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Chronik und Quellen
1935
August 1935

Der Landrat berichtet aus Marburg

Der Landrat des Kreises Marburg erstattet am 26. August 1935 folgenden Bericht für Juli und August 1935:

Die Gesamtstimmung und auch die Gründe der vielfach vorhandenen Mißstimmung, die sich nicht nur auf die Nichtmitglieder, sondern auch auf die Mitglieder der NSDAP erstreckt, lassen sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Immerhin ist die Stimmung vielfach so unerfreulich, daß ich zur Illustration drei verschiedene Dienststelleninhaber aus drei verschiedenen Kreisteilen hier zu Wort kommen lassen möchte. [...]

Ein anderer Ortsgruppenleiter der NSDAP aus dem Nordkreis (Reichsbahnbeamter, alter, geistig hochstehender Pg . mit goldenem Parteiabzeichen, zu dessen seit langen Jahren als besonders gut nationalsozialistisch geltendem Ortsgruppengebiet 17 Gemeinden gehören) äußert sich über die Stimmung wie folgt:

''Statt der früheren Freudigkeit kühle und zum Teil ablehnende Haltung. - Es drückte sich aus in dem geringeren Besuch unserer Veranstaltungen (Film), Uneinigkeit unter den Frauen, Kritiken ohne Zahl, Miesmacherei, Nachlassen der Gebefreudigkeit beim Sammeln und vor allem im zunehmenden Handel mit den Juden.'' (…)

Verstärkt wird die Mißstimmung wesentlich durch die aus den Städten - namentlich aus dem Industriegebiet - in den Dörfern weilenden Besucher, die meistens von schlechten Verhältnissen und Mißstimmung in den Großstädten berichten. Diese Besucher erzählen insbesondere auch, daß der Geschäftsgang der jüdischen Kaufhäuser pp. in den Großstädten ein glänzender sei und daß sich kaum jemand an dem Boykott dieser Geschäfte störe. Als Folgerung dieser Erzählungen der großstädtischen Besucher treten dann Zweifel an der Wahrheit der Zeitungsmeldungen ein, die häufig als unter Zensur stehend bezeichnet werden. (…)

 

Die Bewegung und ihre Organisationen (…)

Ebenso wie in der Stadt Marburg so sind auch - an sich erfreulicherweise - in vielen Gemeinden des Landkreises Marburg Stürmerkästen teilweise durch die SA und teilweise auch durch die örtlichen politischen Dienststellen der Partei angebracht worden. Diese Stürmerkästen werden jedoch nicht nur zum Aushang der Zeitung ''Der Stürmer'', sondern auch zur Anprangerung von Einwohnern benutzt. Hierbei scheint es wiederholt zu Mißgriffen gekommen zu sein. Es besteht die Gefahr, daß durch untergeordnete Dienststellen der Partei oder der SA ohne ausreichende Klarstellung des Sachverhalts unbegründete Anprangerungen erfolgen, und weiter auch, daß die Stürmerkästen zum Austrag persönlicher Dorffeindschaften benutzt werden. Ein derartiges Vorgehen bzw. eine derartige Handhabung führt alsdann aber zu höchst unliebsamen Folgen und macht bereits vorhandene Gegensätze noch unüberbrückbarer. (…)

In ihren Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung allerdings fast noch schwerwiegender sind öffentliche Mißhandlungen, wie sie durch Angehörige der SA und des NSKK vorgekommen sind. Auch hier werden strenge Anordnungen ergehen müssen, die die Wiederholung derartiger Fälle gerade in der jetzigen nervösen Zeit ausschließen. In ihren Folgen unbedachte Mißhandlungen können die Stimmung ganzer Dörfer verderben. Dadurch wird den Staatsfeinden nur in die Hände gearbeitet und die jahrelange intensive Kleinarbeit der politischen Amtswalter u.U. in Stunden auf lange Zeit vernichtet. (…)

Kommt dann - wie in Neustadt - hinzu, daß unter anderem mehr sich auch der örtliche Führer der HJ zu Mißhandlungen von Juden (auch eines Judenmädchens) hinreißen läßt und in den Verdacht des Diebstahls gerät, eine BDM -Führerin das nötige Fingerspitzengefühl vermissen läßt und ein auswärtiger SA-Sturmführer als Täter für die in der Synagoge angerichteten schweren Beschädigungen angesprochen wird, so ist der angerichtete Schaden schwer wiedergutzumachen. (…)

