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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Berlin und Sachsenhausen

Nach dem 21. Dezember 1938 verfasste ein Berliner Apotheker folgenden Bericht über seine Haft im KZ Sachsenhausen, Misshandlungen und Todesfälle im Lager, die Betreuung der entlassenen KZ-Häftlinge und die Zerstörungen und Plünderungen in den Berliner Geschäften:

Am 10. November abends 8 Uhr wurde ich von zwei Kriminalbeamten in Zivil zu „einer Vernehmung beim Kommissar vom Dienst“ abgeholt. Ich wurde zuerst zum Polizeirevier gebracht. Während ich dort wartete, kamen allmählich noch mehr Verhaftete. Wir wurden in Taxis zum Alex gebracht. Dort hieß es, der Kommissar sei schon weg. Wir wurden für die Nacht im Polizeigefängnis in einem großen Raum, in dem sich Pritschen zum Schlafen befanden, mit ungefähr 250 Mann untergebracht. Am nächsten Morgen bekamen wir Kaffee und ein Stück Brot. Wir wurden sodann auf den Hof geführt, in Reihen aufgestellt und gefragt, ob Leute über 60 Jahren unter uns wären. Diese wurden entlassen. Wer einen Pass oder gültige Schiffspapiere hatte, wurde ebenfalls entlassen.

Die Zurückbleibenden wurden auf drei großen Lastautos mit Bänken unter Bedeckung von zwei Schupos nach Oranienburg-Sachsenhausen gebracht. Als wir aus dem Tor des Präsidiums herausfuhren, standen ca. 100 halbwüchsige Bengels da, die laut „Juda verrecke“ schrien.

Bei der Ankunft im Lager standen SS-Leute zum Empfang bereit; wir mussten von den Wagen springen, dabei fielen mehrere hin und wurden von den SS-Leuten getreten. Dazu wurde gebrüllt: „Wollt ihr mal laufen, ihr Judenschweine!“ Die Hüte mussten abgenommen werden. Wir mussten dann auf dem Appellplatz antreten und, ohne uns zu rühren, von 2 Uhr mittags bis 8 Uhr abends stehen, ohne etwas zu essen zu erhalten.

Dabei hielt der Lagerführer eine Ansprache: „Ihr wisst wahrscheinlich, warum ihr hier seid. Ihr seid politische Schädlinge des Dritten Reiches und Feinde der nationalsozialistischen Regierung. Ihr wisst nicht, wie ihr euch im Sinne des neuen Dritten Reiches zu benehmen habt, das wird euch hier beigebracht werden. Ihr werdet fünf Jahre hierbleiben, und solltet ihr euch nicht anständig benehmen in der Zeit, könnte die Zeit auf 20 Jahre ausgedehnt werden.“ Einer der Lagerältesten kam nachher und flüsterte uns zu: „Glaubt doch nicht, was der Strolch sagt, ihr bleibt keine fünf Jahre hier, ihr seid alle zu Weihnachten wieder zu Hause.“

Wir wurden dann zu einer Baracke geführt, wo wir uns aus-ziehen mussten, baden, die Haare geschoren wurden und [wir] in alten vertragenen Militärsachen eingekleidet wurden. Die Dicken unter uns bekamen Sträflingsanzüge. Sodann wurden wir in die Baracken verteilt. In jeder Baracke wurden 350 Mann untergebracht, d. h. in jedem Flügel 175 Mann, jeder bekam Stroh und eine Decke, im Ganzen war alles ganz ordentlich und sauber. Auch Waschräume und Toiletten waren vorhanden. Trotzdem herrschte eine unglaubliche Enge, und der Staub von dem Stroh störte einen sehr.

Die ersten drei Tage mussten wir nicht arbeiten. Wir durften im Lager umhergehen und uns unterhalten. Am Montag wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Die Leute über 45 Jahre mussten eine Dreiviertelstunde weit weg in einem so genannten Klinkerwerk arbeiten. Dort haben ca. 1500-2000 Juden gearbeitet. Bis zum Montag hatten noch dauernd neue Verhaftungen stattgefunden, dann hörte der Zustrom auf.

Die jüngeren Männer wurden derart beschäftigt, dass ihnen in einen aufgehaltenen Zipfel von ihrem Rock Sand hineingeschaufelt wurde, mit dem sie im Kreise herumlaufen mussten, um ihn an einer anderen Stelle wieder auszuschütten. Mit dem Sand konnte man im Schritt gehen, zurück musste man laufen. Dies wurde von ½ 8 Uhr früh bis mittags um 3 Uhr geübt mit einer halben Stunde Pause, in der man sich nicht setzen durfte.

