Der Regierungspräsident berichtet aus Würzburg
Der Regierungspräsident von Unterfranken und Aschaffenburg erstattet am 8. Oktober 1935 aus Würzburg folgenden Bericht für September 1935:
Die politische Lage wird von dem überragendem Ereignis des Reichsparteitages der Freiheit beherrscht. Man konnte allenthalben beobachten, daß die Geschehnisse des Reichsparteitages von der ganzen Bevölkerung mit Spannung und Interesse verfolgt wurden. Dies gilt insbesondere auch bezüglich der Bevölkerung auf dem Lande, die sich sonst um diese Zeit wegen ihrer Inanspruchnahme durch landwirtschaftliche Arbeiten wenig um politische Fragen kümmert. Die großen Reden des Führers fanden sowohl auf dem Gebiete der außen- wie auch der innenpolitischen Fragen allseits freudige Zustimmung. Unter den Gesetzen, die vom Reichstag angenommen wurden, wurde besonders das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre von der nationalgesinnten Bevölkerung mit Zustimmung aufgenommen, während bei den Juden eine gewisse Bestürzung Platz gegriffen hat, die in einer vermehrten Auswanderungslust zum Ausdruck kommt. (…)
Die Maßnahmen der Regierung gegen den politischen Katholizismus werden besonders von der bäuerlichen Bevölkerung nicht richtig gewertet. Die Leute sind der Ansicht, daß der Kampf weniger dem politischen Katholizismus als vielmehr der Religion und der Kirche gelte. In dieser Überzeugung wird die Bevölkerung durch das nicht immer taktvolle Auftreten von Parteiformationen bestärkt. So trug beispielsweise ein mit HJ besetzter Lastkraftwagen die Aufschrift ''Juden nach Palästina - Pfaffen nach Rom''. Die Aufschrift hat in der kath. Bevölkerung große Erregung hervorgerufen. (...)
Bezeichnend für die provokatorische Einstellung in kirchlichen Kreisen ist die Tatsache, daß bei einer Primizfeier in Stadtlauringen (BA Hofheim) auf Veranlassung der Kinderschwester von einem 5jährigen Judenmädchen ein Gedicht vorgetragen wurde. Ferner wurde von der Ordensschwester erklärt, daß bei dem geplanten Festspiel nur Mädchen mitspielen dürften, die nicht dem BDM angehören. Die Erbitterung der Gesamtbevölkerung war so groß, daß die Abberufung der schuldigen Schwester durchgesetzt und der Handarbeitsunterricht einer weltlichen Kraft übertragen wurde. (…)
Das bischöfliche Ordinariat Würzburg gibt auf Grund verschiedener Mitteilungen, die ihm besonders aus Landgemeinden zugegangen sind, der Befürchtung Ausdruck, daß die Lektüre des Stürmers, die der Jugend durch den Aushang des Blattes in den Schaukästen ermöglicht wird, für die Jugend gewisse Gefahren birgt.
Der Kampf gegen die Juden hat in den letzten Wochen überall an Schärfe zugenommen. Vereinzelt ist es auch zu Ausschreitungen gekommen, die nicht zu billigen sind. (…)
Juden und Freimaurer
Die Kundschaft der Juden hat sich im Laufe der letzten Monate infolge der nachdrücklichen Propaganda zweifellos verringert. Im Viehhandel hiegegen haben sie es verstanden ihre Stellung im allgemeinen zu halten. Durch den Erlaß des Reichsgesetzes vom 5.9.1935 zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre ist hinsichtlich der Judenfrage eine gewisse Klärung eingetreten. Erwünscht wäre es, wenn auch die wirtschaftliche Seite der Frage geklärt werden könnte, weil immer noch eine gewisse Unsicherheit über die Zulässigkeit des Geschäftsverkehrs zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen Blutes besteht. Die Schärfe der örtlichen Propaganda bringt es mit sich, daß sich jüdische Betriebsinhaber mit dem Gedanken der Geschäftsaufgabe oder -verlegung tragen. So besteht in Gailauf, BA Aschaffenburg, wo eine jüdische Firma eine größere Zigarrenfabrik betreibt, die Gefahr, daß diese Firma, die etwa 150 Arbeiterinnen beschäftigt, ihren Betrieb nach einem anderen Ort verlegt.