Die Gestapo berichtet aus Lüneburg
Die Gestapo des Regierungsbezirks Lüneburg erstattet am 3. Oktober 1935 aus Harburg-Wilhelmsburg folgenden Bericht für September 1935:
Innerpolitisch stand der Berichtsmonat unter dem Eindruck des Parteitages in Nürnberg. [...] Die auf dem Reichstage verkündeten Gesetze, besonders aber das Reichsflaggengesetz, sind in allen Kreisen der Bevölkerung lebhaft erörtert worden. Während man zu dem Reichsbürgergesetz und dem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre die Nebenbestimmungen abwartet, kann bezüglich des Flaggengesetzes festgestellt werden, daß dieses ganz verschieden aufgenommen worden ist. (…)
Nachdem nunmehr dem Judentum in Nürnberg vom Führer der Kampf auf gesetzmäßigem Wege angesagt worden ist, und nicht zuletzt durch den einschneidenden Erlaß des Reichsministers des Innern, ist die Boykottbewegung, die in den vergangenen Monaten geradezu üble Auswüchse zeigte, im hiesigen Staatspolizeibezirk merklich abgeflaut. (…)
Marxismus und Kommunismus (…)
Die Anfang September in der Tagespresse erschienene Veröffentlichung des Umtauschangebotes der ''4 1/2% auslosbaren Schatzanweisung des Deutschen Reiches von 1935'', die bekanntlich von zahlreichen jüdischen Bankhäusern unterzeichnet war, ist in kommunistischen Kreisen in Form der ''Geflüsterten Zeitung'' zu reger Propaganda ausgenutzt worden. Unter Hinweis auf die jüdischen Namen wurde die Parole verbreitet: ''Das sind die Garanten des Dritten Reiches!'' (…)
Juden und Freimaurer
Die Judenboykotthetze hat im vergangenen Monat im hiesigen Staatspolizeibezirk nachgelassen. In maßgebenden Wirtschafts- und Industriekreisen wird jedoch mit Besorgnis auf die durch den Judenboykott hervorgerufene feindliche Stimmung gegen Deutschland, die sich vor allen Dingen in wirtschaftlicher Beziehung auswirken wird, hingewiesen. So ist z. B. aus Anlaß der Leipziger Messe ein Fall bekanntgeworden, in dem ein bedeutendes holländisches Industrieunternehmen, das bislang auf der Leipziger Messe hohe Aufträge vergeben hat, einer deutschen Firma, mit der es bislang in einem äußerst regen Geschäftsverkehr stand, auf deren Einladung zur Messe erwidert hat, daß es von einem Besuch der Messe Abstand nehmen müsse, da es das Leben ihrer jüdischen Angestellten nicht aufs Spiel setzen wolle.
Die Juden sind im vergangenen Monat kaum in Erscheinung getreten. Sie halten unter sich nach den getroffenen Feststellungen eng zusammen. Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre wird als eine den Juden zugewiesene Richtlinie aufgefaßt. Naturgemäß werden die Durchführungs- und Verwaltungsvorschriften zu diesem Gesetz in den jüdischen Kreisen mit Spannung erwartet.