Morgens hatte es Milchsuppe mit Haferflocken gegeben, zur Arbeit bekamen wir ein Drittel Brot mit und entweder ein Stück Sülze, Fischwurst oder Harzer Käse. Da man kein Papier hatte, um die Dinge einzuwickeln, musste man sie so lose in die Tasche stecken. Während der Arbeit war das Essen verboten, es durfte nur in der Pause gegessen werden. Die Aufsicht hatte die SS-Verfügungstruppe.

Nach der Rückkehr um ½ 5 Uhr war Appell auf dem Kasernenhof, dann konnten wir in die Baracken gehen zum Essen. Das warme Essen bestand aus Suppen mit Kartoffeln und Sauerkraut oder Weißkohl. Es gab auch öfter Fischsuppe mit Walfischfleisch darin in mikroskopischen Mengen. Am Sonntag gab es eine Hülsenfruchtsuppe. Fleisch war so gut wie gar nicht in dem Essen, sodass man immer hungrig war, weil bei der Arbeit im Freien [nicht] die Menge und noch weniger die Qualität des Essens ausreichte. Am Sonntag wurde auch gearbeitet. Die Organisation war gut, das Essen kam immer pünktlich. Das Schlimmste in den ersten acht Tagen war der Rückmarsch von der Arbeit, da wurden die Menschen furchtbar geschlagen von den 17- und 18-jährigen SS-Leuten, die die Aufsicht hatten. Besonders auf die Dicken und Schwerfälligen hatte man es abgesehen. In meiner Baracke war ein Mann, der acht Tage lang liegen musste, so war er mit einem Gewehrkolben in den Rücken geschlagen worden.

Ein Herr Levy von der jüdischen Winterhilfe, der ca. zweieinhalb Zentner wog, wurde furchtbar schikaniert. Eines Abends kam der Blockführer und brüllte in die Baracke: „Wo ist der dicke Rechtsanwalt?“ Er musste herauskommen und ca. 25 Kniebeugen machen. Halb ohnmächtig kam er zurück. Dann wurde von ihm verlangt, er solle auf den Deckenbalken in der Baracke kriechen.

Einer, der entlassen werden sollte, wurde gefragt, ob ihm etwas fehle. Er antwortete: „Ein goldener Ring.“ Er musste sich auf der Erde im Staube herumwälzen. Als er bei der wiederholten Frage die gleiche Antwort gab, musste er sich wieder sielen, und dies so lange, bis er zur Antwort gab, ihm fehle nichts.

Bei der Entlassung mussten alle Taschen der Zivilanzüge nach außen gekehrt werden, die von den SS-Leuten untersucht wurden. Ein Mann hatte vergessen, die Hosentasche herauszukehren, er wurde deshalb heftig geohrfeigt. - Die Zivilanzüge waren uns weggenommen und in die Reinigung gebracht worden, d. h., man hatte sie gekocht und nass zusammengewickelt und uns so zurückgebracht. Selbstverständlich waren die Sachen dadurch vollkommen unbrauchbar geworden. Die Reinigungsanstalten nahmen später die Sachen nicht mehr an, da sie nichts mit ihnen anfangen konnten und man sie einfach wegwerfen musste. Ich hatte zu meinem Pech einen ganz neuen Anzug und neuen Wintermantel angezogen, die ich mir bereits für meine Auswanderung angeschafft hatte. Ich musste beides wegwerfen.

Eine ärztliche Versorgung war so gut wie gar nicht vorhanden. Für 3500 Menschen waren zwei Ärzte da. Hatte man sich bei der Arbeit verletzt, so behandelten einen die Sanitäter in der Baracke, und zwar sehr gut. Es waren meist frühere Kommunisten, die schon jahrelang im Lager waren. Leute mit inneren Krankheiten aber waren verloren, sie hatten keine Behandlung. Es gab viele Fälle von Magenbluten.

Mit kleinen Bestechungen konnte man sich eine leichtere Arbeit verschaffen, z. B. an der Betonmischmaschine oder beim Barackenbau, beim Dachdecken etc. Hier führten ältere Gefangene, meist Kommunisten, die Aufsicht, die sich unserer sehr annahmen. Für 25 Pfg. schon oder ein paar Zigaretten, die man in der Kantine kaufen konnte, waren sie sehr gefällig.

In der Kantine gab es alles zu kaufen, was man wollte, doch hatten wir meist kein Geld dazu, denn das, was uns geschickt worden war, wurde uns nur in großen Abständen und in geringen Summen ausgezahlt. Bei der Entlassung bekamen wir aber alles zurück, was man uns abgenommen oder für uns in Empfang genommen hatte.

