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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Frankfurt und Buchenwald

Ende November 1938 verfasster Bericht eines Frankfurters über seine Verhaftung am 12. November, die Misshandlungen in der Frankfurter Festhalle und in der Bahnhofsunterführung in Weimar und über seine Erlebnisse in Buchenwald bis zu seiner Entlassung am 28. November:

Der nun folgende Bericht soll ruhig, klar und deutlich, frei von jeder Übertreibung und Phantasie, das wiedergeben, was der Schreiber dieser Zeilen tatsächlich gesehen und gehört hat, so wie er es vor Gott und seinem Gewissen verantworten kann und auch muss.

Die Vorgänge, die sich bei der Niederbrennung der Synagogen, den Demolierungen der Wohnungen usw. abspielten, sind ja hinreichend bekannt, sodass darauf verzichtet werden kann, darauf näher einzugehen.

I

Ich wurde am Samstag, dem 12. November, von der Straße weg verhaftet und zuerst unter wüsten Beschimpfungen auf das zuständige Polizeirevier gebracht, wo die Personalien festgestellt bzw. aufgenommen wurden. Dann wurden ca. 80 Juden in einem großen Omnibus nach der großen Halle gefahren. Bei unserem Eintreffen, gegen 12 Uhr mittags, waren bereits schon ca. 2000 Juden da. Man musste sich in Zehnerreihen aufstellen. Vor jeder Kolonne stand ein Tisch, an dem ein höherer Polizeibeamter saß, der die Namen vorlas. Man musste bei Aufruf seines Namens vortreten und sagen: „Ich bin der SAUJUDE soundso, geboren am, usw.“

Wehe, wenn einer vergaß, das Wort Saujude zu sagen. Er wurde unter Hieben durch die ganze riesige Halle gejagt. Sein Geld, alles, was man bei sich hatte, wurde einem abgenommen. Tefillin und Tallaus wurden zerschnitten und zerrissen unter den höhnischsten Bemerkungen der SS: „IHR KOMMT JA DOCH BALD IN DEN HIMMEL, AUCH OHNE DAS VATERUNSER.“ Ein Rabbiner wurde gezwungen, mit Tallis und Tefillin angetan durch die ganze riesige Halle zu laufen. Einen Opernsänger zwang man, oh welche Ironie, die Arie des Sarastro aus Mozarts „Zauberflöte“, „IN DIESEN HEILIGEN HALLEN KENNT MAN DIE RACHE NICHT“, zu singen. Wir mussten im Chore rufen: „WIR SIND SAUJUDEN, MÖRDER, RASSENSCHÄNDER usw.“ Dann wurde mitleidslos mit uns exerziert. Laufschritte, auf dem Bauche kriechen und mit der Nase den schmutzigen Erdboden berühren usw. So trieben sie es mit uns bis 10 Uhr abends. Zu essen gab es natürlich nichts mehr. Um 10 Uhr ertönte das Kommando „ZUM ABMARSCH FERTIGMACHEN“. Wir wurden unter starker SS-Bewachung in Omnibussen an die Bahn gefahren, wo uns der Pöbel mit Zurufen „Schlagt die Juden tot, schneidet ihnen die Hälse ab!“ usw. empfing. Dann wurde man wie Vieh in die Waggons getrieben.

Die Fahrt selbst verlief verhältnismäßig ruhig. Aber um 6 Uhr erwartete uns an der Endstation ein Empfang der SS und der Polizei, den man sein ganzes Leben nicht vergessen kann und darf. Mit Gewehrkolbenstößen wurden wir aus den Waggons in einen Tunnel gestoßen. Leute, die nicht schnell genug laufen konnten, wurden von der SS einfach die Treppen hinuntergeworfen, und man trampelte auf ihnen einfach herum. Es gab sehr viele Verletzte, denen das Blut nur so vom Gesichte floss. Sie durften aber nicht verbunden werden. Im Tunnel musste man sich wieder in Zehnerreihen mit dem Gesicht an die Wand stellen, den Hut ins Gesicht gedrückt, und nun fing die SS wieder an, wahllos mit den Gewehrkolben auf uns einzuschlagen. Dann wurden wir in die Gefangenenautos getrieben. Man musste die Knie hochziehen und den Kopf darauf stützen. Wieder hagelten Kolbenstoße auf unsere Köpfe hernieder. Um 7 Uhr hielten die Autos vor dem großen Tor des Konzentrationslagers Buchenwald. Wieder wurde man unter Schlägen durch das große Tor gejagt, und dann musste man auf dem großen Appellplatz antreten.

