Die Gestapo berichtet aus Berlin
Die Gestapo für den Landespolizeibezirk Berlin erstattet für August 1935 folgenden Bericht:
Die Verhältnisse auf dem sonstigen innenpolitischen Gebiete haben sich weiterhin bedenklich verschärft.
Auf der einen Seite kehren die dem Nationalsozialismus nur oberflächlich gewonnenen Kreise der Bevölkerung ihm wieder den Rücken; auf der anderen Seite dagegen ist zu beobachten, daß in immer stärkeren Maße gerade die nationalsozialistisch eingestellten Volksteile sich von der Partei abzuwenden beginnen. (…)
Im Volke wird ferner über mangelnde Organisation, über ein Gegeneinanderregieren von Parteiorganisationen untereinander und mit Staatsstellen Klage geführt; jede Stelle regiere für sich ohne Rücksicht auf die andere. Jede habe ihre besonderen Befugnisse, die sich an keiner übergeordneten Stelle vereinigt fänden. Hierdurch ist eine allgemeine Unsicherheit entstanden, da in jedem Falle die Bevölkerung der leidtragende Teil ist. Insbesondere ist dieser Zustand bei der Behandlung der Judenfrage deutlich geworden, wie im nachstehenden Bericht näher ausgeführt wird. (…)
Katholische Bewegung (…)
Ein anderer Geistlicher äußerte, daß die Katholiken in bezug auf die Juden eine andere Ansicht hätten als verschiedene ''Rasse''-Menschen. Die Juden seien nun einmal das auserwählte Volk, hieran könne niemand etwas ändern. Mit einem gewissen Zynismus bemerkte er, daß es vielleicht schöner wäre, wenn das auserwählte Volk Germanen wären. (…)
Deutsche Glaubensbewegung
Diese hielt im Berichtsmonat lediglich eine Versammlung ab. Es handelt sich um die Kreisgemeinde Nordost (Jugendgruppe). Zum Thema ''Warum nennt man uns deutsche Heiden'' führte der Versammlungsredner dem Sinne nach folgendes aus: der christliche Glaube sei uns aufgezwungen worden. Sämtliche Lehren seien dem Germanischen entnommen und verfälscht. Wir hätten es nicht nötig, die Lehre der Juden anzunehmen. (…)
Judenbewegung
In der antisemitischen Bewegung ist im Vergleich zum Vormonat keine grundlegende Änderung eingetreten, jedoch haben die Einzelaktionen gegen Juden und jüdische Geschäfte fast ganz aufgehört, insbesondere ist gegen Monatsende eine weitgehende Beruhigung in dieser Hinsicht eingetreten. Da jedoch das staats-und volksfeindliche Verhalten der Juden trotz der vergangenen Unruhen keineswegs nachgelassen hat, ist eine Gewähr für den Fortbestand des augenblicklichen Zustandes nicht gegeben. In der Bevölkerung und in der Partei wird überall eine gerade Linie in der Judenpolitik vermißt. Wie schon im letzten Lagebericht ausgeführt wurde, fällt allgemein das Nebeneinanderarbeiten von Staat und Partei in der Judenfrage auf. In dieser Hinsicht Abhilfe zu schaffen, erscheint dringend erforderlich, zumal dieser Zwiespalt auf den Köpfen der wenigen noch aktivistischen Parteigenossen ausgetragen wird; ihre Verfolgung von seiten der staatlichen Behörden wird wenig verstanden, da man den Staat für den herrschenden Zustand allgemeiner Unklarheit verantwortlich macht.
Mit polizeilichen Mitteln allein wird eine Wiederholung der judenfeindlichen Demonstrationen jedenfalls nicht verhindert werden können.
Die Tätigkeit der Staatspolizeistelle hat durch die immer zahlreicher eingehenden Anzeigen wegen Rasseschändung eine weitere Steigerung erfahren. Im Berichtsmonat wurde bei insgesamt 208 Personen ein rasseschänderisches Verhalten festgestellt.
An besonderen Vorkommnissen ist zu erwähnen:
a) Der Jude [N.N.a], 3.4.84 Kassa/Ungarn geboren, Stahnsdorf [...] wohnhaft, vergriff sich wiederholt an seinen Angestellten. So schwängerte er ein in seinem Haus wohnendes Lehrmädchen. Um die Folgen zu beseitigen, wurde die Leibesfrucht abgetrieben. Eine andere Angestellte erlitt im 5. bis 6. Monat eine Fehlgeburt. Eine Verkäuferin seines Betriebes schied durch Selbstmord (Leuchtgasvergiftung) aus dem Leben, da sie von [N.N.a] geschwängert war. Desgleichen versuchte seine Köchin auf dieselbe Weise Selbstmord zu verüben, konnte aber rechtzeitig daran gehindert werden.
