Der Landrat berichtet aus Neuwied
Der Landrat des Kreises Neuwied erstattet am 29. August 1935 folgenden Bericht für August 1935:
Der Pfarrer Gräber in Anhausen hat ein Rundschreiben an die Pfarrer verfaßt, aus dem hervorgeht, daß er eine Kirchenkollekte für den von der Staatspolizei aufgelösten ''Verein für Israel'' unter der Tarnung ''zur Verbreitung des evangelischen Glaubens unter den Juden'' durchführen läßt. Sonderbericht an die Staatspolizeistelle wurde vorgelegt. (…)
Wirtschafts- und Agrarpolitik
Aus Kreisen der kleinen und minderbemittelten Landwirte kommen Klagen über mangelnde Viehhandelsmöglichkeiten. Es sei kaum möglich, den Viehbestand zu ergänzen, weil es, nachdem der jüdische Viehhändler ausgeschaltet worden sei, an dem erforderlichen Kapital für den Viehkauf fehle. Christliche Viehhandelsunternehmen, die, wie der jüdische Viehhändler, den Kaufpreis stundeten, seien nicht vorhanden und die Bedingungen der Viehleihkasse, die zwei Bürgen vorsehe, könnten nicht von jedem Landwirt erfüllt werden. Es wird eine Erleichterung in der Beschaffung von Geld für Viehkäufe gefordert.
Weiter tritt man auch für ein Verbot des Stallhandels ein, damit den jüdischen Viehhändlern die Möglichkeit genommen wird, sich an den einzelnen Landwirt heranzumachen und beim Handel im Stall seine üblen Praktiken anzuwenden. (…)
Juden und Freimaurer
Die Propaganda gegen die Juden hat im letzten Monat weiter an Schärfe und Durchschlagkraft zugenommen. Überall sind neue Stürmerkästen angebracht, überall ist die Tätigkeit der Partei und der Bevölkerung aktiver geworden. Wie bereits berichtet, wurde am 3. Aug. ds. Js. an der Synagoge in Rheinbrohl von unbekannter Seite die Aufschrift: ''Juda den Tod'' angebracht.
In Dierdorf kam es zu einer großen Volksansammlung vor dem Hause einer jüdischen Familie, die durch die Niederträchtigkeit des Sohnes die Empörung der Bevölkerung hervorgerufen hatte.
In Neuwied wurde der Sohn eines jüdischen Metzgers festgenommen, der über die Musterungskommission unwahre Behauptungen aufgestellt hatte. In allen Fällen wurde Sonderbericht und Ereignismeldung vorgelegt.
Durch die Anordnung der Staatspolizei, daß die Transparente gegen die Juden zu entfernen seien, wurden Unklarheiten bei einzelnen Parteiorganen hervorgerufen. Über die Schwierigkeiten wurde Sonderbericht vorgelegt, wobei von der Staatspolizei die zwangsweise Entfernung vorläufig untersagt wurde, bis weitere Entscheidung ergeht. In sämtlichen öffentlichen Bädern wurde den Juden der Zutritt untersagt. Die Thermal GmbH in Hönningen hat gegen das von der Polizei ausgesprochene Verbot Beschwerde erhoben, die der Staatspolizei vorgelegt wurde. Auch im hiesigen Kreise haben einzelne Gemeindebehörden Beschlüsse dahingehend gefaßt, daß Juden der Zuzug verboten ist, daß Juden keine Grundstücke erwerben dürfen und daß öffentliche Aufträge nicht an Firmen gegeben werden, die mit Juden in Geschäftsverbindung stehen. In Rengsdorf ist ein Rückgang der jüdischen Kurgäste festgestellt worden.
Am 5. ds. Mts. wurde in Neuwied eine Zionistische Arbeitsgemeinschaft gegründet, deren Mitglieder zur Zeit 21 Juden aus Neuwied und Umgebung zählt. Über sonstige jüdische Organisationen und Veranstaltungen ist nichts zu berichten.
Die Stimmung der ausländischen Reisenden in Bezug auf die politische Einstellung zum Dritten Reich ist nach den getroffenen Feststellungen zufriedenstellend. Bemängelt wurden in einzelnen Fällen die Schilder und Plakate, die sich gegen die Juden richten.