nazis mit ihrem Kampf gegen die Juden dem Volke Sand in die Augen streuen. Sie betrögen das Volk, wenn sie behaupteten, daß der Jude und nur dieser allein die Schuld am deutschen Unglück trage, denn das deutsche Volk sei nicht nur von jüdischen, sondern auch von christlichen und nazistischen Kapitalisten ausgebeutet worden und werde heute noch ausgebeutet. Nicht die Konfession und Rasse, sondern der Charakter und das soziale Mitgefühl des Menschen seien entscheidend für die Bewertung des einzelnen. Und da müsse doch gesagt werden, daß es „Gute und Böse“ bei den Juden wie bei den Christen und Nazis gäbe. Schwarz-Weiß-Malerei sei noch nie gut gewesen und würde wahrscheinlich auch in der Judenfrage ungünstig für Deutschland wirken.
5. Bericht: Die Juden müssen sich fast ganz aus dem Sportleben zurückziehen. Ist hie und da noch ein Jude als Wintersportler im Erzgebirge zu sehen, so wird er angerempelt, so daß es die Juden in den meisten Fällen vorziehen, zu verschwinden. Wenn nicht alle Zeichen trügen, soll eine neue Pogromstimmung erzeugt werden.
Schlesien, 1. Bericht: In X. verstärkt sich in letzter Zeit wieder die Hetze gegen die Juden. Die Nazis schicken besonders HJ und Schuljugend vor. Die Kinder werden angewiesen, vor den jüdischen Geschäften zu stehen und die Erwachsenen am Betreten der Geschäfte zu hindern. In einigen Fabriken sind am Schwarzen Brett Kundmachungen angebracht worden, durch die darauf hingewiesen wird, daß es der Gefolgschaft verboten sei, bei Juden zu kaufen. Wer das nicht beachte, könne mit der Entlassung rechnen.
In einer Innungsversammlung in Y. wurden alle Händler aufgefordert, unter allen Umständen die Schilder, die ein arisches Geschäft kenntlich machen, sichtbar anzubringen. Es wurden denjenigen scharfe Strafen angedroht, die dem Gebot nicht nachkämen.
2. Bericht: Im oberschlesischen Industriebezirk sind Überfälle auf Juden durch SA-Leute und Hitler-Jugend Alltagserscheinungen. Man will durch derlei amtlich gebilligte Aktionen die Juden zur Abwanderung zwingen. '
Nach zuverlässigen Berichten hat man in Oberschlesien fast allen jüdischen Notaren und Rechtsanwälten die Anwaltschaft entzogen. Die letzte veröffentlichte Liste führte 26 Notare und 32 Rechtsanwälte auf, die ihren Beruf seit dem Ablauf der Genfer Konvention nicht mehr ausüben dürfen. Die Belegschaften werden aufgefordert, jüdische Ärzte auch dann zu meiden, wenn diese noch Krankenkassenmitglieder behandeln dürfen. Auf diese Weise hofft man die Ärzte zu zwingen, daß sie ihre Verträge mit den Kassen selbst lösen. Einige Vertrauensräte auf den Gruben Ludwigsglück und Hedwigswunsch wollten durch Belegschaftsversammlungen durchsetzen, daß den jüdischen Ärzten das Betreuungsrecht entzogen wird. Diese Anträge scheiterten, da die Mehrheit sich gegen den Ausschluß der jüdischen Ärzte entschied.
In den Skalleywerken in Hindenburg wurden die Arbeiter befragt, wo sie ihre Einkäufe besorgen. Als sie sich weigerten, darauf zu antworten, wurden sie vor den Vertrauensrat geladen. Dort erklärte man ihnen, man habe gehört, daß sie noch in jüdischen Geschäften kaufen, das müsse nun aber endlich aufhören.
In Hindenburg wurden die Magistratsbeamten durch Aushang darauf aufmerksam gemacht, daß es „eines Deutschen unwürdig sei“, beim Juden zu kaufen. In Gleiwitz hat der Magistrat durch Rundschreiben allen seinen Angestellten und Beamten verboten, bei Juden zu kaufen.
Die Kenntnisnahme des Rundschreibens mußte durch Unterschrift bestätigt werden. In Beuthen wurden die gleichen Anweisungen auch auf die Arbeiter ausgedehnt. Dem gesamten Beuthener Kommunalpersonal wurde unter Androhung sofortiger Entlassung verboten, in jüdischen Geschäften zu kaufen.
