Der Regierungspräsident berichtet aus Stettin
Der Regierungspräsident von Stettin erstattet am 2. September 1935 folgenden Bericht für den Zeitraum 31. Juli bis 2. August 1935:
Anläßlich der Ausverkaufswoche in Stettin fanden in den letzten Tagen in den Hauptstraßen der Stadt judenfeindliche Demonstrationen statt. Diese wurden in den ersten beiden Tagen in der Hauptsache dadurch hervorgerufen, daß sich Zettelverteiler und Plakatträger unmittelbar vor den Eingängen und in den Eingangsräumen der größeren jüdischen Geschäfte aufstellten, um das kauflustige Publikum zu veranlassen, die jüdischen Geschäfte nicht zu besuchen. Hierdurch kam es wiederholt zu Ansammlungen in den Straßen der Innenstadt, die schon an sich einen außerordentlich starken Verkehr aufweisen, der durch die Ausverkäufe in diesen Tagen noch gesteigert ist. Der Einsatz von Polizeikräften war verschiedentlich erforderlich, um die Ansammlungen zu zerstreuen und einen ordnungsmäßigen Verkehr zu gewährleisten. Zum Teil kam es dabei auch zu Ausschreitungen in geringen Umfang. Es besteht auch die Annahme, daß Kommunisten und andere staatsfeindliche eingestellte Personen die Demonstrationen für ihre Zwecke ausnutzten.
Am 31.7. und 1.8. hatte sich das Bild insofern verändert, als durch Eingreifen der zuständigen Parteidienststellen die Werbeaktionen für arische Geschäfte bestimmt abgegrenzt wurden. Es gingen nur noch durch Armbinden gekennzeichnete Zettelverteiler durch die Straßen, insbesondere vor den großen jüdischen Geschäften hin und her, während das Zettelverteilen und das Plakataufstellen vor und in den Eingängen unterblieb. Durch Einsatz von verstärkten uniformierten und zivilen Polizeistreifen ist die Ruhe in vollem Umfange aufrecht erhalten worden. Die antisemitische Propaganda in Stettin wird an sich fortgesetzt, jedoch unter Aufsicht der zuständigen Polizeistellen und unter Beachtung der von der Werbegemeinschaft gegebenen Vorschriften. Zu Ausschreitungen größeren Umfanges ist es bisher nicht gekommen.
Am 1.7. hatten die Inhaber verschiedener größerer jüdischer Geschäfte ein Telegramm an den Reichswirtschaftsminister gesandt, das folgenden Wortlaut haben soll:
''Saison-Schlußverkauf jüdischer Geschäfte durch judenfeindliche Maßnahmen sehr behindert. Postenstehen, Patrouillen, Flugblätterverteiler, Transparente, Straßenaufläufe, Beschimpfungen der Käufer hindern das Geschäft. Ohne sofortige durchgreifende Abhilfe ernste Gefahren für die Wirtschaft.
gez. Gebr. Karger, Naumann Rosenbaum, Otto Lindner, Max Kurnick, Hermanns & Froitsheim.
Das Telegramm wurde in diesem Wortlaut in der heutigen Morgenausgabe der in Stettin erscheinenden ''Pommerschen Zeitung'' mit einem Begleitartikel unter der Überschrift ''Ungeheuerliche jüdische Provokation'' veröffentlicht. Der Kreisleiter von Groß-Stettin ist bei dem Leiter der Staatspolizeistelle in Stettin vorstellig geworden und hat darauf hingewiesen, daß durch das bekanntgewordene Telegramm Empörung in der Bevölkerung hervorgerufen sei. Gemäß dem Wunsche des Kreisleiters ist der Leiter der Staatspolizei mit den Absendern des Telegramms am 2.8. früh in Verbindung getreten, um diese zum Widerruf des Telegramms zu veranlassen. Ein Widerruf ist nicht erfolgt, jedoch haben die jüdischen Geschäftsinhaber eine längere Erklärung folgenden Wortlauts abgegeben:
''Das in der Pommerschen Zeitung veröffentlichte Telegramm an das Wirtschaftsministerium über judenfeindliche Maßnahmen ist von uns gemeinsam zur Absendung gebracht worden. Wir sind nicht in der Lage, das am Mittwoch zur Mittagszeit abgesandte Telegramm zu widerrufen. Wir erklären jedoch ausdrücklich, daß es uns vollkommen ferngelegen hat, mit diesem Telegramm irgendeinen Vorwurf zu erheben. Wir vertrauen ohne weiteres der uns abgegebenen Erklärung, daß diese Stellen mit den von uns beanstandeten Maßnahmen der letzten Tage nichts zu tun haben. Wir haben uns an das Reichswirtschaftsministerium gewandt, weil wir die Angelegenheit nicht als eine solche politischer sondern wirtschaftlicher Natur betrachten. Wir erkennen gern an, daß die Maßnahmen der staatlichen Behörden, insbesondere der Polizei, Abhilfe geschaffen haben.
Für den heutigen Abend ist von der Kreisleitung Groß-Stettin eine große antisemitische Demonstration für alle Gliederungen der Partei einberufen. Das Polizeipräsidium ist verständigt. Es sind alle polizeilichen Maßnahmen getroffen, um einen ruhigen Ablauf dieser Demonstration zu gewährleisten. Die Staatspolizeistelle plant, die jüdischen Geschäftsinhaber vom Beginn der Demonstration bis zu völligen Beruhigung der Bevölkerung in Schutzhaft zu nehmen.
Am 24. Juli haben sich auch in Misdroy antijüdische Demonstrationen ereignet, die auch zu Ausschreitungen geringen Umfanges führten und in der Bevölkerung und unter den Badegästen Beunruhigung hervorriefen. Sobald mir der nähere Bericht des Landrats vorliegt, werde ich weiter berichten.
Auch aus anderen Orten des Bezirks, insbesondere den Seebadeorten werden antijüdische Demonstrationen gemeldet.