Die Gestapo berichtet
Die Gestapo für den Regierungsbezirk Kassel berichtet am 4. Mai 1935 für April 1935:
Im hiesigen Staatspolizeistellenbezirk sind, wie schon mehrfach berichtet, Juden in großer Zahl ansässig. Diese kämpfen jetzt ganz offen mit allen Mitteln, nicht nur, um ihre Stellung zu behaupten, sondern um ihre frühere wiederzugewinnen. Sie verstehen es, das leider immer noch geltende römische Recht vor den paragraphenmäßig eingestellten Richtern zu ihren Gunsten auszulegen und durchzudrücken. Die Bevölkerung geht gegen das anmaßende Verhalten der Juden sehr unüberlegt vor und läßt sich dabei zu Ausschreitungen und Gesetzwidrigkeiten hinreißen. Sofort treten jüdische Rechtsanwälte auf, um die im Übereifer handelnden Nationalsozialisten in das Gefängnis zu bringen (Aufruhr, Aufreizung usw.). In mehreren Fällen ist ihnen dies bereits gelungen. Der Erfolg ist, daß die Bevölkerung mehr und mehr das Vertrauen zu den Richtern verliert und eine unbeschreibliche Wut auf die Staatsanwälte hat, deren Verhalten allerdings auch häufig dem Volksempfinden erstaunlich fremd ist.
So standen z.B. vor kurzem eine Anzahl Nationalsozialisten wegen Ausschreitungen gegenüber einem Juden in Gudensberg, Kreis Fritzlar, vor dem hiesigen Schöffengericht. Die Ausschreitungen waren durch das unverschämte Verhalten eines Juden einer BDM Angehörigen gegenüber herausgefordert worden. In diesem Verfahren verstand es der jüdische Rechtsanwalt , nicht nur sämtliche Beteiligten, sondern auch die von der Gegenseite angeführten Entlastungszeugen unter Anklage zu stellen. Bedauerlicherweise fiel der Staatsanwalt darauf herein; es wurden nur die Juden und unwesentliche Zeugen vereidigt. Obwohl der Richter alles für die Angeklagten tat, mußten doch wegen des scharfen Verhaltens des Staatsanwalts (und allerdings auch wegen Versagens der Verteidigung) die Nationalsozialisten erheblich bestraft werden; sogar das beleidigte Mädchen wurde wegen Aufreizung bestraft. Es bedurfte wiederholt der Beschwichtigung der Staatspolizeistelle, um Ausschreitungen gegen Richter und Staatsanwalt zu verhindern.
In Borken, Kreis Melsungen, ist ebenfalls gegen mehrere SA , SS Männer und aktivistische Parteigenossen Anklage wegen Landfriedensbruch und Aufreizung erhoben worden, weil diese einen Juden verprügelten, der durch den Verkauf von unsauberem Fleisch zahlreiche Personen in Kassel und Umgebung so schwer vergiftet hatte, daß sie ins Krankenhaus überführt werden mußten. (Todesfälle sind nicht eingetreten).
Ferner wurde ein SS Mann in dieser Sache, der z. Zt. eine 8 wöchige freiwillige Übung bei der Reichswehr macht, ganz unverständlicherweise zum 2. Mai vor das Kriegsgericht geladen und der Rädelsführung im Zusammenhang mit Landfriedensbruch angeklagt. Die Ausschreitungen gegen Juden lagen vor dem Zeitpunkt seines Eintritts in die Reichswehr, und am 5. Mai also 3 Tage vor [sic] dem Gerichtstermin ist seine freiwillige Dienstleistung bei der Reichswehr beendet. Trotz aller Bemühungen der Staatspolizeistelle ist es nicht gelungen, das Verfahren wieder an das Zivilgericht zurückzuweisen.
Die Parteigenossen beabsichtigen nunmehr, in allen politischen Sachen vor der Polizei und auch besonders vor Gericht jegliche Aussage zu verweigern unter Berufung auf die Parteidisziplin. So haben z. B. Angehörige der HJ in Rotenburg a/Fulda gelegentlich der polizeilichen Vernehmung in einem gerichtlichen Strafverfahren erklärt, daß sie Anweisung vom Jungbannführer bekommen hätten, vor der Polizei keine Aussagen zu machen.
Alles in allem muß gesagt werden, daß das Ansehen der Gerichte im nationalsozialistischen Staat wieder auf das Niveau vor der Machtergreifung herabsinkt, und zwar zum Teil in den Augen der Bevölkerung mit Recht.
Judentum
Die Tätigkeit der jüdischen Vereine und Verbände war Ende 1934/Anfang 1935 auf einem gewissen Höhepunkt angelangt. Die sogenannten Deutsch Juden wetteiferten mit den Zionisten in Abhaltung von Versammlungen und in der Werbung neuer Mitglieder.
Die erhöhte Tätigkeit der jüdischen Vereine ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, daß der durch die nationale Erhebung auf den Juden lastende Druck nicht mehr so fühlbar ist wie im Jahre 1933 und sie sich jetzt in Deutschland wieder ganz wohl fühlen.
Die Werbung der Zionisten geht jetzt im allgemeinen wieder zurück. Der Gegensatz zu den Assimilanten , die hier 85% des Judentums erfassen, tritt immer offener zu Tage. Obwohl seitens der Staatspolizeistelle alles nur eben Tragbare für die Zionisten getan wird, ist nicht anzunehmen, daß sie sich in erfolgversprechender Weise den Assimilanten gegenüber durchsetzen, solange die gesamte Judenschaft unter dem Schutz der deutschen Gesetze den Deutschstämmigen gegenüber gleichberechtigt ist. Aber auch die Versammlungstätigkeit der Assimilanten ist zurückgegangen. Während früher mindestens 2 Versammlungen in der Woche abgehalten wurden, werden jetzt höchstens noch 2 Versammlungen im Monat abgehalten.
Die Gemeinschaftslager der jüdischen Jugend des Verbandes Hechaluz sind noch belegt. Im hiesigen Staatspolizeistellenbezirk befinden sich zwei Lager, in denen Personen beiderlei Geschlechts für die Auswanderung geschult werden. In diesem ersten Vierteljahr sind bis jetzt 10 Personen nach Palästina ausgewandert.
Die wirtschaftliche Lage der jüdischen Geschäfte im Bezirk muß im allgemeinen als gut bezeichnet werden. Auch die jüdischen Viehhändler haben ihre alte Monopolstellung fast wieder erreicht. Lediglich der ambulante Handel der jüdischen Hausierer ist sehr stark zurückgegangen und vermag sich offenbar nicht wieder zu erholen.
Durch die Verleihung der Ehrenkreuze an jüdische Frontkämpfer fühlen die Assimilanten sich ebenbürtig mit den arischen Staatsbürgern. Umso größer ist jetzt ihre Bestürzung über das Flaggenverbot. Bedauerlicherweise ist die Lockerung durch den Erlaß vom 29.4.1935 II 1 B 2.61250/#.#95/35 für die Juden wieder ein gewisser Erfolg, der ihnen durch die Dummheit der Arbeitsfront bzw. ihrer Mitglieder erkämpft wurde.