Die oberschlesischen Beamten mußten in der letzten Zeit ihre arische Abstammung nachweisen. In den Landgemeinden sind im Zusammenhang damit Entlassungen vorgenommen worden. In der Gemeinde Martinau bei Beuthen z. B. wurde ein seit Jahrzehnten beschäftigter Beamter entlassen, weil seine Mutter Jüdin war. An seine Stelle trat ein „alter Kämpfer“, der mehrere Vorstrafen hat.
In Ratibor sind wieder vier jüdische Restaurants geschlossen worden: Stein, Goldberg, Wachsmann und Heimann-Ring. Man hat die Begründung gewählt, die Geschäfte seien „unsauber“ gewesen. Der jüdische Gastwirt Stein war Kriegsteilnehmer und Offiziersstellvertreter. Sein Hinweis darauf blieb ohne Wirkung.
Anhang
Wir lassen zwei Berichte aus Bayern folgen, die den Boykott in den Weihnachtswochen 1937 schildern. Der erste stammt aus einer Provinzstadt mit etwa 15000 Einwohnern, der zweite aus Nürnberg.
1. Bericht: An den beiden Sonntagen vor Weihnachten haben die Nationalsozialisten die jüdischen Geschäfte boykottiert. Das begann am ersten Sonntag während des größten Geschäftsbetriebes in den Nachmittagsstunden. SA-Leute in Zivil stellten sich vor die Geschäftseingänge und schrien jeden an, der hinein wollte: „Volksverräter!“ In der Stadt wurden große Tafeln herumgetragen: „Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter!“ Die Besetzung der Eingänge erfolgte ganz plötzlich, so daß viele Leute gar nichts davon wußten und sehr überrascht waren, als man sie anschrie. Die meisten sind sofort umgekehrt. Vorher waren die jüdischen Geschäfte sehr gut besucht. Z. B. sagte der Inhaber eines jüdischen Schneidereigeschäftes, daß er mit dem Geschäftsgang äußerst zufrieden sei. Er habe jetzt viele Kunden, die er in den Wohnungen aufsuchen müsse, weil sie nicht in das Geschäft kommen wollen. Darunter sind auch Beamte.
Aus dem Verlauf der Aktionen einige Bilder: Eine Bäuerin wollte in ein jüdisches Kleidergeschäft gehen. Da trat ihr ein Hitlerjunge entgegen und schrie sie an: „Sie sind eine Volksverräterin!“ Die Bäuerin drehte sich um und gab dem Jungen eine Ohrfeige, dann ging sie ruhig in den Laden. Der Junge war so erschrocken, daß er zuerst nicht von der Stelle kam. Dann rannte er weg und holte Verstärkung. Als die Bauersfrau nach einiger Zeit wieder aus der Tür kam, waren 8 Jungen da, die über sie herfielen und sie von oben bis unten vollspuckten. Die Frau lief zum nächsten Polizisten und berichtete ihm empört, was ihr geschehen war. Der Polizist zuckte die Achseln und sagte: „Da kann ich auch nix machen, waschen Sie sich halt wieder ab.“ Die Frau schimpfte, das Publikum stand herum und lachte.
Ein Jude, vor dessen Geschäft sich eine große Menschenansammlung staute und dessen Ladentüre mit Straßenkot beworfen wurde, ging auf die Polizeiwache und verlangte polizeilichen Schutz. Es erschienen zwei Polizisten und fragten ihn, ob er sich persönlich bedroht fühle. Als er das bejahte, gingen die zwei Polizisten auf die Straße und hielten das Publikum zum Weitergehen an. Die Nazis maulten dagegen auf, die Polizisten gingen daraufhin etwas von dem Geschäft weg und trieben die Leute mit der Begründung auseinander: „Ansammlungen werden nicht geduldet!“ - Ein jüngeres Mädchen, vermutlich eine Angestellte des Geschäftes, kam einmal aus dem Laden. Sofort schrien die jungen Kerle sie an: „Judenmensch, Judenhure" usw. und bespuckten sie. Sie ging sofort wieder zurück und verließ das Geschäft nicht mehr.
In einem Falle wollte ein Mann mit einem Parteiabzeichen in ein jüdisches Geschäft gehen. Sofort stürzten einige auf ihn zu und rissen ihm das Abzeichen herunter. Er erhob heftigen Protest. Es stellte sich heraus, daß er von auswärts war und nicht wußte, daß dieses Geschäft jüdisch ist.
Am Abend nach Geschäftsschluß erschien die Polizei und zerstreute die Ansammlungen. Dabei sagte ein Polizist zu den Nazis, die nicht Weggehen wollten: „Schluß jetzt mit dem Gaudi, jetzt ist’s schon genug.“ Am Goldenen Sonntag wurde der Boykott den ganzen Tag über durchgeführt.
