Der Regierungspräsident von Kassel berichtet
Der Regierungspräsident von Kassel erstattet am 2. September 1935 folgenden Bericht für Juli und August 1935:
Die Stimmung der Bevölkerung hat sich in den letzten Wochen der Berichtszeit in nicht zu verkennender Weise verschlechtert. An Stelle der früheren geschlossenen Stimmung, der gegenüber die Nörgelei und Miesmacherei Einzelner kaum in Erscheinung trat, ist eine allgemeine politische Müdigkeit und eine starke Neigung zur Kritik wahrnehmbar. Es hat vielfach den Anschein, als ob die schwere Nachkriegszeit mit ihren Verfallerscheinungen auf allen Gebieten und die durch den Führer zur Tat gewordene Errettung Deutschlands vor dem drohenden Bolschewismus nur allzu schnell von einem Teile der Bevölkerung vergessen worden wäre. Als selbstverständlich wird das Erreichte hingenommen, während an die unbestreitbar vorhandenen Schwierigkeiten und Mängel der schärfste Maßstab der Kritik angelegt wird. Aber mögen so auch die verschiedenen Äußerungen der Kritik hörbar sein und auf die Stimmung der Bevölkerung eingewirkt haben und einwirken, mag auch die anfängliche Begeisterung nachgelassen haben, so sind doch vaterländischer Sinn und das uneingeschränkte Vertrauen zum Führer unerschüttert.
Die Gründe der vielfach vorhandenen Verstimmung, die auch Parteimitglieder erfaßt hat, lassen sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Teils sind sie religiöser, teils wirtschaftlicher, teils auch allgemeinpolitischer Natur. Während immer noch die Ausdrücke ''Ich kann'' oder ''Ich darf ja nichts sagen'' zu hören sind und diese wie der Umstand, da der Deutsche Gruß wieder in starkem Maße den Begrüßungen ''Guten Morgen'', ''Guten Tag'', ''Auf Wiedersehen'' gewichen ist und oft nicht einmal erwidert wird, darauf schließen lassen, daß im Stillen manche Kritik geäußert wird, die man sich scheut offen zur Sprache zu bringen, ist im großen und ganzen die Sprache doch eine freiere geworden.
Um ganz allgemein einen Eindruck der Gesamtstimmung zu vermitteln, möchte ich einige Äußerungen örtlicher Stellen, die in den Berichten der Landräte zu Wort gekommen sind, wiedergeben.
Ein Ortsgruppenleiter der NSDAP aus dem Kreise Marburg (Reichsbahnbeamter, alter Pg . mit goldenem Parteiabzeichen, zu dessen seit langen Jahren als besonders nationalsozialistisch geltendem Ortsgruppengebiet 17 Gemeinden gehören) äußert sich über die Stimmung wie folgt:
''Statt der früheren Freudigkeit kühle und z.T. ablehnende Haltung. - Sie drückt sich aus in dem geringeren Besuch unserer Veranstaltungen, Uneinigkeit unter den Frauen, Kritiken ohne Zahl, Miesmacherei, Nachlassen der Gebefreudigkeit beim Sammeln und vor allem im zunehmenden Handel mit Juden.'' (…)
Geht man weiter den Gründen der Verstimmung nach, so ist vielfach eine Mißbilligung örtlicher Vorkommnisse und auch der üblich gewordenen Anprangerungen in den Stürmerkästen , die nunmehr in fast allen Orten zum Aushang gekommen sind, anzutreffen. Hierbei scheint es gelegentlich zu Mißgriffen gekommen zu sein. Die Gefahr, daß Anprangerungen ohne ausreichende Klarstellung des Sachverhalts erfolgen oder die Stürmerkästen sogar zum Austrag persönlicher Dorffeindschaften benutzt werden, ist ohne Aufsicht einer übergeordneten Stelle, etwa des Kreisleiters, nicht von der Hand zu weisen. Die gegen Beamte gerichteten Angriffe und der gegen sie erhobene Vorwurf des ''Volksverräters'', dessen ungeheure Schwere man sich vielfach nicht ausreichend bewußt zu sein scheint, bedeuten für den Staat eine nicht zu verkennende Schwächung seiner Autorität. Desgleichen ist die Anprangerung von Marburger Professoren geeignet, bei Ausländern, die daran natürlich nicht achtlos vorübergehen, ein schiefes Bild von Deutschland hervorzurufen. (…)
Juden und Freimaurer
Das Judentum trug in der Berichtszeit wieder ein selbstbewußteres Wesen zur Schau. Mit seinen Geschäften trat der Jude meistenteils wieder offen auf, legte dabei aber zeitweilig ein derartiges Verhalten an den Tag, daß Ausschreitungen nicht ausbleiben. Auch der jüdische Hausier- und Viehhandel , der, wie Beobachtungen zeigen, mit Vorliebe durch Mittelsmänner getätigt wird, hat eine Zunahme erfahren und soll sogar verschiedentlich einen Umfang angenommen haben wie nie zuvor. Das Anwachsen ist nicht zum geringsten darauf zurückzuführen, daß in großen Teilen der Bevölkerung die nationale Notwendigkeit der Bekämpfung des jüdischen Handels noch nicht erkannt ist. Anders ist es nicht zu erklären, daß die Menschen wieder in die jüdischen Geschäfte und Kaufhäuser strömen. Die Abgewöhnung der Bevölkerung vom Handel mit Juden ist lediglich eine Frage der Erziehung und des Charakters. Eine wirksame Aufklärung in dieser Hinsicht dürfte jedenfalls erfolgversprechender sein als Einzelaktionen gegen Juden , aus denen dem Gesamtwohl nur Schaden erwächst.
Erfreulich ist die Tatsache, daß einige Viehmärkte, darunter die Viehmärkte in Fulda und Arolsen, zum ersten Mal in diesem Jahre ohne Juden durchgeführt werden konnten.