Der Regierungspräsident berichtet aus Stettin
Der Regierungspräsident von Stettin erstattet am 13. September 1935 folgenden Bericht für Juli und August 1935:
Die Stimmung in der Bevölkerung ist in politischer Hinsicht im allgemeinen als zuverlässig zu bezeichnen. Zur Zeit bestehen allerdings gewisse Spannungen, die auf die viel erörterten derzeitigen politischen Probleme zurückzuführen sind. Die Auflösung der NSDFB (Stahlhelm) und der Freikorpsverbände, die öffentliche Auseinandersetzung mit dem politischen Katholizismus und z. T. auch mit den Kirchen beider Konfessionen, die Aktivität der Partei hinsichtlich der Judenfrage , die kaum nachweisbare, aber spürbare Wühlarbeit des Kommunismus und in letzter Zeit in ganz besonderem Maße die Steigerung der Lebensmittelpreise trugen zu einer bemerkenswerten Anteilnahme der Bevölkerung am öffentlichen Leben bei. (…)
Gegner des Staates und der Bewegung (…)
Einen besonders großen Raum nimmt in der Berichtszeit die Juden-Frage ein. Die Aufklärungsarbeit der NSDAP wurde, wie ein Teil der Landräte berichtet, durch stärkeres Hervortreten des Judentums gefördert. Bereits im Frühjahr dieses Jahres berichtete ich von den zu erwartenden Übergriffen, die unausbleiblicherweise Hand in Hand mit der Propagandatätigkeit der NSDAP gehen würden. Die in dem ''Stürmer '' veröffentlichen Anprangerungen deutscher Frauen, die mit Juden verkehren, oder von Deutschen, die beim Juden kaufen, haben überall Nachahmung gefunden. Die Gliederungen der NSDAP werben eifrig für den ''Stürmer'' durch dessen unentgeltliches Verteilen und durch Aufstellung von Schaukästen, in denen neben dem ''Stürmer'' auch örtliche Anprangerungen von Volksgenossen veröffentlicht werden. Naturgemäß wirken diese Mittel nicht nur abschreckend, sondern geben oft auch Anlaß zu gewaltsamen Vorgehen gegen die gebrandmarkten Volksgenossen. Insbesondere wird die Kampfesweise des ''Stürmer'' in weitesten Kreisen der Bevölkerung - auch innerhalb der NSDAP - nicht gebilligt. Auch die in den Seebädern, städtischen Badeanstalten und vor den Ortschaften aufgestellte Schilder (''Juden betreten diesen Boden auf eigene Gefahr'' u.ä.), die in der nationalsozialistischen Presse veröffentlichten Aufsätze gegen die Juden, ferner Propagandafahrten der SA und das Photographieren deutscher Käufer bei Juden usw. führten allerorts zu Einzelaktionen , in deren Verfolg die bekannten, z. T. durch Ereignismeldung berichteten, Ausschreitungen vorkamen, und deren Unterdrückung der Polizei mit Rücksicht auf die Beteiligung oder sogar Veranlassung von führenden Parteigenossen nicht möglich war. In vielen Fällen mußten Polizei- oder Gendarmeriebeamte zur Vermeidung von Gewalttätigkeiten Juden oder in Beziehung zu Juden stehende deutsche Mädchen zu deren eigener Sicherheit in Haft nehmen. Ein auch in meinem Bezirk häufig angewandtes Zwangsmittel war das Umherführen dieser Frauen durch die Stadt. Wiederholt sind Sachbeschädigungen wie Einschlagen von Schaufenstern, Zerstörung von Geschäfts- oder Berufsschildern und dergleichen gemeldet worden. Die Täter konnten nur in den seltensten Fällen festgestellt werden.
Besondere Bedeutung hatte das Aufenthaltsverbot für Juden in den Ostseebädern (''Juden unerwünscht''), insofern, als z.B. das früher von Juden häufig besuchte Ostseebad Heringsdorf wenig Badegäste hatte und dadurch die Pensionsinhaber in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind. Während der Badezeit wurden in einzelnen Ostseebädern unter Führung der örtlichen NSDAP die sich im Bade aufhaltenden Judenfamilien zur Abreise gezwungen. Auch hierbei kam es zu Gewalttätigkeiten. Seit dem ersten Erlaß des Führers gegen Einzelaktionen vom 20. August 1935 - III P 3710/59 - haben sich nennenswerte Vorfälle nicht mehr ereignet. Der Erlaß ist über den Parteidienstweg inzwischen wohl auch allen örtlichen Gliederungen der NSDAP zur Kenntnis gelangt. Wegen der Zweifelsfragen, die der Erlaß enthält, nehme ich Bezug auf meinen Bericht vom 7. September 1935 - I R.V./ I.P. Nr. 478 g -.