In der Bevölkerung hat das Benehmen der Nazis überall Ablehnung hervorgerufen. Es wurde besonders übelgenommen, daß die Hitlerjugend eingesetzt worden ist, die sich unerhört gegen erwachsene Menschen benommen hat. Die Verrohung trat dabei deutlich zutage. Die an den Ausschreitungen beteiligten SA-Leute in Zivil waren meist Arbeiter, was besonders aufgefallen ist. Auch sie gebärdeten sich ganz fanatisch. Nach dem Boykott ging das Geschäft bei den Juden wieder so gut wie sonst. Auch viele Parteimitglieder sind mit der Aktion nicht einverstanden. Es ist uns bekannt, daß Nazis durch Mittelspersonen bei Juden einkaufen lassen. Da hatte z. B. ein Jude einen großen Posten sehr warmer Fellfäustlinge, die man sonst nirgends bekam. Die Ware ging reißend weg. In diesem Falle hatten auch Nazis keine Hemmungen.
2. Bericht: Das größte lokale Ereignis in Nürnberg war in den letzten Monaten der Weihnachtsboykott. Die Geschichte begann damit, daß die jüdischen Geschäfte am Kupfernen Sonntag einen über alle Maßen großen Erfolg hatten. Die großen Warenhäuser waren den ganzen Tag über belagert, es mußte wiederholt Polizei aufgeboten werden, um die eindrängenden Käufermassen zu ordnen und wiederholt mußten auch die Geschäfte geschlossen werden, damit die darin befindlichen Kunden erst einmal bedient werden konnten. Das Warenhaus Schocken beschäftigte Aushilfen, ebenso das Warenhaus Tietz, das neben seinen 400 ständigen Angestellten noch eine große Anzahl Aushilfskräfte hatte.
Die jüdischen Warenhäuser haben wohl kaum jemals ein so großes Geschäft gemacht wie an diesem Kupfernen Sonntag.
Die Gegenwirkung blieb nicht aus. Einige Tage später erschien in den Nürnberger Zeitungen ein Aufruf des Gauleiters Streicher. Es hieß darin, daß ein jüdisches Blatt in Bukarest „Drohungen“ gegen den Gauleiter ausgestoßen und gleichzeitig auf die Tatsache aufmerksam gemacht habe, daß es immer noch Bukarester Firmen gebe, die Nürnberger Spielwaren usw. kaufen. Streicher forderte unter Bezugnahme auf diese Drohungen auf, die jüdischen Ladengeschäfte zu boykottieren.
Schlagartig setzte zwei Tage später die Boykott-Aktion ein. Vor allen jüdischen Ladengeschäften wurden große, etwa zwei Meter hohe,' rote Plakate aufgestellt, die auf Holztafeln befestigt waren und auf Ständern standen, so daß sie weithin sichtbar waren. Die Plakate gaben den Aufruf Streichers wieder, in dem es u. a. auch hieß, daß „wir Nationalsozialisten den Juden bisher Gastrecht gewährt haben und daß auf die unverschämte Drohung des Bukarester Blattes die Antwort erfolgen müsse: ,Kein Deutscher kauft bei Juden!“ “ - Gleichzeitig marschierten vor allen jüdischen Geschäften Zivilposten auf, die die Eingänge der Geschäfte überwachten, so daß es unmöglich war, sie zu betreten. Vor großen Geschäften standen die Posten Mann an Mann, vor kleineren Läden stand ein Doppelposten rechts, einer links neben der Tür. Den jüdischen Geschäften wurde nicht gestattet, ihre Läden zu schließen, sie mußten während der Geschäftsstunden für die ganze Dauer des Boykotts über offen gehalten werden und durften in den Nachmittagsstunden auch nicht die Beleuchtung ausschalten.
Am nächsten Sonntag, dem „Silbernen Sonntag“ mußten die jüdischen Geschäfte ebenfalls, genau so wie die arischen, geöffnet bleiben.
Die Angestellten mußten ins Geschäft kommen, nur die Kunden hatten keinen Zutritt.
Das Verhalten der Posten war unterschiedlich, je nach ihrer Einstellung. Manche Posten verwehrten Kunden den Eintritt nur mit dem Hinweis: „Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich hier um ein jüdisches Geschäft handelt!“ Andere stellten sich den Kunden in den Weg und ließen sie nicht durch. Wieder andere zwangen die Leute, die sich doch durch die Wachposten durchdrängen wollten, wieder zur Tür hinaus und in einzelnen Fällen wurden Kunden auch angespuckt und grob beschimpft. Teilweise ist das Personal beim Betreten oder Verlassen der Geschäfte von den Posten angerempelt worden.
