Die Gestapo berichtet aus Magdeburg
Die Gestapo des Regierungsbezirks Magdeburg erstattet am 5. Oktober 1935 folgenden Bericht für September 1935:
Im Monat September stand der Reichsparteitag im Vordergrund des öffentlichen Interesses. [...] Der Höhepunkt in der Spannung der Bevölkerung wurde erreicht, als plötzlich der deutsche Reichstag einberufen wurde. Von allen Seiten wurden weitgehende Erwartungen auf die Tagung gesetzt. Man sprach von Reichsreform, organisatorischer Neuregelung des Verhältnisses von Partei und Staat, von Stahlhelmauflösung, vom Einmarsch ins Memelgebiet, Einmischung in den italienisch-abessinischen Konflikt, u. a. mehr. Diese Kreise sahen sich daher fast etwas enttäuscht, als Gesetze beschlossen wurden, mit denen man im Augenblick gar nicht gerechnet hatte. Diese Gesetze haben in Parteikreisen unbedingte Zustimmung gefunden und das Gefühl ausgelöst, daß jetzt klare Verhältnisse geschaffen worden sind. Der Führer hatte ihnen sowohl hinsichtlich der Regelung der Flaggenfrage als auch hinsichtlich der Regelung der Verhältnisse der Juden aus der Seele gesprochen. Außerhalb der Parteigenossenschaft sind die Gesetze jedoch sehr kühl aufgenommen worden, vor allem die Bestimmungen über die Juden und das Reichsbürgerrecht; die Einführung der Hakenkreuzfahne als alleinige Reichs- und Nationalflagge hat wohl noch am wenigsten Mißstimmung hervorgerufen, da einem großen Teile der Bevölkerung das Vorhandensein von zwei Nationalflaggen schon längst unsympathisch war und man mit der jetzigen Regelung eines Tages doch rechnen mußte. [...] Die Judengesetze sind dagegen Gegenstand eifriger Diskussionen gewesen. Bürgerliche Kreise, die sonst nicht als judenfreundlich gelten können, beginnen vielfach mit den Juden Mitleid zu üben und erklären, daß das Tempo der Judengesetzgebung viel zu schnell sei und daher menschlich außerordentliche Härten schaffe. Die Arbeiterkreise zeigen an der jüdischen Ehegesetzgebung kein Interesse, da die Arbeiterschaft kaum jemals Mischehen eingegangen ist, sie wenden sich aber dagegen, daß sie um deswillen als Volksverräter gebrandmarkt werden, weil sie beim Juden kaufen. Solange sie bei diesen alles billiger bekämen als in einem arischen Geschäft, könnte ihnen bei diesen niedrigen Löhnen nicht zugemutet werden, Opfer zu bringen, die sie nicht tragen könnten. In ausgesprochen staatsfeindlichen Kreisen sowohl rechts wie links hat man die Judengesetze sogar mit der Begründung begrüßt, daß, je schlimmere Gesetze man erlasse, desto eher dem Volke die Augen darüber geöffnet werden, wohin der Nationalsozialismus steuere. Hinsichtlich des Reichsbürgerrechtes wird zudem erklärt, daß nach der Fassung des Gesetzes die Regierung es vollkommen in der Hand habe, jedem das Reichsbürgerrecht zu verweigern, der ihr nicht passe. Alles in allem kann also gesagt werden, daß die neuen Gesetze außerhalb der rein nationalsozialistischen Bevölkerung zum Teil mit Gleichgültigkeit, zum Teil mit sehr wenig Verständnis aufgenommen worden sind.
In intellektuellen Kreisen wird die Judenfrage z.Zt. in ihrer Auswirkung auf das Korporationsstudententum stark erörtert. Dabei spielen die Auseinandersetzungen in der Gemeinschaft der studentischen Verbände, der Ausschluß des Kösener S.C. aus ihr wegen Nichtdurchführung der arischen Gesetzgebung, der Erlaß des Stabschefs Lutze, die Auflösung des Kösener S.C. und vor allem die kürzlich gehaltene Rede Baldur von Schirachs in Heidelberg über das Korporationsstudententum eine große Rolle. Es herrscht infolge der ganzen Ereignisse, vor allem darüber, daß es nicht gelungen ist, das Waffenstudententum unter einheitliche nationalsozialistische Führung und Schulung zu stellen, in diesen Kreisen ausgesprochene Niedergeschlagenheit. (…)
Kommunistische Bewegung
Im Gegensatze zum Vormonat hat die Propagandatätigkeit durch Verbreiten von Druckschriften erheblich nachgelassen. Während sonst regelmäßig, wenn auch nur in vereinzelten Exemplaren, die illegale ''Tribüne'', ''Prolet'', ''Das Braunbuch'' und der ''Antifaschist'' erschienen sind, so ist im Monat September nicht ein einziges Stück dieser Druckschriften zur Verbreitung gelangt. Lediglich in der Zeit vom 20. bis 30. September wurden einzelne Streuzettel verteilt, die sich mit angeblichen Massenentlassungen in der Rüstungsindustrie und Verfolgung von Katholiken und Juden befassen. (…)
