Die Gestapo berichtet aus Erfurt
Die Gestapo für den Regierungsbezirk Erfurt erstattet am 3. September 1935 für August folgenden Bericht:
Allgemeines
Der Berichtsmonat stand im Zeichen der Reichswettkämpfe der SA . Ihre Formationen beherrschten das Straßenbild. Die im Zuge dieser Wettkämpfe durchgeführten propagandistischen Unternehmungen der SA, die sich hauptsächlich gegen die Juden und die devisenschiebenden Kreise des politischen Katholizismus richten, wurden von nationalsozialistischen Volkskreisen begrüßt. Wenn auch ein großer Teil der leider immer noch judenfreundlichen Bevölkerung die Maßnahmen kritisierte, so hatte diese Propaganda einen vollen Erfolg zu verzeichnen. Die jüdischen Geschäfte hatten an den Propagandatagen einen nennenswerten Besuch nicht aufzuweisen. Auch an den folgenden Tagen sind die Läden der Juden ängstlich gemieden worden. Wie vertraulich festgestellt werden konnte, hat eine Reihe von Konsumenten unmittelbar nach diesen Propagandaaktionen ihre Monatskonten in dem jüdischen Kaufhaus zum ''Römischen Kaiser'' in Erfurt mit dem 1.9.1935 aufgegeben. (…)
Die allgemeine Unzufriedenheit, die alle ärmeren Volksschichten ergriffen hat, ist im Wachsen begriffen. Besonders erregt ist die Menge über die hohen Lebensmittelpreise und die schlechte Margarineversorgung. Im Volke ist man der Ansicht, daß die Regierung nichts tue, weil sie die Not des Volkes nicht kenne. Zum Führer könne ein gewöhnlicher Sterblicher nicht vordringen, dessen Blick würde genau so wie zu Kaisers Zeiten durch eine Mauer von Parteischranzen getrübt. Der Führer sei auch nicht über die wahre Volksstimmung unterrichtet.
Besonders groß ist die Not der kleinen Rentenempfänger, die noch immer auf eine Aufbesserung ihrer gekürzten Renten hoffen. Diese niedrigen Renten und Löhne müssen andererseits als die Ursache dafür angesehen werden, daß immer noch viel beim Juden, besonders in den jüdischen Kaufhäusern gekauft wird. Eine Arbeiterfrau stellte fest, daß sie beim Einkauf in einem jüdischen Warenhaus den monatlichen Bedarf für ihre fünfköpfige Familie um 15 RM billiger erstehe als in den arischen Geschäften. Ein Pfund hausschlachtene Wurst stellt sich in dem genannten Warenhaus tatsächlich um 30 Pfennige billiger wie in den einschlägigen Hausschlächterläden. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Lebensmittelpreisen. Daß die eingangs erwähnte Propaganda gegen die Juden eine nachhaltige Wirkung nicht hatte, wird dadurch bewiesen, daß nach fast einer Woche der Zulauf zu den jüdischen Geschäften und Warenhäusern wieder in vollem Umfange einsetzte. In nationalsozialistischen Kreisen ist man empört darüber, daß die Menge noch immer nicht begriffen hat, daß die Judenfrage nur dann als gelöst betrachtet werden kann, wenn kein Volksgenosse mehr beim Juden kauft. Weiter wird verlangt, daß Beamte und Angestellte, die heute noch ihren gesamten Bedarf in jüdischen Kaufhäusern decken, als unwürdige Staatsdiener von ihren Behördenleitern zur Rechenschaft gezogen und, soweit sie Mitglieder der Bewegung oder ihrer Untergliederungen sind, ausgeschlossen werden. (…)
Wie mir die Kreispolizeibehörde Nordhausen berichtet, wurde ein Volksgenosse im Schwimmbad in Bleicherode von einem SA-Mann tätlich angegriffen und beleidigt. Eine vorübergehende Überführung des Verletzten in ein Krankenhaus machte sich erforderlich. Der Angriff erfolgte in der Annahme, daß der Badegast ein Jude sei. Wie festgestellt wurde, war der Angegriffene ein SS -Mann. Es ist dies ein Beispiel dafür, wie sich der Judenboykott unter Umständen durch disziplinloses Verhalten einzelner Parteigenossen auswirken kann.