Es gab bei dieser Postensteherei auch einige kleine Szenen. So erhielt ein Postensteher auf seinen Hinweis: „Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich um ein jüdisches Geschäft handelt“ von einer Dame die Antwort: „Das weiß ich, aber ich kann es nicht ändern!“ Mit diesen Worten ging die Dame dann doch in das Geschäft und kaufte.
Am Silbernen Sonntag herrschte großer Andrang. Viele Landbewohner, an ihrer Kleidung und den Rucksäcken und Kartons erkenntlich, mit denen sie angerückt kamen, wollten in den Warenhäusern ihre Weihnachtseinkäufe machen. Als ihnen das von den Posten verwehrt wurde, zog der überwiegende Teil wieder ab, und zwar mit Bemerkungen wie: „Na, dann warten wir eben.“
Einige Posten schämten sich wohl auch ihrer Rolle. So hielt einer die Kundinnen mit den Worten zurück: „Nehmen Sie doch Vernunft an, liebe Frau, Sie dürfen nicht hinein, Sie machen sich doch nur Schwierigkeiten.“
Die Posten rekrutierten sich aus den „jüngsten“, d. h. in neuerer Zeit eingetretenen Parteimitgliedern, aus SA-Männern und Angehörigen der Werkscharen. Teilweise waren offenbar auch Gruppen der DAF als Postensteher tätig. Es ist auch eine Reihe von Lehrern beobachtet worden. Das Auffallendste ist, daß offensichtlich auf Weisung von oben keiner der Posten irgend ein Abzeichen anstecken hatte, auch nicht das unscheinbarste. Alle diese Leute laufen doch in der Regel mit irgend einem Abzeichen herum, sei es das der SA oder der DAF oder der NSDAP.
Die Ortsgruppen der NSDAP hatten die Verpflichtung, entsprechend dem Gesamtplan der Gauleitung soundsoviel Posten zu stellen. Die Ortsgruppenleiter haben sich an die Leute gewendet, die jetzt neu in die Partei eingetreten sind und haben sie aufgefordert, nun einmal ihre neue Gesinnung zu zeigen. Die Posten haben von 8 Uhr früh bis spät in den Abend vor den jüdischen Geschäften gestanden, und zwar nicht nur bis zur Zeit des Ladenschlusses, sondern bis zu dem Augenblick, da das Licht verlöscht wurde und die Angestellten nachhause gingen, damit nicht etwa im Schutze der Dunkelheit noch ein Kunde hineinschlüpfen konnte. Die Posten wurden alle drei Stunden abgelöst und mußten ihren Dienst ehrenamtlich versehen. Eine Reihe von Nazimitgliedern, Arbeiter und Angestellte, haben sich von der Postensteherei mit dem Argument gedrückt, daß sie erst so spät von der Arbeit nach Hause kämen. Es sei ihnen unmöglich, dann noch drei Stunden Dienst zu tun. In sehr vielen Fällen aber haben die arischen Arbeitgeber, bei denen die Posten beschäftigt waren, die Leute für diese Zeit einfach von der Arbeit entbunden, ohne daß Gehaltsabzüge vorgenommen wurden. In fast allen Fällen bekamen die Leute ohne weiteres frei, wenn sie zu ihrem Chef gingen und sagten: „Ich habe dann und dann Boykott-Dienst.“
Einzelne Boykottposten haben übrigens die Schaulustigen auch von den Schaufenstern der jüdischen Läden vertrieben.
Photographiert worden sind die Kunden meines Wissens nicht, auch Namen wurden nicht notiert. Es wagten auch ohne diese Maßnahmen nur wenige Leute, die jüdischen Geschäfte zu betreten.
Man kann sagen, daß ein Geschäft, das vorher täglich etwa 1000 Kunden hatte, in den Boykottwochen etwa von 10 Juden und im Höchstfälle von 10 arischen Käufern täglich besucht wurde. Aber das ist sicherlich schon das Maximum.
Die Polizei hat in keinem einzigen Fall eingegriffen und etwa die Posten an ihrem terroristischen Treiben gehindert. Dort, wo es zu Aufläufen und Ansammlungen kam, z. B. vor dem bekannten Galanteriewarengeschäft Salberg, hat der Polizist dem Geschäft den Rücken zugedreht und nichts zur Kenntnis genommen.