Bestrafungen wurden verfügt wegen angeblicher Nachlässigkeit bei der Arbeit oder unbefugten Sprechens mit arischen Berufsarbeitern, die dort angestellt waren. Der Betreffende wurde abends beim Appell aufgerufen und musste dann drei Stunden lang mit bloßem Kopf bei der Wachtstube am Eingangstor unbeweglich stehen und bekam selbstverständlich kein Abendessen.

Ein Zahnarzt Albu, der beim Dachdecken beschäftigt war, hatte das Sprechverbot übertreten und hatte wohl einem Arbeiter ein paar Zigaretten zugesteckt, während nur erlaubt war, das, was zur Arbeit gehörte, zu sagen. Er musste drei Abende hintereinander drei Stunden stehen und war am letzten Tage halbtot.

Todesfälle kamen in meiner Baracke zwei vor. Ein alter Mann von über 70 Jahren aus Schönlanke starb vermutlich an Entkräftung oder an einer chronischen Krankheit. Ein Herr Born aus Berlin, Brandenburgische Straße, wurde zu Tode misshandelt, und zwar bei folgender Gelegenheit. Alle wurden gefragt, was sie von Beruf seien. Je einfacher der Beruf war, den man angab, desto besser war es. Jeder Akademiker wurde mit „intellektuelles Schwein“ tituliert. Ich gab darum auch anstatt Apotheker meinen Beruf als Drogist an. Herr Born antwortete auf die Frage, warum, weiß ich noch heute nicht, „Millionär“. Er wurde daraufhin furchtbar geschlagen und in den Bauch getreten. Er war ein ziemlich dicker Mann von ungefähr 40 Jahren. Auch bei der Arbeit wurde er sehr schikaniert. Er wurde von alldem krank und kam ins Lazarett, aus dem man ihn aber wieder herauswarf. Man begoss ihn mit Wasser, und so nass, wie er war, musste er vor der Wache am Tor stehen. Dabei ist er buchstäblich erfroren.

Es war auch eine Gruppe von 50 Kindern, anscheinend eine Hachscharah-Gruppe aus Westfalen, im Lager. Diese wurden aber ganz gut behandelt, sie hatten eine eigene Baracke, und man ließ sie spielen und beschäftigte sie mit Schreibarbeiten.

Bei der Entlassung hielt der Lagerführer die übliche Ansprache. Wir dürften nichts erzählen. „Unser Arm reicht bis nach Nordamerika. Und der Weg zurück ins Lager ist sehr kurz.“ Schlimmer als für uns selbst war die Lage für die Frauen und Mütter, die über acht Tage nicht wussten, wo wir uns befanden, und keiner Nachricht, dass es uns ganz gut ginge, Glauben schenkten.

Ganz besonders hervorgehoben muss die Tätigkeit der jüdischen Gemeinde für die Entlassenen werden. Bereits in Oranienburg waren zwei ihrer Herren da, die sich unserer annah-men und dafür sorgten, dass wir mit Fahrkarten versehen wurden. Ebenso wurden wir am Stettiner Bahnhof in Empfang genommen und jeder gefragt, wo er hinmüsse und ob er Hilfe nötig habe. Die Hamburger wurden nach der Rosenstraße gebracht, dort verpflegt und dann zum Lehrter Bahnhof an den Zug gebracht, wobei wieder die, die kein Geld hatten, mit Fahrkarten versorgt wurden.

Die Zerstörungen in den Berliner Geschäften waren zumeist gründlich und restlos ausgeführt worden. Nicht einmal die heruntergelassenen Rolljalousien hinderten die Zerstörer. So war man in das bekannte Uhren- und Juwelengeschäft von Brandmann mit einem Trecker hineingefahren.

In einem Zigarrengeschäft wurden zehn Körbe voll zertretener Zigarren zusammengefegt. Außerdem wurden der eiserne Ofen und die Ladenkasse zerschlagen.

In einem großen Kolonialwaren- und Lebensmittelgeschäft war nicht eine Flasche, nicht ein Glas heil geblieben. Nichts war mehr brauchbar, die Lebensmittel ausgeschüttet und zertrampelt.

Die Juden mussten die Scherben selbst beseitigen, es durfte ihnen kein Arier dabei behilflich sein. Die Polizei kontrollierte das. Die Polizei fragte auch nach, ob von den Waren etwas fehle. Man gab natürlich an, dass nichts weggekommen sei. Immerhin wurden in Sachsenhausen rund 60 Plünderer eingeliefert, die beim Stehlen der Waren betroffen waren. Die Juden mussten die Reparatur der Schaufensterscheiben selbst bezahlen. Die Versicherungen durften ihnen nichts auszahlen, die Versicherungssummen wurden vom Staat beschlagnahmt. Die jüdische Gemeinde hat aber durch eine Sammlung bei einigen reichen Gemeindemitgliedern es ermöglicht, allen Ladenbesitzern ihren vollen Schaden zu vergüten.

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