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Chronik und Quellen
1935
Juli 1935

Bericht aus Lippe

Der Regierungsbezirk Minden, das Landlippe und die Kreisverwaltung Hameln-Pyrmont erstatten folgenden Bericht für Juli 1935:

Presse

Die Hauptthemen der Presse bildeten der Gauparteitag, Kampf gegen die katholische Kirche und Kampf gegen die Juden, die in mannigfachen Variationen und in Bezug auf örtliche Vorgänge abgewandelt wurden. Über Mangel an Stoff brauchte sich auch die örtliche Presse nicht zu beklagen, insbesondere in der Judenfrage . [...] Häufiger las man in lokalen Zeitungen Aufforderungen, Warnschilder zu errichten für Juden, die Juden aus den Bädern und Gaststätten fernzuhalten. Verschiedene Angriffe von NS-Zeitungen gegen bürgerliche Blätter waren zu verzeichnen z.B. NS-Volksblatt Bielefeld gegen das Herforder Kreisblatt wegen Werbung von Annoncen bei Juden u. dergl. An ausgesprochen judengegnerischen Zeitungen wurden hier viel gelesen und vertrieben ''Der Stürmer '', der in den letzten 3 Monaten seine Betriebsziffer im Bezirk mehr als verdoppelt hat, und eine sehr intensive Propaganda durch die SA und andere Parteiorganisationen betreibt und überall seine Stürmerkästen ausgehängt hat. [...] In Arbeiterkreisen findet der Stürmer sehr viel Beachtung.

Mehr an intellektuelle Kreise wendet sich der Judenkenner, der tiefgründiger und weniger propagandistisch die Judenfrage behandelt. Nach anfänglich nur geringer Vertriebsziffer hat diese auch bereits ansehnliche Ziffern erreicht. Weiter erscheint nur in geringer Auflage hier der ''Völkische Herold'' aus Lorch in Württemberg.

(…) Die Judenfrage behandelt das Schwarze Korps in eindeutiger Stellungnahme und wird gerade wegen dieser Stellungnahme gern mit Interesse gelesen. (…)

 

Witze, Satyren, Anekdoten, polit. Dichtungen (…)

Auch über Rassefragen existiert eine Anzahl Witze, mehr oder weniger geschmackvoll, einer der letzten ist folgender:

In einem Krankenhaus liegt ein SA-Mann. Eine Blut-Transfusion ist unbedingt nötig. Es ist aber im Krankenhause nur ein Jude, der zur gleichen Blutgruppe gehört und also Blut spenden kann. Um sich zu gewissern, ob man diesen Juden als Blutspender heranziehen kann, wird nach Berlin telegrafiert, ob man den Juden als Blutspender nehmen dürfe. Von dort kommt telegrafisch die Nachricht zurück: Ja, wenn der Jude Frontkämpfer ist. (…)

 

Juden und Judengegner

Die bekannten Berliner Vorfälle gelegentlich der Vorführung des Films ''Petterson und Bendler'' blieben im großen und ganzen ohne Einfluß auf den Bezirk. Es sind nur geringe Fälle zu erwähnen, in denen es zu Angriffen gegen Juden kam. Lediglich in Minden wurden zwei Juden verprügelt, und durch Inschriften die Geschäfte verziert. In Paderborn wurde der Jude Grünebaum jr., der mit einem arischen Mädchen bis gegen 1/2 1 Uhr im Cafe Wiehaup saß, auf dem Nachhausewege in eine Seitenstraße geleitet und trotz seines Sträubens sehr intensiv in der Pader gebadet. Dem Mädchen wurden auf der Promenade in der Nähe des Westerntores die Kleider vom Leib gerissen, sodaß es im Hemd und Schlüpfer nach Hause gehen mußte. Die Täter sind unbekannt. Dieser Vorfall, der in Paderborn rasch bekannt geworden ist, wurde in der Bevölkerung nicht übel aufgenommen, obgleich man dort sonst sehr judenfreundlich ist. Das dürfte der sehr intensiven Propaganda des Stürmer zuzuschreiben sein, deren Wirken es ist, daß persönlicher Verkehr mit Juden, der in den katholischen Kreisen Paderborn, Warburg, Höxter, Wiedenbrück gang und gebe war, fast gänzlich aufgehört hat. - In Lübbecke wollte die Kreisleitung wegen Rassenschändung in Schutzhaft nehmen. - In Lemgo wurde ein Jude in Haft genommen.