Das Geschäft einer Jüdin polnischer Staatsangehörigkeit wurde ebenfalls boykottiert. Sie beschwerte sich beim Polizeipräsidium darüber, und der Boykott über dieses Geschäft wurde sofort aufgehoben. Das ist einer der vielen Beweise dafür, daß es sich nicht um eine Privataktion gehandelt hat.
Vor dem Warenhaus Schocken waren in den ersten Tagen ebenfalls die erwähnten roten Plakate angebracht, die nach 8 Tagen durch andere ersetzt wurden. Diese Umstellung hat folgende Ursache: Schocken, früher eine vorwiegend jüdische Firma und Kommanditgesellschaft, ist seit einiger Zeit in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden und es heißt, daß sehr viel englisches Kapital in dieser Firma investiert worden ist. In Nürnberg wird behauptet, daß die Firma Schocken sich an das englische Konsulat um Hilfe gewendet habe und daß auf Intervention englischer Stellen eine Milderung des Boykotts erreicht worden sei. Die Milderung sah allerdings so aus, daß anstelle des einheitlichen roten Boykottplakates bei Schocken ein anderes Plakat angebracht wurde, das etwa folgenden Text hatte: „64% des Aktienkapitals der Firma Schocken befindet sich in englischen Händen, der Rest ist in jüdischem Besitz. Deshalb bekämpfen wir dieses jüdische Geschäft!“ Die Plakate waren genau so groß, die Boykottposten blieben dieselben und praktisch hat sich an dem Zustand durch die Plakatumstellung nichts geändert. Die Firma Schocken hat übrigens den Angestellten bereits am 1. Dezember die Weihnachtsgratifikation ausgezahlt und auch zahlreiche Aushilfen angestellt, die trotz des Boykotts nicht entlassen wurden, obwohl es ja kaum irgend eine Beschäftigung für die Leute gab. Man hat die Hilfskräfte wohl in der Hoffnung gehalten, daß der Boykott doch noch vor Weihnachten aufgehoben würde. Eine Hoffnung, die sich als trügerisch erwies. Der Boykott hat bis zum 24. Dezember gedauert. Immerhin hat es bei der Firma Schocken wohl noch die relativ geringsten Schäden gegeben, da die Firma den größten Teil der leichtverderblichen Lebensmittel in Lastwagensendungen an ihre außerhalb Frankens gelegenen Filialen gesandt hat, so daß die Sachen nicht verdorben sind. Ebenso dürfte sie mit den Waren verfahren sein, die sich nach Weihnachten schwer verkaufen lassen. Anders sah es dagegen bei den zahlreichen kleinen Firmen aus, die diese Ausweichmöglichkeiten nicht hatten.
Die Angestellten der jüdischen Firmen haben keinen unmittelbaren Schaden erlitten, da ihnen das Gehalt weiter gezahlt werden mußte. Es ist aber selbstverständlich, daß sie durch die Geschäftsschädigung der Firmen auf die Dauer auch in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Die Leute wurden zumeist mit Inventurarbeiten usw. beschäftigt, teilweise durften sie auch Handarbeiten machen.
In Unterhaltungen mit verschiedenen Parteiangehörigen konnte man allgemein den Eindruck gewinnen, daß das Argument für den Boykott (die Drohworte des rumänischen Blattes gegen Streicher) selbst in Nazikreisen nicht ernst genommen wurde. Man ist sich einig darüber, daß das nur ein Vorwand war. Man will die jüdischen Unternehmen eben zwingen, die Geschäfte zu verkaufen. Wenn sie das nicht tun, sollen sie langsam ruiniert werden.
Die Aktion war nicht auf Nürnberg beschränkt sondern erstreckte sich auf ganz Franken. Allerdings war der Boykott in der Provinz nicht ganz so gut organisiert. Es hat offenbar in manchen Orten an der genügenden Zahl von Boykottposten gefehlt, so daß man sich damit begnügte, aufgeklebte Plakate vor die Geschäfte zu stellen. Aber auch das dürfte im wesentlichen ausgereicht haben, da die Bevölkerung in Franken sehr eingeschüchtert ist.
Bezeichnend ist, daß die ganze Boykottaktion außerhalb Frankens sorgfältig verschwiegen worden ist. Weder der „Völkische Beobachter“ noch die „Frankfurter Zeitung“, noch irgend ein anderes Blatt des Reiches hat irgend eine Notiz über den Boykott gebracht. Selbst in den Fachblättern wie den Textilzeitungen usw. ist mit keinem Wort darüber berichtet worden.