Es ist ziemlich allgemein beobachtet worden, daß in jüdischen Geschäften weniger gekauft wird, und daß sich auch die Volksgenossen vor privatem Verkehr mit Juden, wenigstens nach außen hin, hüten. Es wird sogar berichtet, daß sich die Handwerker weigern, für Juden Arbeiten auszuführen. In einem Falle hatte dies insofern zu Schwierigkeiten geführt, als notwendige Reparaturarbeiten an Gebäuden von Juden wegen der Weigerung der Handwerker nicht ausgeführt werden konnten. Unverändert weiter besteht die Neigung der minderbemittelten Bevölkerung, auch der Wohlfahrtsempfänger oder solcher, die von der NSV unterstützt werden, in jüdischen Warenhäusern zu kaufen. Auf dem Lande wird die durch die Presse bekannte Erscheinung bestätigt, daß der Jude die Landgemeinde oder kleine Stadt verläßt, um in die Großstadt abzuwandern. Die Berührung der Landbevölkerung mit dem Judentum wird jedoch durch die verhältnismäßig häufig beobachteten jüdischen Wandergewerbetreibenden aufrechterhalten, die in der Ausübung ihres Gewerbes behördlich geschützt werden müssen. Die ländlichen Kreise handeln vielfach immer noch mit Juden, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß manche Handelszweige, wie z.B. der Pferdehandel, völlig oder doch überwiegend in jüdischen Händen liegt, so daß die Landbevölkerung manchmal tatsächlich gezwungen ist, mit Juden Geschäfte abzuschließen. Es wird die begrüßenswerte Beobachtung gemacht, daß nicht nur der kaufmännische Verkehr mit Juden nur verboten, sondern auch z.B. von seiten des Reichsnährstandes Versuche gemacht werden, die zwangsläufigen Gründe für den ländlichen Geschäftsverkehr mit den Juden auszuschalten. Beispielsweise geht mir von einem Landrat die Nachricht zu, daß in seinem Kreise auf Veranlassung des Reichsnährstandes die Kreisgenossenschaft angewiesen worden ist, sämtliche angebotenen Getreidevorräte anzukaufen, damit dem immer wieder von den Landwirten erhobenen Einwand, sie müßten mit Juden handeln, wirksam begegnet werden könnte. Auch die Tätigkeit der Ein- und Verkaufsvereine wäre im Stande, den Handel auswärtiger Juden auf dem Lande zu unterbinden. Wie ich in früheren Berichten darauf hingewiesen habe, ist ständig mit Verkaufsschwierigkeiten der Landwirte im Getreidehandel zu rechnen. Wenn die meisten arischen Händler und Mühlenbesitzer ihren Getreidebedarf gedeckt haben, kaufen die jüdischen Getreidehändler das von den Bauern angebotene Getreide auf und bezahlen es sofort bar, so daß hierdurch ihre Geschäftsverbindungen nicht abreißen.
In letzter Zeit ist es eine häufige Erscheinung, daß bekannte große jüdische Firmen in arische Hände übergehen (Karstadt, Nordstern). Mit Rücksicht auf die bisherige Boykottarbeit der NSDAP wird der Veräußerung der Firmen an Arier noch vielfach mit Argwohn begegnet. Trotz des Übergehens der Firmen wird angenommen, daß dieses nur zu Tarnungszwecken geschehen ist und im Hintergrunde die bisherigen jüdischen Geschäftsinhaber stehen. (…)
Die NSDAP und ihre Gliederungen (…)
Der Gebrauch der Demonstrationen als politisches Kampfmittel gegen das Judentum hat sich auch auf andere angebliche Volksschädlinge, wie ''unsoziale Hausbesitzer'', Arbeitgeber usw. erstreckt. Daß dieses Kampfmittel außerordentlich gefährlich ist, beweist der ebenfalls durch Ereignismeldung berichtete Fall, daß ein bewährter alter Parteigenosse (Fall Deike - in Pasewalk) auf eine völlig unberechtigte Anzeige eines entlassenen Arbeiters hin Gegenstand einer Demonstration wurde, während derer er mißhandelt und mit einem Schandplakat um den Hals durch die Stadt herumgeführt wurde, so daß er zu seiner eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen werden mußte. Gerade dieser Fall gibt besonderer Deutlichkeit einen Beweis der mangelnden Zusammenarbeit mancher NS-Organisationen, da nicht anzunehmen ist, daß ein alter bewährter Parteigenosse nicht auch bei der Arbeitsfront, an die sich der entlassene Arbeiter gewandt hatte, bekannt gewesen ist. Aus dem oben angezogenen Erlaß vom 20. August d. Js. gegen Einzelaktionen ist nicht deutlich zu ersehen, daß sich der Erlaß auch auf andere, als gegen Juden gerichtete Aktionen erstreckt. Ich habe bemerkt, daß, wenn der Erlaß bei den Organisationen der NSDAP durchgegeben worden ist, dies nur unter Hinweis auf Aktionen gegen das Judentum geschehen ist. Daher ist mangels genügender Aufklärung mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Einzelaktionen in anderen Fällen nicht als verboten angesehen werden. Ich habe die nachgeordneten Polizeibehörden darauf hingewiesen, daß der Erlaß selbstverständlich für alle Einzelaktionen und Ungesetzlichkeiten der genannten Art Geltung findet. Hinsichtlich des Falles Deike-Pasewalk sei noch hervorgehoben, daß, wie nach mir vorliegenden Berichten manchmal auch in anderen Fällen, die nationalsozialistische Presse keinen wahrheitsgemäßen Bericht erstattet hat, so daß für sie bei Bekanntwerden derartiger falscher Berichterstattung die Gefahr des Mißtrauens der Bevölkerung besteht.