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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Sachsenhausen

Am 26. November 1938 berichtet der 30-jährige Kurt Juster aus Hamburg - jetzt Hotel „De Landbouw“ in Hoofddorp - über seine zehntägige Haft im KZ Sachsenhausen:

In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, den 10. November 1938, erfolgte meine Verhaftung - im Gegensatz zu vielen meiner Bekannten war ich von der bevorstehenden Verhaftung nicht benachrichtigt. Meine Wohnung ist unbeschädigt geblieben.

Wir kamen zunächst in das Zuchthaus Fuhlsbüttel in einen dunklen Raum in einer Anzahl, die das Fassungsvermögen etwa um das Fünffache überstieg, verblieben dort ohne Nahrung den ganzen Tag und wurden dann im offenen Waggon in einer Nachtfahrt nach Sachsenhausen befördert, wo wir nachts um 2 Uhr ankamen. Unterwegs erlebte ein Bremer junger, 17-jähriger Mann einen Nervenzusammenbruch, weil er mit hatte ansehen müssen, wie SS-Leute seine Mutter, die aus Schmerz über seine Fortführung schrie, erschossen und dann liegen gelassen wurde. Bei unserer Ankunft in Sachsenhausen empfing uns eine große Anzahl SS-Leute und begann sofort mit derartigen Misshandlungen durch Treten und Schlagen mit Gewehrkolben und Knüppeln, dass die uns begleitende Schupo fassungslos dabeistand und beschleunigt sich entfernte und zurückfuhr. Wir mussten dann in Fünferreihen marschieren, d. h. laufen - die körperliche Anstrengung und das unausgesetzte Schlagen und Stoßen durch die SS war derart, dass zwei von unserer Gruppe auf dem 15 Minuten langen Marsche tot liegen blieben.

Dann begann das Furchtbarste, was in der Wirkung vor allem auf mich alle körperlichen Misshandlungen als gering erscheinen ließ - wir mussten 19 Stunden lang im Lager stehen (bei Einzelnen dehnte sich diese Zeit bis zu 25 Stunden aus) und während dieser Zeit, falls einer oder der andere zusammenbrach, Fußtritte und Schläge mit Gewehrkolben in Empfang nehmen. Als Erstes ertönte dann der Ruf nach dem Rabbiner, der am Bart gezerrt und misshandelt wurde - ihm wurde dann ein Schild in die Hand gegeben mit der Aufschrift: „Ich bin ein Landesverräter und mitschuldig am Tode vom Raths“. Dieses Schild musste er mit gestrecktem Arm 12 Stunden umhertragen. Die SS-Leute, von denen kaum einer über 21 Jahre alt war, hatten es vor allem auf alte, dicke, jüdisch aussehende und sozial höherstehende Juden, z.B. Rabbiner, Lehrer, Anwälte, abgesehen, während sie sportlich aussehende jüngere Juden milder behandelten. Ich bin den Eindruck nicht losgeworden, dass ein homosexueller Unterton das Vorgehen der SS-Leute beeinflusst.

Wir wurden nun am Bart und Kopfhaaren geschoren und mussten wieder sechs Stunden ohne Essen, Trinken und Kopfbedeckung im Freien im Regen stehen - wir waren mithin zwei Tage und Nächte ohne Schlaf und Essen und mussten die längste Zeit stehen. Das erste Wasser, das wir dann zu uns nehmen konnten, war so stark eisenhaltig, dass wir es als gesundheitsschädlich kaum bei uns behalten konnten.

Im Lager Sachsenhausen waren ca. 18000 Gefangene, davon 6000 aus Hamburg. Die meisten erzählten, dass ihre Wohnungen völlig vernichtet waren und sie die Nächte an den verschiedensten Stellen verbracht hätten, bis sie dann schließlich doch gefasst wären.