In einer Reihe von Ortschaften (etwa 20-25% des Bezirkes) wurden Schilder angebracht mit der Aufschrift ''Juden sind hier unerwünscht'', ''Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr'' oder dergl. Ähnliche Schilder befinden sich noch an einigen Gastwirtschaften und Hotels. Sie sind hauptsächlich im Zuge der Berliner Vorgänge angebracht. Parallel zu diesen Vorgängen ging auch das Bestreben, die Juden aus den Badeanstalten mittels Anbringung von Warnschildern und Verboten fernzuhalten. Einige Gemeindeverwaltungen faßten derartige Beschlüsse, nachdem sie in der Presse nachdrücklichst darauf gestoßen waren. Die Lippische Tageszeitung brachte eine derartige Forderung unter dem Titel ''An die Judenfreunde''. Der Salzufler Gemeinderat beschloß, an der Badeanstalt ein Schild anzubringen ''Juden haben hier keinen Zutritt'', mußte sich aber von dem Bürgermeister sagen lassen, daß ein derartiges Schild sich schon seit langer Zeit [dort] befinde. Stürmerkästen sind in fast allen Ortschaften von einiger Bedeutung vorhanden. Zuletzt wurde ein solcher in Oerlinghausen aufgestellt und durch den Ortsgruppenleiter Pg . Meierhans mit einer Ansprache seiner Bestimmung übergeben. Großes Aufsehen erregten die in der Westfälischen Landeszeitung ''Rote Erde'', welche im Reg-Bezirk und in Lippe von allen Zeitungen am meisten gelesen ist, erschienenen Vernehmungsprotokolle von Juden und arischen Mädchen aus Breslau in ihrer Originalform, da man diese Form der Berichterstattung in NS-Zeitungen bisher nicht kannte. In der nächsten Nummer der Zeitung erschien dann auch eine Erklärung des stellvertr. Gauleiters Stürz und seines Gauverlagsleiters in der diese energisch von dieser Art Berichterstattung abrücken und mitteilen, daß der verantwortliche Schriftleiter seines Dienstes enthoben sei. Am nächsten Tage erschien weiterhin ein Artikel des Gauleiters Stürz, der vor einem Einzelvorgehen gegen die Juden warnt und in scharfen Worten zu bestimmten Vorgängen Stellung nimmt. Das Ansehen der Juden hat durch all diese Vorgänge einen erheblichen Stoß erlitten, der sich auch wirtschaftlich auswirkt. Angestellte von jüdischen Kaufhäusern klagen bereits über einen merklichen Geschäftsrückgang. Ein Erlaß des Berliner Polizeipräsidenten, SA-Gruppenführer Graf Helldorf, der vor Einzelaktionen und Provokateuren warnt, wurde auch in der SA bekannt gegeben. Die SA ist an Vorgängen gegen Juden bisher nicht in Erscheinung getreten, ebenso nicht die SS . - Wenn auch die Gefahr bestand, daß Parteigenossen, SA, SS und Andere verschiedenes gegen die Juden unternehmen konnten, so wirkte sich die Erinnerung an die Vorfälle in Bielefeld (Kathol. Vereinshaus), in Gütersloh, Vlotho und Herford und deren Folgen doch abschreckend aus. Auch zur Zeit noch sind Vorfälle, in denen gegen Juden wegen Rasseschändung vorgegangen werden soll, z.B. in Bielefeld, bereits im Munde der Leute. Die Agitation gegen Juden wird vor allen Dingen von der Zeitung ''Der Stürmer'' betrieben. Diese Zeitung dominiert unter den judengegnerischen Blättern und hat den unbedingten Vorrang gegen die anderen Blätter, wie ''Der Judenkenner'', ''Der völkische Herold''.