 

Eier- und Viehverwertungsgenossenschaft

Während sich die Bauern vielfach mit der Eierverwertungsgenossenschaft einigermaßen angefreundet haben, ziehen sich die Klagen über die Viehverwertungsgenossenschaften fast einstimmig als zweiter roter Faden durch fast alle Berichte der Bürgermeister und Gendarmeriebeamten des Kreises. Die Klagen sind noch sehr erheblich und dürfen keineswegs als Gemecker übergangen werden. Ich habe Auszüge aus den Berichten der örtlichen Dienststellen dem Kreisbauernführer zugehen lassen und möchte hoffen, daß die Beschwerden und die gegebenen Anregungen die Beachtung finden, die sie unbedingt verdienen. Bei einem Eingehen auf die vorgetragenen Wünsche und den Ausbau der Organisation wird die Viehverwertung viel zur Abstellung berechtigten Unwillens und vor allem auch zur Unterbindung des jüdischen Viehhandels beitragen können. Schon dieser letztere Umstand müßte die Viehverwertungsgenossenschaft unter Zurückstellung jeder Empfindlichkeit dazu veranlassen, auch das Letzte daranzusetzen, sich bei den Bauern besser einzuführen und mehr Anklang zu finden. Wenn es richtig ist, daß sich die Aufkäufer der Viehverwertung wochenlang in manchen Dörfern nicht sehen lassen und daß sich die Bauern erst schriftlich mit der Genossenschaft in Verbindung setzen müssen sowie daß die jüdischen Händler häufig höhere und - worauf es dem Bauern vor allem ankommt - Festpreise zahlen, so dürften Organisationsfehler vorliegen, die dem Bauer zum Schaden und dem Juden zum Vorteil gereichen.

Schärfste Kampfansage an den jüdischen Handel durch die Verwertungsgenossenschaften ist ferner deshalb geboten, als viele Viehbestände das Bild eines sich verhängnisvoll auswirkenden jüdischen Handel widerspiegeln, der kein Interesse an der Förderung einer gesunden Rasse- und Leistungszucht hat, sondern vielmehr durch Rassevermischung und Verschleppung von Krankheiten bewußt zerstörend gewirkt hat und noch wirkt. (…)

 

Juden und Freimaurer

Im ganzen gesehen, ist der jüdische Handel - insbesondere der Viehhandel - in den letzten Wochen erheblich zurückgegangen. Die zahlreich aufgestellten Stürmerkästen und die von der Partei sonst geleistete Aufklärungsarbeit haben ihre gute Wirkung insbesondere dann nicht verfehlt, wenn man sich auf den Aushang der Zeitung ''Der Stürmer'' beschränkt und von der voreiligen Anprangerung von Personen Abstand genommen hat.

Die Abgewöhnung der Bevölkerung vom Handel mit Juden ist lediglich eine Frage der Erziehung und des Charakters. Wesentlich zur Bekämpfung des Judenhandels kann durch den Ausbau der Viehverwertungsgenossenschaften und durch das Eingehen auf die berechtigten Forderungen der Bauern, insbesondere durch Erfüllung der Forderung auf Zahlung eines festen Preises für das Nutzvieh, beigetragen werden. Wenn die Viehverwertung der ihr gestellten Aufgabe nicht gewachsen ist, muß der Versuch der Einsetzung kapitalkräftiger arischer Viehhändler gemacht werden. Ich verweise dieserhalb auf meine Ausführungen unter dem Abschnitt ''Agrarpolitik''.

Beigetragen zur Unterdrückung des jüdischen Viehhandels hat auch die von mir seit Monaten fortgesetzt ausgeübte scharfe Kontrolle der Vieh-Ein- und Verkaufsbücher der jüdischen Händler, Kontrollen, bei denen sich wiederholt strafrechtlich verfolgte Unstimmigkeiten ergaben und die den Händlern das Leben schwer machen.

