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Chronik und Quellen
1935
August 1935

Die Gestapo berichtet aus Harburg-Wilhelmsburg

Die Gestapo für den Regierungsbezirk Lüneburg erstattet folgenden Bericht für August 1935:

Mit Spannung wird der Abessinien-Konflikt verfolgt. Die Angst vieler Volksgenossen, daß auch Deutschland in einen kommenden Krieg mithineingezogen würde, hat sich gelegt. Jetzt erst erkennt der größte Teil der Bevölkerung die vom Führer weitausschauenden Maßnahmen, die es uns ermöglichen, nach keiner Seite gebunden frei dazustehen. Auch hört man in der letzten Zeit immer wieder davon sprechen, daß die jetzt bekannt gewordene Investierung englischen und amerikanischen Kapitals in Abessinien wiederum ein Schachzug der Welt-Freimaurerei und des Judentums sei; diese Meinung ist ein Beweis dafür, daß der Kampf des Nationalsozialismus gegen die Freimaurerei und das Judentum auf guten Boden gefallen ist, wenn auch andererseits die Einzelaktionen gegen die Juden durchaus kein Verständnis in der großen Menge der Bevölkerung gefunden haben, im Gegenteil allerschärfster Ablehnung begegnen. Man steht, und zwar diesseitigen Erachtens durchaus mit Recht, auf dem Standpunkt, daß dadurch

1.) außenpolitisch eine große Gefahr heraufbeschworen wird,
2.) dadurch die Juden zu Märtyrern gemacht werden und somit hier das Gegenteil erreicht wird. (…)

 

Juden und Freimaurer

Die Juden-Boykott-Bewegung ist im Berichtsmonat erhöht in Erscheinung getreten. So wurden die Schaufenster der Geschäfte in der Hauptstraße in Harburg-Wilhelmsburg mit bunten Zetteln beklebt, die folgenden Inhalt trugen:

''O Herr gibt uns den Moses wieder,
gib, daß er seine Glaubensbrüder
wegführe ins gelobte Land;
gib, daß das Meer sich wieder teile,
und daß die hohe Wassersäule
feststeh, wie eine Felsenwand
und wenn in seiner Wasserrinne
die ganze Judenschar ist drinne,
o Herr, dann mach die Klappe zu
und alle Völker haben Ruh.

Weiter wurde in Harburg-Wilhelmsburg ein Flugblatt verteilt, in dem in einem Spottgedicht dem Harburger Bürgermeister Dyes der Vorwurf gemacht wird, daß in seiner Familie Judenblut fließen soll.

Das Flugblatt ist an verschiedenen Stellen der Stadt öffentlich angeklebt worden. Zwei Exemplare sind dem Bürgermeister Dyes anonym zugeschickt worden. Auch dem hiesigen Gauleiter der NSDAP , Staatsrat Telschow, ist ein gleiches Flugblatt mit einem anonymen Anschreiben durch die Post zugestellt worden.

Die Vorgänge sind an die Staatsanwaltschaft abgegeben.

Am 25.8. fand im Rahmen der SA-Sportwoche in Harburg-Wilhelmsburg eine Propagandafahrt der SA statt. Hierzu wurden 10 Lastkraftwagen mit Anhängern benutzt. Die Wagen waren mit Plakaten beklebt, die sich in der Hauptsache gegen Juden und Pfaffen richteten. Diese Plakate waren z. T. derart geschmacklos, daß die Allgemeinheit der Volksgenossen dieselben ablehnte. Als besonders auffallend wurde von einem Lastkraftwagen eine lebensgroße Puppe, die an einem Galgen hing, mitgeführt. Die hiesige nationalsozialistische Tageszeitung ''Niederelbisches Tageblatt'' hat dann noch die Geschmacklosigkeit besessen in ihrem Bericht über die Propagandafahrt diese Puppe durch eine Photographie besonders hervorzuheben. Für derartige Entgleisungen muß der Schriftleiter zur Verantwortung gezogen werden, zumal doch derartige Abbildungen im Auslande bekannt werden und der Greuelpropaganda neue Nahrung geben. Die Landesstelle Ost-Hannover des Reichspropagandaministeriums, der ja die Überwachung der Presse obliegt, ist entsprechend verständigt und wird von sich aus das Weitere veranlassen.

An sich haben sich die Juden im allgemeinen ruhig verhalten, jedoch sind in letzter Zeit in der Stadt Celle mehrere Fälle bekannt geworden, in denen sich Juden haben taufen lassen und der evangelischen Kirche beigetreten sind. Bei den evangelischen Gemeindemitgliedern versuchen diese Leute den Glauben zu erwecken, daß sie von der evangelischen Religion vollkommen überzeugt seien. Selbstverständlich ist aber die Taufe nur in der Absicht erfolgt, ihre jüdische Abstammung zu tarnen.

Der Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 20.8.35 betr. Verhinderung von Ausschreitungen, durch den der Führer und Reichskanzler angeordnet hat, daß Einzelaktionen gegen Juden von Mitgliedern der NSDAP und ihren Gliederungen und der angeschlossenen Verbände unbedingt zu unterbleiben haben, wurden von den Behörden dankbarst begrüßt.

Jedoch wird mir bei der Abfassung des Lageberichts noch ergänzend gemeldet, daß bei einem SA-Treffen am vergangenen Sonntag (1.9.) in Celle, an dem auch der dort stationierte Brigadeführer teilgenommen hat, Lastkraftwagen auf denen u.a. an großen Transparenten die Worte ''Juden und Pfaffen raffen, Wir (die SA) schaffen'' zu lesen waren, gezeigt. Es ist dann auch nicht weiter zu verwundern, daß durch diese Machenschaften allgemein die Auffassung entsteht, daß derartige Plakate auf eine durchaus ungenügende Schulung der verantwortlichen Unterführer schließen lassen. Ja, es taucht sogar vielfach - selbst in Kreisen der Intelligenz - die Meinung auf, daß diese Art der Propaganda von der Regierung gestützt, gefördert und gewünscht wird.

Es ist unverständlich, daß von SA-Führern derartige Plakate geduldet werden, wo doch in diesen Kreisen hinreichend bekannt sein dürfte, daß Einzelaktionen strengstens verboten sind. Hierzu kommt noch, daß sich das genannte Plakat nicht einmal nur mit den Juden beschäftigt, sondern auch noch die Geistlichkeit (''Pfaffen'') mit hineingezogen wird. Daß beabsichtigt ist, mit dem Ausdruck ''Pfaffen'' nur eine gewisse Kategorie der Geistlichkeit zu treffen, wird vielerseits mißverstanden.

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