[N.N.a] wurde festgenommen und dem Richter vorgeführt, der gegen ihn Haftbefehl erließ.
b) In einem ähnlichen Fall wurde der Jude [N.N.b], 3.4.04 Zierendorf geboren, in Schutzhaft genommen. Auch er hatte mit einer Arierin intimen Geschlechtsverkehr gepflogen; da dieser nicht ohne Folgen geblieben war, übte er einen Zwang zur Abtreibung aus. Später löste er das Verhältnis und fand eine andere Arierin, mit der er bereits das Aufgebot auf dem Standesamt angemeldet hatte, als er festgenommen wurde.
c) Der Jude Leo Berlowitz 14.12.88 Thorn geboren, Goldnowstr. 36 wohnhaft, bezeichnete BDM -Mädchen als Hitlernutten. Weiter sagte er, man möge sich mit Proviant versehen, denn im August würden Unruhen entstehen. Er wurde in Schutzhaft genommen.
d) Der Jude [N.N.c], 22.4.08 Kassel geboren, [...] wohnhaft, wurde ebenfalls in Schutzhaft genommen, weil er im Verdacht steht, sich an einem 16-jährigen arischen Mädchen vergriffen zu haben.
e) Der Jude Harry Löwenstein, 28.11.86 Berlin geboren, Berlin-Wilmersdorf, Tübingerstr. 4 wohnhaft, wurde festgenommen, weil er geäußert hatte: ''Was der Krieg nicht fertig gebracht hat, was die Revolution nicht erzwingen konnte, das bringt die jetzige Regierung fertig, Deutschland zu ruinieren.'' Er wurde in Schutzhaft genommen.
Die Reise nach Palästina haben 153 Juden angetreten. Die Abfahrt erfolgte reibungslos und ohne Zwischenfälle.
Im Berichtsmonat haben 2.213 jüdische Versammlungen stattgefunden, von denen nur 22 beobachtet werden konnten.
Besondere Vorkommnisse sind nicht zu melden.
Emigranten
Im Monat August ist nur eine geringe Anzahl Emigranten zurückgekehrt. Es handelt sich dabei vorwiegend um Juden, die sich in Palästina niedergelassen haben und sich in Berlin nur einige Tage besuchsweise aufhielten.
Nur eine Person ist vorgeführt und in ein Schulungslager überführt worden.
Die Rückwanderung deutscher Arbeiter aus Rußland, die das Reichsgebiet seinerzeit größtenteils wegen Arbeitslosigkeit verlassen haben, hält noch unverändert an.
NSDAP (…)
Die Rede des Gauleiters Streicher am 15.8.35 im Sportpalast hat in der Judenfrage weitere Klarheit geschafft. In den Reihen der PG 's war man vielfach der Meinung, daß die behördlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Einzelaktionen zwar offiziell im Interesse des Ansehens im Auslande von der Partei gebilligt, in Wirklichkeit aber der Kleinkrieg gegen die Juden von ihr geduldet und gefördert würde. Inzwischen ist die Welle von Einzelaktionen abgeebbt. (…)
SA und SS (…)
Bei der SA mußte die Feststellung gemacht werden, daß sich immer noch SA-Männer zu Einzelaktionen bei der Bekämpfung des Judentums haben hinreißen lassen. Es wurden die Schaufenster mit allerhand judenfeindlichem Propagandamaterial beklebt, die Bürgersteige vor den Geschäften und auch die Schaufenster beschmiert. Teilweise wurden sogar die Schaufensterscheiben eingeworfen. An verschiedenen Schaufenstern befanden sich Zettel mit dem Wortlaut: ''Jüdisches Geschäft. Wer bei Juden kauft, wird fotographiert. Die Judenknechte gehören an den Pranger.'' Vielfach wurden auch Personen, die in jüdischen Geschäften kauften, beim Verlassen des Ladens fotographiert und die Bilder im Stürmerkasten in einigen Stadtteilen zum Aushang gebracht. Die Täter konnten nicht ermittelt werden.
Anzeigen wegen Widerstandes von SA-Männern haben nicht vorgelegen. Das Zusammenarbeiten zwischen Polizei und der SA hat sich wesentlich gebessert. Im Verhältnis zu der Größe der SA sind die Fälle, in denen SA-Männer strafbare Handlungen begehen, gering. Wenn die judenfeindliche Propaganda nicht eingesetzt hätte, welche durch provozierendes Benehmen von einzelnen Juden verursacht wurde, so wären nur sehr wenige strafbare Handlungen von SA-Männern zu verzeichnen.
Wirtschafts- und sozialpolitische Angelegenheiten (…)
Mietsachen
In der letzten Zeit häufen sich Räumungsklagen von seiten ausländischer jüdischer Hauswirte. Durch sachgemäßes Eingreifen der Stapo ist es bisher meistens gelungen, eine Einigung zugunsten des betroffenen Mieters zu erzielen. Vielfach waren die vorgebrachten Klagen infolge schuldhaften Verhaltens des Mieters nicht stichhaltig.