In wiederholten Fällen hat die Judenbekämpfung trotz der eindeutigen Erklärung des Frankenführers Streicher den gesetzlichen Boden verlassen, und es ist zu Ausschreitungen gekommen. Damit ist der Sache nicht gedient, vielmehr wird häufig nur das Gegenteil erreicht. Wie die Bevölkerung diese Auswüchse beurteilt, mögen die nachstehenden Berichtsauszüge beweisen:

''Die in den letzten Tagen vorgekommene Zertrümmerung der Fenster, Türen und Glasdächer der Juden wird von der gesamten Bevölkerung aufs schärfste verurteilt und abgelehnt. Sie betrachtet das als ein auf die gleiche Stufe Stellen mit den Kommunisten. Das Vorgehen hat dem Nationalsozialismus nicht gedient. Wenn sich seither die Bevölkerung immer mehr von den Juden abwendete, so scheint dieser Vorfall durch Mitleidserregung das Gegenteil zu bewirken. Vielfach wird sich über das Versagen der Polizei gewundert.''

''Das Anbringen von Stürmerkästen hat wohl einen Anfangserfolg gehabt, jedoch die Namhaftmachung von Personen in denselben hat böses Blut angesetzt, und der Erfolg ist meistens in das Gegenteil umgeschlagen.

Eine öffentliche gewaltmäßige Bekämpfung der Juden halte ich für erfolglos. Nur eine stetige Aufklärung über die Schädlichkeit des Juden für unser deutsches Volk bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei Familienfesten, Vereinssitzungen usw. wird zum Erfolg führen.''

''Von dem größten Teil der Bevölkerung werden Übergriffe unterer Stellen in der Judenbekämpfung (Häuser beschmutzen, Fensterscheiben einwerfen usw.) verworfen. Es kommt dann vor, daß die Stürmerkästen das Gegenteil bringen, was sie erreichen sollen, nämlich daß ihr Inhalt in bezug auf Wahrheit nicht ernstgenommen wird und sie eher Sympathie als Abneigung gegen den Juden erwecken.''

''Pp. Wir werden bestimmt weiterkommen, als wenn die SA durch die Stadt zieht und schreit 'Juda verrecke'. Wenn wir uns dem Ausland so zeigen, verlieren wir bestimmt das Ansehen und die Juden finden Beistand, auch ist das Große-Schilder-Anbringen 'Juden sind an diesem Orte nicht erwünscht' bestimmt nicht die beste Waffe gegen den Juden. Mit Geschrei ist der Jude nicht zu bekämpfen, dadurch schafft man diesem Freunde und stärkt ihn. Der Kampf gegen den Juden muß ruhig, besonnen aber fest und sicher und diplomatisch sein.''

''Am Sonntag dem 8.8.35, fand eine Propaganda-Autofahrt des SA-Sturms 3 J.11 statt. In Dörfern, in welchen Juden wohnen, wurde ein Auftreten gezeigt, welches keine Sympathie für die SA hervorgerufen hat. So in [...] vor dem Hause des Juden Lion wurde ein Gebrüll veranstaltet, das ohrenbetäubend war. Es konnte kaum verstanden werden was an Unflätigkeiten gebrüllt wurde. Die Bevölkerung ist aufs äußerste empört.

Ein angebrachter Stürmerkasten wird kaum beachtet.

Auch werden die jetzt verteilten Plakate 'Juden Betreten des Hofes verboten' nur von ganz wenigen angebracht.

Der Propagandamarsch hat gerade das Gegenteil hervorgerufen, als was er bezwecken sollte. Die Bevölkerung liest den Oberhessischen Anzeiger. In der Nr. vom 16.8.35 stand ein Artikel - Rede des Pg . Frankenführers Streicher in Berlin. Dieser sprach gegen jede Betätigung gegen die Juden, besonders daß SA sich nicht zur Judenbelästigung hergibt, wer es doch tut, als Provokateur anzusehen ist. Die Bevölkerung versteht es nun ganz und gar nicht, daß höhere Führer gerade das Gegenteil sagen, als was tatsächlich unten von SA [sic] geschieht.''

Das sind einige von den vielen Stimmen derjenigen Organe, die die Auswirkungen der Ausschreitungen am besten zu übersehen vermögen.

Durch derartige sinnlose Einzelaktionen wird das Ansehen der Bewegung und des Staates schwer geschädigt und den offenen und heimlichen Feinden des Dritten Reiches nur Material zur Hetze gegeben. Soweit SA-Männer daran beteiligt sind, stellen sie m.E. auch grobe Disziplinlosigkeiten gegenüber den ausdrücklichsten Befehlen der obersten Führer dar, nach deren auch dem Publikum durch Zeitungsmeldungen bekannten Anordnungen derartiger Unfug schwer bestraft werden soll.

