Die Gestapo Stettin berichtet
Die Gestapostelle für den Regierungsbezirk Stettin erstattet (vermutlich) am 4. März 1935ihren „Lagebericht“ für Februar 1935:
Inschutzhaftnahmen
1. Am 28.2.35 der jüdische Kaufmann Fritz Lindner, geb. 22.1.07 zu Oppeln, wohnhaft in Stettin, Arndtstr. 13, zur eigenen Sicherheit und weil er deutsche Volksgenossen öffentlich als Ausverkaufsgeier beschimpft hatte, wodurch es zu einer Demonstration vor seinem Schuhgeschäft kam.
2. Am 28.2.35 die Ehefrau des jüdischen Kaufmanns Lindners, Anna, geb. Vixelmann, geb. 21.1.94 zu Kattowitz, wohnhaft in Stettin, Arndtstr. 13, zu ihrer eigenen Sicherheit, weil sie sich infolge des zu 1) genannten Vorfalles bedroht fühlte. Die Lindner wurde am Tage darauf wieder auf freien Fuß gesetzt und aus der Schutzhaft entlassen, weil eine strafbare Handlung gegen sie nicht vorlag.
3. Am 28.2.35 der jüdische Kaufmann [N.N.] geb. 9.3.97 zu Stettin, wohnhaft [...], zu seiner eigenen Sicherheit, weil er von einer aufgeregten Volksmenge wegen Auslegung einer schwarz weiß roten Flagge bedroht wurde.
Zu 1 3 vergl. Tagesmeldung vom 28.2.35, Nr. 502, und vom 1.3.35, Nr. 504.
Juden und Freimaurer
Die Juden entfalten auch weiterhin eine rege Versammlungstätigkeit. So haben allein im Ortspolizeibezirk Stettin im Laufe des Monats Februar 22 Versammlungen der verschiedensten Organisationen und Gemeinschaften stattgefunden. Besonders rege sind hierbei die dem Bund der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens angeschlossenen Unterorganisationen.
In der Bevölkerung macht sich in der letzten Zeit eine erhöhte Gegnerschaft gegen die Juden öffentlich bemerkbar. In 2 Fällen ist es sogar zu Volksansammlungen und Demonstrationen gegen einzelne Angehörige dieser Rasse gekommen. In dem 1. Fall, der an sich harmlos verlief, handelte es sich um folgendes:
Eine hier als wohlhabend bekannte Jüdin namens Rosa Rosenbaum hatte dem WHW ein paar zerrissene Schuhe gespendet. Dieser Vorfall erschien in der Presse. Den Sonntag darauf versammelte sich eine größere Menschenmenge mit entsprechenden Transparenten , worauf beispielsweise stand: ''Rosa Rosenbaum erhält ihr Opfer für das Winterhilfswerk zurück'' usw. und marschierte damit im geschlossenen Zuge zu der Wohnung der R. Da die Rosenbaum in ihrer Wohnung nicht anwesend war, wurden ihre Schuhe an das Fenster gehängt, der Zug löste sich daraufhin friedlich auf.
Der 2. Fall trug sich am 28.2.35 zu, er war wesentlich ernster. Der jüdische Kaufmann und Inhaber eines Schuhwarengeschäftes Lindner hatte an dem fraglichen Nachmittage einer Angestellten gekündigt. Der Amtswalter der Arbeitsfront begab sich daraufhin zu Lindner, um eine Aussprache herbeizuführen. Hierbei kam es zwischen beiden zu einer erregten Auseinandersetzung. Lindner nannte die Kundschaft, die im ''Ausverkauf'' seinen Laden betritt, ''Ausverkaufsgeier'' und gab auf Befragen des Amtswalters, ob er damit deutsche Volksgenossen meine, an, daß bei ihm nur Deutsche kauften. Dieser Vorfall war hinterher einem größeren Personenkreise bekanntgeworden. Man erblickte in der Äußerung des Juden eine feindliche Einstellung gegen das deutsche Volk. Es sammelte sich vor seinem Hause eine große Menschenmenge an, die eine drohende Haltung einnahm. Durch die entsandten Polizeibeamten konnte Lindner, der inzwischen aus seinen Büroräumen geholt worden war, zur Sicherung der eigenen Person in Schutzhaft genommen werden. Seine Ehefrau begab sich aus demselben Grunde freiwillig in polizeiliche Schutzhaft. Ein Teil dieser versammelten Menschenmenge, die auf etwa 5.000 6.000 Personen geschätzt wurde, zog daraufhin zu dem Geschäft des jüdischen Kaufmannes [N.N.]. [N.N.] hatte für die am nächsten Tage stattfindende Saarbefreiungsfeier sein Schaufenster mit schwarz-weiß roten Fahnen schmücken lassen. Dieser Jude war außerdem öffentlich dadurch unliebsam in Erscheinung getreten, daß er bis vor kurzem ein Verhältnis mit einem arischen Mädchen unterhielt. Durch die Menge wurde [N.N.] aus seinem Laden geholt und gezüchtigt. Den hinzueilenden Polizeibeamten gelang es, [N.N.] aus den Händen der Demonstranten zu befreien und ihn ebenfalls in Schutzhaft zu bringen.
[N.N.] und die Ehefrau des Lindner wurden am nächsten Tage wieder aus der Schutzhaft entlassen, da gegen beide in staatspolizeilicher Hinsicht weiter nichts vorlag.
Noch 2 weitere Fälle möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, die, obwohl sie in den Monat März fallen, jedoch recht beachtlich für die Stimmung der Bevölkerung gegen die Juden sind. So wurden in der Nacht zum 2.3. mehrere Schaufensterscheiben des jüdischen Geschäftes Dannemann in Züllchow durch unbekannte Täter, die braune Uniformen angehabt haben sollen, eingeschlagen, und in der gleichen Nacht mehrere Fensterscheiben anderer jüdischer Geschäfte in Stettin mit grauer Farbe beschmiert und der ''Stürmer '' an die Scheiben geklebt.
Auf meine Morgenmeldung Nr. 503 vom 2.3.35 und Nr. 506 vom 3.3.35 darf ich Bezug nehmen.