II

Im Lager waren bereits ca. 10000 verhaftete Juden und ca. 4000 Wiener, die schon seit März im Lager sind. Man musste sich nun wieder in Zehnerreihen aufstellen, und jeder Häftling bekam eine Nummer, als Beigabe erfolgte gewöhnlich ein Fußtritt ins Gesäß oder Ohrfeigen. Dann wurden einem die Haare geschoren. An diesem Sonntag, es war der 13. November, mussten wir von 7 Uhr morgens bis abends 8 Uhr auf einem und demselben Platz stehen. Zu essen gab es natürlich nichts. Um 2 Uhr gab es Walfischsuppe, worin man Soda getan hatte. (?) Um 8 Uhr 30 wurde man in die Baracken gejagt. Es waren fünf große Baracken vorhanden, und in jede derselben wurden ca. 2500 Juden gepfercht. Es folgte nun eine ganz tolle Nacht. Austreten durfte man nicht, denn man wurde dann von der Wache abgeschossen. Wasser war zum Trinken nicht da. Die Walfischsuppe hatte zur Folge, dass der größte Teil der Baracke Durchfall hatte. Der Durst und die anderen Ereignisse riefen nun eine Massenpsychose hervor. Die Menschen fingen an zu schreien und zu toben. Ab und zu kam die SS, griff aus jeder Baracke ca. 20 bis 30 Juden heraus und schlug sie vor den Baracken einfach tot (wird bestritten!). Teilweise warf man sie in den elektrischen Draht. Das Lager ist nämlich von einem elektrischen Draht umgeben, der mit 360 Volt Spannung geladen ist. Teilweise liefen aber die Juden in ihrer Verzweiflung von selbst hinein, und man konnte fast jeden Tag 8 bis 10 Juden am Draht leblos hängen sehen. Manche ließen sich in ihrer Verzweiflung einfach von der SS erschießen.

Es dämmerte der Morgen des 14. November herauf. Am Horizont stieg die Sonne blutrot hervor. Man musste wieder zum Appell antreten. Um 9 Uhr gab es etwas Kaffee und ein Stückchen schwammiges Brot; und nun folgte wieder etwas, was von dem Untermenschentum der SS Zeugnis ablegt. Man ließ uns von 9 Uhr morgens bis 7 Uhr abends auf der nassen, sumpfigen Erde mit übergeschlagenen Beinen sitzen. Austreten, um seine Notdurft zu verrichten, war verboten. Man musste eben einfach in die Hosen machen. Klosetts waren nicht vorhanden, und sog. Latrinen wurden erst nach ein paar Tagen errichtet. Wasser zum Waschen war auch nicht da. Man war also während seiner Gefangenschaft gezwungen, sich nicht zu waschen, und man hatte auch keine anderen Kleider, sodass man die ganze Zeit seiner Haft nicht aus seinen Kleidern herauskam. Die Folge dieser himmelschreienden Zustände kann man sich ja lebhaft vorstellen. Um 8 Uhr wurde man wieder in seine Baracke gejagt, und es wiederholten sich dieselben traurigen Szenen wie in der Nacht von Sonntag auf Montag.

Manche Leute wurden von der SS in die so genannte Waschküche geschleppt, die in Wirklichkeit einer Folterkammer glich, wo man die Menschen einfach zu Tode marterte und quälte. Schreiber dieser Zeilen wurde auch in die Waschküche geschleppt und hatte Gelegenheit, zu sehen und zu hören, was sich da eigentlich abgespielt hat. Man fragte sich: „Ist das Wirklichkeit, oder war es Fantasie überreizter Nerven, was man da sah?“ Aber leider konnte man ja an den Toten, die hinausgetragen wurden, erkennen, was da los war. Denn die Schreie der gequälten Menschen waren wirklich keine Fantasie, sondern rauhe Wirklichkeit.

Verfasser dieser Zeilen hatte das Glück, dass er auch in der Waschküche unbehelligt blieb. Nach vier Tagen, also ab 16. November, wurde diese Art des Marterns von oben her abgeblasen. Seit diesem Tage wurden die SS aus den Judenbaracken zurückgezogen. Das Kommando übernahmen die Wiener Juden, die sich für uns aufopferten. Namentlich gebührt unendlicher Dank den Wiener Ärzten, die alles taten, um den Verletzten zu helfen, und die Kranken, soweit es möglich war, auch behandelten. Medikamente waren anfangs nicht vorhanden, und Juden durften einfach nicht behandelt werden und mussten teilweise unter den grässlichsten Schmerzen sterben, denn in das Lagerlazarett durften Juden nicht aufgenommen werden. Die Waschküche wurde nachher zum Judenlazarett umgewandelt, d.h., man legte die Kranken einfach auf den glatten Holzboden, ohne Stroh, ohne Decke usw. Die Baracke war oben an der Decke offen ohne Fenster, sodass der Wind durchpfiff. Ein Ofen war selbstverständlich nicht vorhanden.