Häufig werfen die Bauern und Arbeiter die Frage auf, weshalb man den kleinen Mann bei einer etwa noch bestehenden Geschäftsverbindung mit dem Juden gleich als ''Volksverräter'' hinstelle, während der Reichsnährstand und die NS-Hago Juden noch zu ihren Mitgliedern zähle und auch die Bahn und die Post Juden noch befördere. Auch auf die angeblich vom ''Stürmer'' selbst zugegebene Tatsache, daß heute noch ein oder zwei Juden im Auswärtigen Amt säßen, wird hingewiesen. Eine überzeugende Aufklärung der Bauern ist bei dieser Art Fragestellung oft schwer.

Im Augenblick löst die Art der Anbringung der Schilder ''Juden ist das Betreten dieses Hofes verboten'' in manchen Gemeinden Unruhe und weitere Mißstimmung aus. Bei der Anbringung dieser Schilder sollte man von jedem Druck auf die Hauseigentümer absehen, da auch sonst hier nur das Gegenteil erreicht und unnötige Beunruhigung geschaffen wird. In den Fällen, in denen das Schild nur unter Druck oder aus Angst und nicht aus innerer Überzeugung angebracht wird, ist sein Wert doch nur ein sehr zweifelhafter.

Gewisse Komplikationen entstehen bei den Gehöften der Bürgermeister, Standesbeamten und Poststelleninhaber, die von den Juden u.U. aus dienstlicher Veranlassung betreten werden müssen. Den Bürgermeistern und Standesbeamten, die sich in wiederholten Fällen an mich um Rat gewandt haben, habe ich empfohlen, die Schilder mit dem Zusatz zu versehen: ''Betreten aus dienstlicher Veranlassung gestattet.''

In einem Fall war es zwischen einem Erbhofbauern und einem der Hitlerjugend angehörenden 17jährigen Gymnasiasten wegen der verweigerten Schildanbringung zu einer Diskussion mit abfälligen Äußerungen durch den Bauern gekommen, die Veranlassung zur Stellung eines Antrages auf sofortige Inschutzhaftnahme gaben. Bei seiner verantwortlichen Vernehmung hat sich der Bauer u.a. wie folgt geäußert:

''Die Ablehnung des Schildes habe ich nicht aus bösem Willen gegen die Sache gemacht, sondern aus folgendem Grund: Ich habe als Bauer jährlich ca. 5 Stück Vieh zu verkaufen und kaufe 1 bis 2 Stück dazu. Ich habe schon einmal versucht, mit der Viehverwertung zu handeln, konnte aber nicht einig werden. Wenn die Viehverwertung mir die Garantie gibt, daß sie mir alles Vieh abnimmt und geeignetes Vieh besorgt, ohne daß ich geschädigt werde, bin ich ohne weiteres bereit, den Handel mit dem Juden aufzugeben, da ich an den Juden in keiner Weise gebunden bin. Dann bin ich auch bereit, das Schild anzubringen. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß wenn das Schild am Hause hängt, auch kein Jude mehr auf den Hof kommen darf. Dieses kann ich aber erst durchführen, wenn mit der Absatz meines Viehes gesichert ist.''

In einem anderen Fall hat ein Forstmeister a.D. Strafantrag wegen der unbefugten Anbringung des Schildes gestellt und dabei ausgeführt:

''Ein solches, jedes rechtlich und christlich denkenden Mannes unwürdiges, von mir wahrheitswidrig, öffentlich behauptetes Verhalten ist geeignet, mich, der ich arischer Abstammung bin, einer christlichen Kirche angehöre und pensionierter höherer Beamter bin, verächtlich zu machen und zugleich auch in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen.''

Soeben geht mir weiter eine Beschwerde der Kassenärztlichen Vereinigung, Bezirksstelle Marburg, zu, daß in einem Fall auch den Ärzten verboten sein soll, erkrankte Juden zu behandeln.

Wenn der jüdische Handel weiter in so erfreulichem Maße wie bisher planmäßig zurückgedrängt werden soll, so muß jedes gewaltmäßige Vorgehen unterbleiben. Nur eine sachgemäße Aufklärung und Schulung der Bevölkerung und restlose Disziplin - auch durch die SA-Angehörigen - können zum Ziel führen.

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