Die Ausschreitungen in Nordhausen gegen einen katholischen Pfarrer, der sich anfänglich geweigert hatte, einen SA-Mann zu beerdigen, sowie die im gleichen Zuge gegen mehrere Nordhäuser Juden durchgeführten Aktionen haben eine restlose Billigung der Bevölkerung nicht gefunden, zumal diese Aktionen fast ausschließlich nur von Angehörigen der NSDAP bezw. ihren Untergliederungen (SA und HJ ) illegal durchgeführt worden sind. In weiten Kreisen der Bevölkerung ist die Ansicht vertreten, daß diese Aktionen unter Duldung der örtlichen Polizei von den örtlichen Führern der NSDAP inszeniert worden sind, weil diese bezw. ihre Unterführer an dem gewaltsamen Einbruch in das katholische Pfarrhaus beteiligt gewesen wären. Inwieweit diese Angaben zutreffen, wird das von der Staatsanwaltschaft Nordhausen wegen Landfriedensbruch eingeleitete Gerichtsverfahren ergeben. Es steht aber außer Zweifel, daß weite Volkskreise der Kreise Nordhausen Stadt und Land diese ungesetzlichen Zustände scharf verurteilen und die örtlichen Führer der Bewegung, die sie für diese Zustände verantwortlich machen, ablehnen. In der Bevölkerung ist die Ansicht vertreten, daß die Polizei in Nordhausen deshalb nicht oder nicht rechtzeitig eingeschritten sei, weil die örtliche Parteileitung die Maßnahmen der Polizei bestimmend beeinflußt habe, und andererseits die Polizeibeamten, soweit sie Parteigenossen sind, einen Ausschluß aus der Partei befürchten. Selbst alte Parteigenossen sind der Ansicht, daß nur durch eine Bereinigung der Führerfrage das stark gesunkene Vertrauen der Bevölkerung von Nordhausen wieder gehoben werden kann. (…)
Juden und Freimaurer
Der Monat August stand im Zeichen einer großangelegten Propagandaaktion gegen die Juden - siehe auch Abschnitt 1 [Allgemeines] -, die im allgemeinen diszipliniert durchgeführt wurde. Von durchreisenden Ausländern, angeblich Franzosen, soll die Art der Propaganda - ein am Galgen hängender Jude - abfällig kritisiert worden sein.
Die Versammlungstätigkeit der Juden hatte im Berichtsmonat stark nachgelassen. Nur einige zionistische Gruppen hielten in Erfurt, Nordhausen und Mühlhausen ihre üblichen Monatsversammlungen ab.
Eine Reihe von Juden mußten im Monat August wegen der durch ihr rasseschänderisches Verhalten hervorgerufenen Erregung in der Bevölkerung in Schutzhaft genommen werden. Im Ortspolizeibezirk Erfurt wurden mehrere jüdische Bordellbetriebe ausgehoben und deren Insassen in Schutzhaft genommen. Die jüdischen Bordellinhaber wurden nach Entlassung aus der Schutzhaft mit einem Aufenthaltsverbot für den Regierungsbezirk Erfurt belegt.
Die Juden Selig und Bacherach wurden von der Ortspolizeibehörde in Nordhausen zum Schutze ihrer Personen vorübergehend in Schutzhaft genommen, weil aktivistische Teile der SA und HJ sie am Abend des 12.8.1935 gewaltsam aus ihrer Wohnung geholt hatten, um sie im Zuge durch die Stadt zu führen. Wegen der hierbei erlittenen Körperverletzungen wurden die Juden dem Krankenhaus in Nordhausen überwiesen.