Die Gestapo berichtet aus Potsdam
Die Gestapo des Regierungsbezirks Potsdam erstattet folgenden Bericht für September 1935:
Innenpolitisch gesehen ist die Stimmung zur Zeit günstiger, beeinflußt von dem Eindruck des Parteitages in Nürnberg. Der Parteitag hat den alten Kämpfern, die durch die wiedererstarkte Opposition und die stärker erwachende Anmaßung des Judentums erheblich beeindruckt waren, wieder mehr von dem alten Kampfesmut gegeben. Der Geist der Kampfzeit ist wieder lebendiger geworden. Die lähmenden Zweifel, die nationalsozialistische Idee sei im Zurückweichen vor wirtschaftspolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen begriffen, sind größtenteils überwunden. Man glaubt mit Befriedigung feststellen zu können, daß die politischen Unkenrufe des ''Nur-Fachmanns'' Dr. Schacht angeblich nicht durchgedrungen seien und dieser auf dem Parteikongreß nur eine bescheidene Rolle gespielt habe. Die schneidende Ironie, mit der er Einzelaktionen gegen Juden mißbilligt hat, ist ihm - auch von denen, die geneigt waren seine Argumente sachlich anzuerkennen - sehr übelgenommen worden.
Vereinzelte Feuerköpfe halten die Judengesetzgebung für viel zu milde und trösten sich damit, daß die zu erwartenden Stänkereien des Weltjudentums doch die bereits erwogene baldige neue Überprüfung der Sachlage und damit eine Verschärfung der Bestimmungen erforderlich machen wird. Mit der Judengesetzgebung ist einem tiefen Wunsch weiter Schichten der Bevölkerung Genüge geschehen. Eine Verschärfung der außenpolitischen Lage wird nur von einigen besonders Ängstlichen befürchtet. In Kreisen Intellektueller wird die Meinung vertreten, man müsse den Boykottmaßnahmen des ausländischen Judentums dadurch begegnen, daß man die kommerzielle Beeinträchtigung des inländischen Judentums vermeide. Eine solche Einstellung verkennt die systematische und unbeirrbare Arbeit des Judentums gegen das 3. Reich. Den Kern der Sachlage erkennen demgegenüber besser die Fanatiker, die sagen, das Ausland habe sich schon sehr an die Greuelmärchen gewöhnt, daß es als eine alltägliche Tatsache empfunden würde, wenn wirklich einmal ein paar Juden in Deutschland ''hochgenommen'' würden. Für die meisten Volksgenossen ist die Verkündung der Judengesetze ein Punkt des Parteiprogramms, zu dessen Durchführung jetzt im Zustande der konsolidierten Macht der richtige Augenblick gekommen ist. Die Anschauung der Auslandszeitungen, die Judengesetzgebung sei nur ein Ausdruck der Schwäche, mit der Absicht die Massen von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken, hat keinen Fuß gefaßt. Die Durchführung gerade dieses Punktes des Parteiprogramms hat in weiten Schichten die Zuversicht erweckt, daß wenn die Zeit reif ist, auch die anderen noch nicht durchgeführten Punkte, insbes. auch die sozialpolitischen, durchgeführt werden. Überhaupt ist festzustellen, daß weites Verständnis dafür vorhanden, daß vorübergehende wirtschaftliche Schwierigkeiten, die eine Folge der übermäßigen Anstrengungen bei der Wiederwehrhaftmachung ist, unvermeidbar war [sic]. (…)
Wirtschafts- und Agrarpolitik (…)
In der Uckermark ist die Tabakernte sehr gut ausgefallen. Die Tabakbauern sind im großen und ganzen aus der früher beträchtlichen wirtschaftlichen Not heraus. Bedauerlich ist nur, daß der Tabakgroßhandel in der Uckermark sich z. T. noch in jüdischen Händen befindet. Die Uckermärkische Tabakverwertungsgenossenschaft GmbH hat am 10.9.35 dem Juden Hugo Seelig in Schwedt/Oder 400 Ballen Rohtabak à 200 kg verkauft. Der gesamte Posten ist von Seelig für die Zigarrenfabrik Neumann, Berlin zum Versand gebracht. (…)
