Bericht über Sachenhausen
Am 16. November 1938 berichtet ein Rechtsanwalts über seine sechstägige Haft in KZ Sachsenhausen:
Ich wurde am 11. November in meiner Kanzlei verhaftet und nach dem als Konzentrationslager eingerichteten früheren Zuchthaus verbracht. Die die Verhaftung vornehmenden alten Beamten teilten mir mit, dass alle Juden verhaftet wurden. Von dort aus wurden wir per Eisenbahn abends um 8 Uhr verladen und kamen nachts gegen 3 Uhr in der Nähe von Oranienburg an. Die Station liegt etwa zwei Kilometer vom Lager entfernt, und wir mussten die Strecke im Laufschritt zurücklegen. Da wir viele alte Leute bei uns hatten, fielen mehrere um, die von der Begleitmannschaft, alles junge SA-Burschen, mit Kolbenstoßen und Fußtritten bedacht wurden.
Im Lager angelangt, wurden erst die Namen aufgerufen und eingeschrieben, und dann mussten wir von etwa morgens um 5 Uhr bis mittags um 2 Uhr angetreten auf dem Hof stehen. Wer sich rührte, erntete Fußtritte und Schläge ins Gesicht. Unser Ersuchen, austreten zu dürfen, wurde abgelehnt und mit den gemeinsten Beschimpfungen von Seiten der Bewachungsmannschaft beantwortet. Mittags endlich genehmigte ein Vorgesetzter, dass wir gemeinsam zur Latrine geführt wurden. Essen wurde erstmalig 24 Stunden nach unserer Verhaftung verteilt. Das Essen war gut.
Wir mussten unsere gesamte Kleidung abgeben und erhielten dafür lumpenähnliche KZ-Kleidung, bestehend aus ausgedientem Militärzeug, Drillichkleidung und Ähnlichem. Gleichfalls wurde uns unser sämtliches Geld abgenommen. Juden haben in Oranienburg grundsätzlich Rauchverbot und dürfen sich nicht selbst beköstigen, können auch in der Kantine nichts kaufen.
Am nächsten Tage wurde exerziert. Für uns jüngere Leute, vielfach Frontkämpfer, war dies zu ertragen. Ältere Leute blieben liegen und wurden mit Fußtritten behandelt, mit Kolbenstoßen und mit Ohrfeigen und mit Faustschlägen ins Gesicht, immer begleitet von den rohesten und unflätigsten Beschimpfungen. Es befand sich in meiner Abteilung u. a. Kaufmann R. aus H., über 70 Jahre alt, ebenso der frühere Anwalt J., gleichfalls über 70. Beide wurden auf die geschilderte Weise misshandelt. Beim Exerzieren wurde, wenn die Leute nach Einzelübungen in die Reihe zurückkehrten, den Gefangenen ein Fuß gestellt, dass sie hinschlugen, und alsdann mit den Nagelschuhen der Bewachungsmannschaft im Rücken und Gesäß auf die roheste Weise ohne Anlass misshandelt. Beim Appell schritt der Lagerkommandant die Front ab. Zuweilen blieb er stehen, beschimpfte irgendeinen der Angetretenen auf die gemeinste und nicht wiederzugebende Weise. Zu einem meiner Nachbarn sagte er ohne Grund: „Jetzt muss ich mir für dich, dreckige Judensau, extra die Handschuhe ausziehen“, und nachdem er dies in aller Ruhe getan hatte, schlug er dem Bedauernswerten mit aller Kraft mehrfach ins Gesicht und auch noch unter das Kinn.
An einem Tage mussten alle Insassen antreten, um der Bestrafung zuzusehen, die an einem Gefangenen vollzogen wurde, der versucht hatte zu fliehen. Der Betreffende wurde auf einem Bock festgebunden und von zwei SA-Männern, die sich besonders hierfür gemeldet hatten, mit schweren Ochsenziemern bearbeitet, bis er die Besinnung verlor. Das Opfer musste selbst jeden Schlag, bei 25 angefangen, laut zählen, bis er infolge seiner Besinnungslosigkeit verstummte, aber auch dann hörten die Bestien mit ihren Misshandlungen nicht auf.
Der Stubenälteste berichtete, dass, wenn das Opfer notdürftig wieder geheilt wäre, die zweiten 25 Schläge verabfolgt würden.
Selbstmordversuche kommen täglich vor. In meiner Abteilung öffnete sich ein älterer Mann in einem unbeobachteten Augenblick die Pulsadern. Bei der Arbeit locken die Bewachungsmannschaften zuweilen die Arbeitenden an die Absperrungen, um sie dann niederzuknallen. Die elektrisch geladenen Drahtverhaue werden zeitweilig außer Strom gesetzt, da die Leute, um in ihrer Verzweiflung ihrem Leben ein Ende zu machen, in diese Drahtverhaue laufen.
Ich wurde nach sechs Tagen aus dem Lager entlassen, weil meine Auswanderung schon geordnet war.
Bei der Entlassung aus dem Lager wurde die übliche Abschiedsrede gehalten. „Gräuelpropaganda“ im Ausland auf Grund der Erlebnisse im Lager würde auch im Ausland verfolgt, da die Auslandsorganisationen so vorzüglich organisiert wären, dass sie auch im Ausland zupacken würden.
Zurzeit sind in Oranienburg 12000 Menschen, hauptsächlich Juden. Mit mir zusammen wurden elf entlassen.
Für den Beisetzungstag von vom Rath wurde angeordnet, dass die gesamten Gefangenen von morgens früh an in strammer Haltung anzutreten haben und dann an diesem Tage keinerlei Nahrung verabreicht würde.