So wurde ein früherer höherer juristischer Beamter, der sich mit seinem Titel meldete, besonders scharf angefasst und mit ihm der Inhaber eines großen Restaurationsbetriebes. Jede Tätigkeit im Lager musste sich im Laufschritt abspielen, sowohl der Weg zur wie von der Arbeit, wie auch, soweit möglich, bei der Arbeit. Lief jemand nicht, so schrien die SS-Leute: „Immer laufen, Pinkel, lauf, dickes Judenschwein.“ Erschöpften und Misshandelten durfte nicht geholfen werden, „das Schwein musste liegen bleiben“. Ins Revier kam man nicht; selbst wenn jemand hinkam, kümmerte sich niemals der Arzt um ihn, sondern nur die Sanitäter, die äußerst geschickt und hilfsbereit uns zur Seite standen. Leise konnte man sprechen, es galt aber als ein allgemeines Gebot, dass, wer sich unterhielt, erschossen werden konnte.

Die Arbeit, zu der man im Laufschritt geführt wurde, vollzog sich in den Klinker-(Hermann-Göring)-Werken und bestand in Schleppen von Sand und Zementsäcken. Zum Sandtragen mussten wir Gefangenen die Jacken ausziehen und so anzie-hen, dass der Rückenteil nach vorn war, dann wurde die Jacke hochgenommen und rücksichtslos Sand eingeschaufelt, den wir dann mit gestreckten Armen im Laufschritt etwa fünf Minuten weit schleppen [und] in die Lore abwerfen mussten. Dann ging es wieder im Laufschritt zurück. Zementsäcke von einem Zentner wurden unterschiedslos 60- und 65-jährigen Leuten auf den Nacken geworfen, sie mussten diese Last dann denselben Weg in strammem Schritt schleppen, niederwerfen und zurücklaufen. Zuweilen wurde der Sand auf so genannten Tragbahren geschleppt, das war noch furchtbarer, da das Holz derart in die Hände einschnitt, dass bei meinen Händen das Fleisch bis auf die Knochen durchschnitten wurde. Ich kam dann auch schließlich, nachdem ich fünf bis sechs Tage Dienst getan hatte, ins Revier, wo meine Hände und Füße von den erwähnten Sanitätern ordentlich behandelt wurden.

Hervorheben will ich noch, dass die SS-Leute uns selbstverständlich unterschiedslos mit „Du“ anredeten und dass besonderes Entsetzen unter uns herrschte, wenn bekannt war, dass die Wiener SS Dienst tat.

Beim Rückmarsch von der Arbeit liefen wir in Fünferreihen, Zusammenbrechende wurden geschlagen und dann in einer Bahre innerhalb der Fünferreihen getragen, damit die Bevölkerung auf den Straßen, die wir passieren mussten, nicht etwa mehrere Bahren außerhalb der Reihen bemerkte. Wer nicht stramm genug beim Exerzieren war, musste „rollen“, d.h. sich so lange im Sande um sich selbst drehen, bis er bewusstlos war. Diese Unglücklichen liefen dann oft gegen das elektrisch geladene Gitter und wurden vom elektrischen Schlag oder durch den Posten, der das Überschreiten der Grenze feststellte, getötet.

Schließlich, am 21. November, kam die Nachricht von unserer Freilassung, und zwar wurden wir zu 70 zurücktransportiert. Als wir zur Entlassung bei dem Kommandanten angetreten waren, unterhielten sich die höheren SS-Beamten darüber, ob es nicht zweckmäßig wäre, den oder den besonders dicken Juden zu schlachten oder zu verbrennen. Die Wirkung dieser als Witz gedachten Unterhaltung auf die mit ihren Nerven Zusammengebrochenen war entsetzlich. Damit war der Leidensweg aber noch nicht zu Ende. Am Morgen nach der Bekanntgabe mussten wir von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends ohne Kopfbedeckung im strömenden Regen stehen, dann am folgenden Tage wiederum von 11 bis 3 ohne Essen und ohne austreten zu dürfen. Schließlich wurde bekanntgegeben, dass die Juden keine Fahrkarten bekämen, und dabei bemerkt: „Ihr könnt zu Fuß laufen, meinetwegen bis Stargard.“ Wir haben dann für die Unbemittelten unter uns bezahlt und mussten dann, bevor wir abfahren konnten, noch zwölf Stunden auf dem Bahnhof warten. Unsere Kleidung, die, weil alle Juden verlaust sind, desinfiziert werden musste, war vollkommen ruiniert.

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