In Brandenburg ist [sic] eine Textilwaren- und eine Spielwarenfabrik gezwungen gewesen, Arbeitseinschränkungen vorzunehmen, erstere wegen verminderter Baumwolleinfuhr, die Spielwarenfabrik, weil die jüdischen Großhändler und Exporteure, die die Hauptabnehmer waren, jede Handelsbeziehung mit der Firma abgebrochen haben. Auch in Rathenow läßt der Beschäftigungsstand in der optischen Industrie zu wünschen übrig, da mancher Auftrag, der für die nächste Zeit noch Beschäftigung versprach, besonders solche aus jüdischer Hand, für den Winter zurückgezogen worden ist. (…)
Evangelische Kirche (…)
Im einzelnen sind folgende Vorkommnisse aus der Bekenntniskirche zu berichten:
Im Kreis Jüterbog hat ein Vikar in 3 verschiedenen Ortschaften eine Predigt gehalten, die der zuständige Stützpunktleiter der NSDAP als ''einen Faustschlag in das Gesicht des nationalsozialistischen Volkes'' bezeichnet. In der Predigt wurde ausgeführt, daß ''Jude und Neger, wenn sie nur zur Kirche halten, genau so viel wert sind, wie Volksgenossen, die zur Kirche halten und sogar mehr wert, als Volksgenossen, die nicht zur Kirche gehen''. Ariergesetzgebung und das Führerprinzip lehne die Kirche als unchristlich ab. Die übrige Predigt war Polemik gegen die nationalsozialistische Weltanschauung. [...]
Ein anderer Bekenntnispfarrer sprach in seiner Predigt: ''Wir dürfen uns nicht anstecken lassen von den Verleumdungen und Verfolgungen, die heute den Juden zuteil werden. Wir müssen darauf drängen und wachen, daß die gottgewollte Nächstenliebe auch sie erfahren.'' In sein Schlußgebet hat der genannte Pfarrer ''die Juden und alle, die verfolgt werden'', eingeschlossen.
Wie schon oben angeführt, sind aber solche Ausfälle nicht symptomatisch für die derzeitige Einstellung der Bekenntniskirche. (…)
Juden und Freimaurer
In Velten (Mark) ist der 62-jährige jüdische Rassenschänder [N.N.] am 31.8.35 aus seiner Wohnung geholt und mit einem Schild versehen durch die Straßen geführt worden, bis ihn die Polizei in Schutzhaft nahm. [N.N.] hat einer im gleichen Hause wohnenden Ehefrau unsittliche Anträge gestellt und sie wiederholt unsittlich berührt. [N.N.] befindet sich jetzt im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit.
In Eberswalde haben in den letzten Monaten die Juden keine Versammlungen mehr abgehalten, weil sie kein Lokal mehr zur Verfügung haben. Der jüdische Verein für Geschichte und Literatur in Eberswalde hat sich aufgelöst.
Nach einem dem Landrat in Nauen zugegangenen Schreiben des Italienischen Generalkonsulats soll in Groß-Glienicke ein italienischer Staatsangehöriger von höherem Range wegen seines jüdischen Aussehens belästigt worden sein. Die Ermittlungen hierüber sind noch nicht abgeschlossen.
In einigen Orten in der Umgegend von Berlin konnte dem starken Anwachsen der Zahl der jüdischen Sommergäste durch Anbringung von Tafeln ''Juden unerwünscht'' und von Stürmerkästen erfolgreich abgeholfen werden.
In einigen Orten mußten Tafeln mit der Aufschrift ''Juden und Vagabunden unerwünscht'' beanstandet werden; sie wurden durch Tafeln mit der Aufschrift: ''Juden unerwünscht'' ersetzt.
In den Kreisen der Landbevölkerung würde eine Erweiterung der Judengesetzgebung auf das Verbot des Ankaufs von deutschem Grund und Boden durch Juden besonders begrüßt werden.
Im übrigen ist festzustellen, daß eine ganze Anzahl Juden neuerdings wieder ernstlich die Absicht haben, auszuwandern. In einigen Fällen ist bemerkenswert, daß bei den Auswanderungslustigen die Absicht besteht, falls das Zertifikat nicht rechtzeitig zu bekommen sei, erst einmal in Berlin Wohnung zu nehmen. Berlin wird also offensichtlich bei der Judenschaft als der ungestörteste Aufenthaltsort angesehen.