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Chronik und Quellen
1935
Juni 1935

Die Gestapo berichtet

Die Gestapo des Regierungsbezirks Stettin berichtet am 4. Juli 1935 über den Monat Juni 1935:

Der jüdische Händler Max Michaelis, geb. am 23.4.1881 zu Gartz (Oder), wohnhaft Stettin, wurde am 1.6.35 in Schutzhaft genommen, weil er auf einem Stettiner Markt in der Öffentlichkeit das Gerücht verbreitete, die Zwiebeln würden alle von dem Staat aufgekauft, es würden damit Granaten geputzt und es gäbe bald wieder Krieg.

Da Michaelis wiederholt kriminell in Erscheinung getreten ist, wurde er nach Abschluß der Ermittlungen dem zuständigen Amtsgericht in Stettin zwecks Erlaß eines Haftbefehls vorgeführt. Am 13.6.1935 wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen. (…)

Besonderes (…)

Die Kursaison in den Bädern ist gegenüber dem Vormonat in Anbetracht der guten Witterungsverhältnisse als besonders gut zu bezeichnen. Wie alljährlich, so wird auch in diesem Jahr die Judenfrage zur lebhaften Diskussion gestellt. In fast sämtlichen Bädern wird das nationalsozialistische Kampfblatt ''Der Stürmer '' in Kästen ausgehängt und unter die Kurgäste verteilt. Diese Propaganda wird von der Bevölkerung lebhaft begrüßt. Der Landrat des Kr. Rügen berichtet, daß auf der Insel Rügen nur 3 Juden ständig ansässig sind, jedoch eine Anzahl von Gaststätten und Pensionen in den Bädern, vor allem die Kurhäuser in Binz und Sellin, in jüdischen Händen sind. Insbesondere ist das Kurhaus in Binz Gegenstand lebhafter Erörterungen, da der Hauptbeteiligte an der Kurhaus-Betriebs-GmbH ein ungarischer Jude ist, der einerseits seinen Steuerverpflichtungen nicht nachkommt und andererseits durch sein Geschäftsgebaren zahlreiche kleine Geschäftsleute geschädigt hat. Der Landrat hat seine Ausweisung aus Deutschland beantragt. - Die rügensche Bevölkerung übt seit Jahren einen stillen Boykott gegen das Kurhaus in Binz aus. Es ist deshalb in der Bevölkerung lebhaft erörtert worden, daß zu Pfingsten Gauleiter und Reichsstatthalter Loeper dort Wohnung nahm. Es bedurfte erst sehr energischer Hinweise auf den Umstand, daß die Verhältnisse einem Außenstehenden natürlich nicht bekannt sein können, zumal sich die Kurhäuser meist in Gemeindebesitz befinden. Immerhin dürfte es zweckmäßig sein, in geeigneter Form bei der Reichsleitung der NSDAP darauf hinzuweisen, daß sich diejenigen Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben von Staat und Bewegung an hervorragender Stelle stehen, auch bei kurzem Aufenthalt der Vermittlung der Kurdirektionen, die wohl überall nationalsozialistisch geleitet werden, bedienen.

An dem deutsch-schwedischen Ausflugsverkehr beteiligten sich im Monat Juni 998 deutsche und 158 schwedische Ausflügler. An den Fahrten der Bornholmer Schiffahrtsgesellschaft beteiligten sich im Monat Juni insgesamt 82 Personen, davon reisten nur 3 Personen ein und 79 aus, darunter viele Juden. Der Dampfer ''Bornholm'' der Bornholmer Schiffahrtsgesellschaft hat jedoch im Monat Juni erst 2 Fahrten ausgeführt. (…)

 

Juden und Freimaurer

Die Versammlungstätigkeit der Juden hat im Berichtsmonat erheblich nachgelassen. Im Monat Juni haben nur 7 Versammlungen stattgefunden. Hierunter sind alleine 5 vom Israelitischen Frauenverein . Von dem Verein ''Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens'' sind keine Versammlungen einberufen worden.

Am 23.6.35 um 11.30 Uhr und um 13.30 Uhr veranstaltete die jüdische Zionistische Vereinigung Stettin eine Versammlung, in der der Film ''Palästina, das Land der Verheißung '' gezeigt wurde. Vor Beginn der Filmvorführung richtete Dr. Hirschfeld aus Berlin, der den Film zusammengestellt hat, an die Teilnehmer kurze Worte, in denen er die Anwesenden aufforderte, die Zionistische Bewegung zu unterstützen und Geld für den weiteren Ausbau Palästinas zur Verfügung zu stellen. Die Ansprache und die Filmvorführungen wurden mit großem Beifall aufgenommen. 1.000 Personen haben an dieser Filmvorführung teilgenommen. Zu Ausschreitungen ist es nicht gekommen.