Es ist dem ''Stürmer'' in den letzten Wochen gelungen, mit Unterstützung des SA, SS usw. seine Abonnentenzahl um mehr als 50% zu steigern, abgesehen von dem Absatz der Einzelverkäufer. Die Stürmerkästen sorgen für die Weiterverbreitung des Inhaltes, und es gibt wohl kaum ein Dorf von Bedeutung, in dem nicht ein Stürmerkasten vorhanden wäre. Durch Plakatierung an den Reklame-Säulen usw. wird für einzelne Nummern besonders geworben, besonders für eine Nummer, die den Prozeß des Juden [N.N.] in Magdeburg enthält, und für die mit allen Mitteln der Reklame Propaganda gemacht wurde. Diese Nummer erreichte eine Rekordhöhe in Absatzziffern hier im Bereich im Einzelverkauf durch die Zeitungshändler. Diese mußten mehrmals nachbestellen und konnten nicht genügend Exemplare heranschaffen, um den Bedarf zu decken. Die beabsichtigte Wirkung dieser Nummer auf die Bevölkerung ist unverkennbar. Zweifellos ist die Bevölkerung in der Judenfrage durchaus aktiviert worden, und die Haltung der Bevölkerung zum Juden ist nicht freundlich. - In den Lokalen, in denen der Stürmer ausliegt, findet man diesen häufig in vollkommen zerrissenem Zustande, was auf die Arbeit judenfreundlicher Elemente, bezw. auf Juden selbst zurückzuführen ist. - In Bauernkreisen war es vielfach noch üblich, zum Juden, als zum Korn- und Getreidehändler zu gehen. Neuerdings dringt auch in die Bauernschaft eine gewisse Erkenntnis in der Judenfrage. Gemäß dem Beispiel, daß der Landesbauernführer von Braunschweig, Gustav Giesecke gegeben hat, wird örtlicherseits vielfach ein Vorgehen gegen die Bauern, die noch mit Juden Handel treiben, verlangt, und die Bekleidung von Ämtern im Reichsnährstand wird davon abhängig gemacht, daß die Stellung des Betreffenden zur Judenfrage eindeutig und einwandfrei ist. -

Die Errichtung und Einweihung eines Stürmerkastens in Bad Oeynhausen, die unter Beteiligung der NSDAP , SA und SS vor sich gehen sollte, mußte mit Rücksicht auf die vielen ausländischen Kurgäste abgebogen werden. Anschriften vor Häusern und in den Eingängen der Ortschaften mit beleidigendem Inhalt für Juden, welche den Zuzug abwehren sollen, sind verboten, und es wird in Kürze für die mit der Ausführung des Verbotes beauftragten Verwaltungsbehörden schwierig sein derartige Schilder zu entfernen, ohne sich Pg ., SA, SS und Bevölkerung zu Feinden zu machen.

Die Bestimmung, daß Nicht-Arier zum Wehrdienst zugelassen werden, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, erweckte in Judenkreisen gewisse Hoffnung, die noch dadurch bekräftigt wurde, daß auch Juden zur Musterung herangezogen werden.

 

SA, SS (…)

An Vorgängen gegen Juden im Bereich ist die SA und SS nicht beteiligt gewesen. Sie waren sehr zurückhaltend in dieser Hinsicht, wobei die Erfahrungen mit den Aktionen gegen die Juden vom Dezember vor[igen] J[ahres] in Gütersloh, Herford und Bielefeld eine bestimmte Rolle gespielt haben. In Hinsicht auf die Juden-Aktion hat man sich in der SA der Hoffnung hingegeben, mit zu den einzelnen Aktionen herangezogen zu werden. Man ist aber enttäuscht worden, insbesondere bei den Vorgängen in Berlin. Es wurde nicht die SA mit der Aufstellung einer Hilfs-Polizei beauftragt, sondern die PO wurde mit hinzugezogen.

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