Bericht aus Stettin
Der Regierungspräsident in Stettin erstattet am 10. Mai 1935 folgenden Lagebericht für den Monat April 1935:
Eine wesentliche Rolle spielt weiterhin die Judenfrage . Wie bereits im letzten Lagebericht mitgeteilt wurde, besteht seit längerer Zeit eine energische Propagandaaktion der NSDAP gegen die jüdische Gefahr. Sie hat wohl zu wiederholten öffentlichen Demonstrationen der Bevölkerung geführt. Immer häufiger kamen in der Berichtszeit Nachrichten darüber, daß Schaufenster jüdischer Geschäfte und Häuser und Bürgersteige beklebt und bemalt, manchmal sogar Schaufenster eingeworfen wurden. Erst in neuester Zeit wurden 28 Fenster einer Synagoge in Pyritz zertrümmert. Um Gewalttätigkeiten gegen Juden selbst zu vermeiden, hat sich der Polizeipräsident in Stettin mit der Kreisleitung der NSDAP mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die unvermeidlichen Rechtsfolgen in Verbindung gesetzt.
Wenn ich in dem letzten Lagebericht erörtert habe, daß die Bevölkerung durch die dauernde Propaganda wenigstens teilweise zurückgehalten wird, bei jüdischen Kaufleuten zu kaufen, so sind häufig nur äußere Gründe wie Ausschluß aus der Partei oder öffentliche Brandmarkung ausschlaggebend hierfür. Im Grunde genommen kann eine wesentliche wirtschaftliche Schädigung der jüdischen Geschäfte nicht festgestellt werden. Die großen Geschäfte werden besonders von der ärmeren und der Landbevölkerung wegen ihrer billigen Waren stark in Anspruch genommen. Allerdings tragen hieran oft einen großen Teil Schuld die deutschen Kaufleute selbst, wie man allenthalben hören kann. Einen Anlaß, die lange zerrissenen Geschäftsbeziehungen zwischen deutschen Landwirten und Bauern mit jüdischen Getreidehändlern wieder anzuknüpfen, gab die bedauerliche Stockung des Getreideabsatzes in der Berichtszeit. Da die Lager der Genossenschaften und deutschen Getreidehändler überfüllt waren, diese dem Bauern kein Getreide mehr abkaufen konnten, wurde an die jüdischen Getreidehändler verkauft, die mit Freude die Gelegenheit wahrnahmen, mit der Landwirtschaft wieder Verbindung aufzunehmen. Die lange Aufklärungsarbeit der Partei wird durch derartige Vorkommnisse schnell zunichte gemacht.