Im allgemeinen wird jedoch über das Auftreten der Juden in der gesamten Provinz geklagt. Überall hört man in der Bevölkerung, daß gegen die Juden nicht scharf genug vorgegangen wird und diese ihre wirtschaftliche Lage im letzten Jahr wieder verbessern konnten. Die meisten jüdischen Geschäfte haben in Stadt und Land wieder einen größeren Umsatz zu verzeichnen. Man kann immer wieder beobachten, daß es noch einen großen Prozentsatz von Volksgenossen gibt, die beim Juden ihre Einkäufe tätigen. Selbst Beamte in Uniform und Parteigenossen mit Abzeichen suchen jüdische Geschäfte auf, um dort zu kaufen. Gerade die Landbevölkerung ist es, die fast ausschließlich jüdische Geschäfte aufsucht und dabei erklärt, daß es beim Juden eben billiger sei und man eine größere Auswahl habe. Im Kr. Ückermünde ist beobachtet worden, daß von Seiten der Landbevölkerung ein gesteigertes Aufsuchen der jüdischen Geschäfte zu verzeichnen ist. Der Landrat berichtet, daß Vorsorge getroffen ist, durch eine zielbewußte Aufklärung zu erreichen, daß der Einkauf in jüdischen Geschäften völlig eingeschränkt wird.

In Wolgast, Kr. Greifswald, war die Empörung der Bevölkerung gegen die Juden derartig stark, daß man sich dazu hinreißen ließ, die in jüdischen Geschäften kaufenden Personen vom Kauf abzuhalten, zu fotografieren und den jüdischen Geschäftsleuten Plakate an die Schaufenster zu kleben. Da sich unter den jüdischen Kaufleuten dortselbst auch ein polnischer Staatsangehöriger befand, ist das Polnische Konsulat auf eine Beschwerde dieses jüdischen Geschäftsmannes beim Landrat vorstellig geworden und hat um vorbeugende Maßnahmen zum Schutze des polnischen Staatsangehörigen gebeten.

Wie weit die Dreistigkeit der Juden zunimmt, geht daraus hervor, daß in Labes der jüdische Kaufmann Kronheim seine Buchhalterin Johanna Hübner beauftragte, den Ortsgruppenleiter der NSDAP zu fragen, auf wessen Anordnung die Anbringung eines Schildes : ''Deutsche, kauft nicht bei Juden'' am Kaiserhof und auf dem Rathaushof geschehen sei. Dies sprach sich unter der Bevölkerung schnell herum, und eine etwa tausendköpfige Menge veranstaltete eine Demonstration vor dem Hause des Juden Kronheim. Die Jüdin Hertha Meyer, die sich z.Zt. in der Wohnung des K. aufhält, soll vom Fenster aus gesprochen haben, wodurch eine Unruhe in der Bevölkerung entstand. Frau Meyer wurde zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen, jedoch am nächsten Tage wieder entlassen und ihr aufgegeben, bis zum 15.7.35 nach Labes nicht zurückzukehren.

In Stettin verlangte der Jude Michelson die Entfernung eines Schildes mit der Aufschrift: ''Deutsche, kauft nicht in jüdischen Geschäften'', das an einem Privathaus angebracht war.

Der Jude Blochert, Stettin, verlangte die Auflösung eines Zuges der HJ , der durch Zettelverteilung an die Bevölkerung zum Nichteinkauf in jüdischen Geschäften aufforderte.

Um die Volksgenossen von einem Kauf in jüdischen Geschäften abzuhalten, ist es notwendig, eine geschickte Propaganda und Aufklärungsarbeit von Seiten der NSDAP in die Wege zu leiten. Hier dürfte die Kleinarbeit, die Propaganda von Mund zu Mund, von ausschlaggebender Bedeutung sein. Eine Propaganda, wie sie von manchen NS-Dienststellen unternommen wird, indem man 12-14 jährige Kinder Schilder, die die Aufschrift tragen: ''Deutsche, kauft nicht bei Juden'' usw. durch die Straßen tragen läßt, ist grundfalsch und wird von der Bevölkerung sowie von Seiten der Parteigenossen abgelehnt.

In Stargard beabsichtigte der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten e.V., Ortsgruppe Stettin, am 20.6.35 eine Versammlung zu veranstalten, in der als Redner Dr. Appelbaum, Stettin, auftreten sollte. Diese Versammlung wurde von dem Landrat auf Grund des § 1 der VO des Herrn Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.33 verboten.

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