Bericht über Nürnberg und Fürth
Rechtsanwalt Dr. Franz Bergmann, Amsterdam, früher Nürnberg, berichtet Ende November 1938 über die Verwüstung seiner Wohnung, seine Verhaftung und Freilassung, Misshandlungen in Nürnberg und Dachau, die Zerstörung der Synagogen in Nürnberg sowie aus Fürth über Verhaftungen, Misshandlungen und Todesfälle, die Verwüstung von Wohnungen und Geschäften und den Zwangsverkauf eines Hauses.
In der Nacht vom 9. zum 10. November wurde ich um etwa halb vier Uhr telefonisch gewarnt, in der Wohnung zu bleiben, da meine Verhaftung bevorstände. Ich bin dann sofort mit meiner Frau und meinem Sohn aus der Wohnung gegangen und in den Straßen herumgeirrt. Ich traf als Erste die in der Nachbarschaft wohnende Frau eines Bankiers, die in notdürftigster Kleidung ebenfalls herumirrte, dann, als ich weiterging, in größerer Zahl Juden, die zwischen Kriminalbeamten gingen und offenbar abgeführt wurden. Man konnte an den erleuchteten Fenstern feststellen, wo Juden wohnten, und auch an den klirrenden Geräuschen, die aus den Wohnungen kamen. Ein Flaus, in dem nur Juden wohnten, war vollkommen erleuchtet. Vor dem Flause standen zwei Schutzleute mit dem Rücken nach der Hauswand und kümmerten sich um nichts. Überall sah man SA- und SS-Leute in Uniform. Ein mir bekannter höherer Offizier rief, weil er durch den Lärm in seinem Hause aufgewacht war, bei dem Überfallkommando an und bat, sofort Leute zu schicken, da offenbar Hausfriedensbruch und sonstige strafbare Handlungen in seinem Hause begangen würden. Das Überfallkommando antwortete, sie könnten nichts unternehmen, alles wäre von oben angeordnet. Im Allgemeinen erschienen Abteilungen von drei bis 25 Mann mit Stahlruten bewaffnet, von denen sie auch in ausgiebigem Maße Gebrauch machten.
In unserer Wohnung war, als wir zurückkehrten, nichts entwendet, aber in der vandalischsten Weise alles vernichtet, Gemälde zerschnitten, Daunendecken zerstochen und kostbare antike Lehnstühle zerschlagen und das Polster herausgerissen. Bei einem Verwandten waren RM1400 - gestohlen. Nach stundenlangem Umherirren bin ich auf dem Bahnhof verhaftet und mit ca. 100 anderen jüdischen Bürgern zusammen in der Turnhalle des Gefängnisses untergebracht worden. Etwa sechs von diesen waren verletzt, auch ein 80-jähriger Herr trug einen Verband um den Kopf, ihm war eine Schale über den Kopf geschlagen. Unter den Verhafteten befand sich auch der ca. 60-jährige Rabbiner und ein 77-jähriger Mann. Ich selbst wurde nach zehn Stunden entlassen, weil ich ein Visum nach Amerika hatte und Frontoffizier bin.
Aus Dachau sind außerdem, wie mir bekannt geworden ist, ältere Leute entlassen worden. Misshandlungen sind angeblich nicht in erheblichem Umfange vorgekommen, nur sind natürlich im Allgemeinen die Eingelieferten an Bart und Kopfhaar geschoren.
Verwandte, zwei Damen von 30 und 40 Jahren, die ein Haus in X. besitzen, wurden vorgeladen, um dieses Haus für 10% des Wertes zu verkaufen. Als sie sich weigerten und auf eine im Ausland lebende Miteigentümerin sich beriefen, wurde ihnen erklärt, sie würden dann acht bis zehn Stunden im Keller bei Wasser und Brot Gelegenheit haben, es sich zu überlegen. Sie haben dann schließlich sich dieser Erpressung unterworfen. Als ihnen dann beim notariellen Abschluss eine Erklärung vorgelegt wurde, nach der sie „freiwillig“ verkauft hätten, und sie baten, dieses „freiwillig“ fortzulassen, wurde ihnen unter Hinweis auf SS-Leute bedeutet, wenn sie jetzt noch Dummheiten machten, würden sie beide abgeführt.
Die große Synagoge in N. ist schon vier Wochen vorher abgebrochen, die kleinere einige Tage vor der Brandnacht. In der fraglichen Nacht ist sie dann auch innen ausgebrannt. Bei dem Abbruch der großen Synagoge war Hitler in der Stadt, der ganze Block war durch SS abgesperrt.
Im Krankenhaus in X. lagen, wie mir zuverlässig bekannt ist, 43 Schwerverletzte. Im Wesentlichen handelt es sich um Beinverletzungen von Leuten, die aus dem Fenster gesprungen oder hinausgeworfen waren. Ein Juwelier in N., der gerade operiert war, bat, mit Rücksicht darauf, ihn zu verschonen. Er wurde in roher Weise aus dem Bett gerissen und ist an den Folgen dieser Behandlung, weil die Operationswunde sich öffnete, gestorben.
Der Inhaber des Cafe B. ist infolge der Aufregung am Herzschlag gestorben, ein Dr. S. hat sich vergiftet. Ein Herr A. S., der nervenleidend war und für den seine Frau um Schonung bat, wurde aus dem Bett gerissen, durch die zersplitterte Scheibe der Vorplatztür roh hindurchgestoßen, sodass er am ganzen Körper von den Splittern Schnittwunden davontrug. Er ist dann barfuß und blutüberströmt auf die Polizeiwache gegangen und von den Beamten dort ins Krankenhaus transportiertworden. Die arische Frau, die Schweizerin ist, machte Einwendungen, worauf ihr die SS-Leute erklärten: „Das ist uns egal, du bist eine Judensau.“ Auch Frauen und Kinder sind verletzt, eine 70-jährige Tante von mir ist mit ihrem Mann und Sohn mit Stahlruten traktiert worden. Ich hatte den Eindruck, dass junge SS-Leute, die am Tage vorher eingekleidet waren und dies Ereignis am Biertisch feierten, betrunken gemacht waren und dadurch ihre Hemmungen, falls solche vorhanden waren, restlos beseitigt waren.
In X. wurden alle Männer verhaftet und auf den Marktplatz getrieben. Während dieser Zeit sind die Wohnungen überall demoliert, ebenso natürlich auch die Geschäfte und die Kanzleien der Anwälte.
Rechtsanwalt Dr. Franz Bergmann, Nürnberg, z. Zt. Amsterdam, Linnaeusstraat 106
N. = Nürnberg,
X. = Fürth
Der 77-jährige Verhaftete: Rosenzweig
Juwelier Lorch
Kaffee Bamberger
Dr. S. = Süssheim
A. S. = Arnold Silbermann