Nach mehrmonatiger Beobachtung wurden in der Zeit vom 3. bis 6.9. neun Personen festgenommen, die dringend verdächtig waren, nicht allein gewöhnliche Parteiarbeit zu leisten, sondern auch für den militärpolitischen Apparat der KPD, Ressort Betriebsspionage, tätig zu sein. Dieser Apparat, der sich kurz B.B.-Apparat (Betriebsberichtserstatter) nennt, hat die Aufgabe durch Mittelsmänner Nachrichten über geheimzuhaltende Vorgänge aus den verschiedensten Betrieben zu erhalten, um diese dann auf Umwegen einer auswärtigen Macht zuzuleiten. Von den 9 Beschuldigten wurden 4 nach eingehender Vernehmung entlassen, da ihnen zunächst nichts nachzuweisen war. Einer von ihnen hat kurz nach seiner Entlassung jedoch Verbindung mit bekannten Kommunisten aufgenommen. Seine weitere Beobachtung dürfte gelegentlich zu erneuten Festnahmen führen. Von den übrigen 5 wurde einer der Staatspolizeistelle Halle übergeben, die ihn seit August 1934 wegen Vorbereitung zum Hochverrat gesucht hat. Die restlichen 4 Personen sind dem Richter vorgeführt worden, der Haftbefehl erlassen hat. Typisch ist, daß der geistige Kopf dieser Gruppe ein anormal-kleiner rothaariger Jude namens Holzer war, der 1932 nach der Sowjetunion ausgewandert ist. Im Jahre 1934 wurde er von einem Beauftragten der Komintern nach Deutschland geschickt, um illegale Arbeit zu leisten. (…)
Im Regierungsbezirk war es im allgemeinen ruhig. Anläßlich einer Verdunkelungsübung wurde in der Stadt Aschersleben eine Anzahl Streuzettel verbreitet, in denen gegen die Judenhetze Stellung genommen war. Festgenommen wurden insgesamt 4 Personen. (…)
Evangelische Bewegung (…)
In einer in Magdeburg stattgefunden Versammlung der Deutschen Christen nahm Pfarrer Tausch, der Gauobmann der Deutschen Christen des Gaues Groß-Berlin, grundsätzlich Stellung zum Kirchenstreit und widmete insbesondere der zersetzenden Tätigkeit der Bekenntnisfront eine eingehende Betrachtung. Interessant sind auch die Ausführungen des Gau-Obmannes über das Verhältnis der Deutschen Christen zum Judentum. Der Redner äußerte sich: ''Es sei der größte Schwindel der Weltgeschichte, wenn die Juden von sich behaupteten, sie seien das auserwählte Volk. Christus hat dieses Wort niemals gesprochen. Christus ist im Gegenteil der größte Antisemit gewesen und hat gesagt, die haben den Teufel zu ihrem Vater.'' (…)
Juden und Freimaurer
Die antisemitische Welle war im Berichtsmonat bereits im Abflauen begriffen. Die Propaganda-Umzüge der SA sind nicht mehr bemerkt worden. Man ist allgemein der Ansicht, daß von der Regierung die Judenfrage konsequent ohne Zugeständnisse durchgeführt werden wird. Am rührigsten betätigt sich von den Assimilanten der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten . Am 2.9. fand in Magdeburg eine Versammlung, die ich ausnahmsweise zugelassen hatte, statt. Die Versammlung stand ganz unter dem Eindruck der verstärkten Aktion gegen die Juden. Der Vorsitzende der Ortsgruppe Magdeburg, Bernhard, forderte die Versammlung auf, keine Geschäfte zu betreten, in denen das Schild ''Juden unerwünscht'' angebracht sei. Der Gemeindevorstand in Magdeburg hat bereits geeignete Schritte unternommen, um die Lebensmittelversorgung der jüdischen Gemeinde zu sichern. Von den führenden Verbänden sei alles getan worden, was möglich gewesen wäre. Sie müßten jetzt die Zähne zusammenbeißen und versuchen, in den jüdischen Vereinen wieder das zu erhalten, was ihnen verloren gegangen sei. Selbstverständliche Pflicht eines jeden Juden sei es, etwa vorkommende Arbeiten nur von jüdischen Handwerkern ausführen zu lassen. Die zionistische Vereinigung für Deutschland , Ortsgruppe Magdeburg, hielt am 25.9. in Magdeburg eine Versammlung ab. Es sprach der Landgerichtsdirektor a.D. Martin Altertum, Leipzig, über das Thema ''Nach dem 19. Zionisten-Kongreß''. Altertum, der vor kurzem längere Zeit in Palästina weilte, schilderte seinen Zuhörern das Land Palästina in den leuchtendsten Farben. Er habe viele Länder gesehen, keines käme jedoch an Palästina heran. Altertum befaßte sich dann mit der Kolonisation Palästinas und vertrat die Ansicht, daß die Kolonisation schneller vonstatten gehen müsse. Die Parole dürfe nicht nur heißen: 1 Million Menschen nach Palästina, sondern 1 Million Menschen und 1 Million nach Palästina. Erforderlich sei, daß mindestens 1/3 aller Menschen in Palästina auf's Land ginge. Die Ernennung des Chaim Weitzmann zum Präsidenten des Zionisten-Kongresses gebe die Gewähr dafür, daß das jüdische Schiff richtig gesteuert werde. Vor der Auswanderung nach Palästina sei die Pflege der hebräischen Sprache unbedingt erforderlich. Die schmerzlichen Tage der Judenhetze in Deutschland dürften sie nicht verzweifeln lassen, denn das sei nicht jüdische Art. Der Kulturkreis der Synagogengemeinde in Magdeburg trat auch im September zu einer Veranstaltung zusammen. Es sprach Dr. Anneliese Landau, Berlin, über Mendelssohn als Musiker und Komponist und über seine Beziehungen zu Robert Schumann und Chopin. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Juden bemüht sind, die vom Staat erlassenen Anordnungen genau zu befolgen. Eine staatsfeindliche Hetze der Juden konnte nicht festgestellt werden.