Wenn auch die Quälereien durch die SS aufhörten, so starben doch mehrere hundert Menschen an Krankheiten wie Erkältungserscheinungen usw. Auch wer 40 Grad Fieber hatte, musste im Freien zum Appell antreten. Es hieß dann einfach: „Das Judenschwein kann und soll krepieren.“ Die Verpflegung war mehr als mangelhaft. Es gab morgens etwas Kaffeebrühe und etwas schwammiges Kommissbrot, fünf Juden zusammen einen Laib pro Tag. Mittags einen Liter Suppe, Erbsen oder Bohnen usw. Abends ein Stückchen Wurst oder Käse und Brot. So musste man einen Tag nach dem ändern verbringen. Schreiben durfte man nur alle 14 Tage einmal eine Karte oder einen Brief mit 10 Zeilen. Geld durfte man sich 10 Mark senden lassen, wurde aber teilweise nicht ausbezahlt und wenn ja, unter Abzug von 25% Verwaltungsspesen. Juden, die wegen politischer Sachen im Lager sind, tragen Lagerkleidung, da sie schwer arbeiten müssen, [die] meisten in berüchtigten Steinbrüchen. Jeder Jude trägt an seiner Uniform einen „Mögen Dovid“ in verschiedenen Farben. Rot bedeutet politischer Häftling; grün Rassenschänder usw. Der Steinbruch ist ca. 25 Minuten außerhalb des Lagers gelegen. Die Häftlinge müssen im Laufschritt die Steine nach dem Lager schaffen. Auf dem Wege stehen alle 20 Minuten SS-Posten, die mit großen Steinen nach den armen Häftlingen werfen und sie auch meistens verletzen.

Es gibt im Lager weder Sonn- noch Feiertage. Die Arbeitszeit ist ca. 16 Stunden. Es gibt so genannte Strafkompanien. Dieselben müssen vom Samstagmittag bis Montag Früh im Steinbruch arbeiten, ohne dass sie etwas zu essen bekommen. Lässt sich ein Häftling nur das Geringste zuschulden kommen, dann wird er auf den so genannten Bock geschnallt. Ein Arier erhält 25 Stockschläge und ein Nichtarier 50 Stockschläge auf das Gesäß. Der Verfasser sah unter anderen einmal folgendes Bild:

„Ein schwerer Holzwagen in sumpfigem Gelände, von ca. 40 bis 50 Menschen im Joch gezogen, und nebenher ging die SS-Wachmannschaft und schlug unbarmherzig auf ihre Opfer los.“

Aber im Lager sind Nistkästlein für die Vögel angebracht, und die SS hat auch einen zoologischen Garten, wo Rehe, drei Bären und Hirsche auf das sorgsamste verpflegt werden.

Nach 15 Tagen wurde der Verfasser zur Entlassung aufgerufen. Man musste wieder zehn Stunden, ohne etwas zu essen, stehen, bis alle Formalitäten erledigt waren. Man wird vom Arzt gründlichst untersucht. Hat jemand Spuren von Misshandlungen an seinem Körper, dann muss er so lange im Lager bleiben, bis nichts mehr davon zu sehen ist. Bei der Ausgabe des Entlassungscheines muss man unterschreiben, dass man draußen nichts erzählt, was man im Lager gesehen hat. Man bekommt in der politischen Abteilung Folgendes amtlich mitgeteilt:

„Sie müssen so bald als möglich Deutschland verlassen. Wird im Auslande weiter gehetzt, dann werden sämtliche in Deutschland lebenden Juden mit ihren Familien lebenslänglich eingesperrt.“ Und wer zum zweiten Mal ins Lager kommt, bleibt, einerlei, ob er auswandern kann oder nicht, ebenfalls lebenslänglich im Lager.

Die Kosten der Heimfahrt mussten von uns selbst getragen werden.

Mit mir wurden 205 Juden am 28. November entlassen, darunter 20 Frankfurter. Viele hatten keinen roten Heller bei sich, da man ihnen alles abgenommen hatte. So mussten andere (es waren meistens Oberschlesier, die wohl Geld bei sich hatten) unsere Heimfahrt bezahlen. Dann, wenn alle ihre Fahrkarte hatten, wurden wir entlassen. Der Lagerkommandant erpresste aus unserem 205 Mann starken Transport noch Geld für das Winterhilfswerk. Um 7 Uhr endlich wurde man unter Eskorte durch das große Tor hinausgejagt und befand sich in der so genannten Freiheit. Das Fazit des Aufenthaltes des Schreibers dieser Zeilen lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen:

a) Schlimmer wie in einem Konzentrationslager kann es einem nie im Leben gehen.
b) Vor dem Tode braucht man keine Angst mehr zu haben.
c) Die Hölle ist noch ein Paradies gegen ein Konzentrationslager.

Noch hinzuzufügen ist, dass, wenn man vom Konzentrationslager entlassen wird, die Gestapo befiehlt, Deutschland innerhalb einiger Tage zu verlassen, unter der Drohung, dass, wenn der Betreffende das Reichsgebiet bis zum festgesetzten Termine nicht verlassen habe, er lebenslänglich wieder in das Konzentrationslager eingesperrt werde.

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