Die Gestapo Hannover berichtet
Die Gestapostelle für den Regierungsbezirk Hannover erstattet am 4. März 1935 ihren „Lagebericht“ für Februar 1935:
Kennzeichnend für die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Juden sind auch in diesem Monat eine Reihe von Einzelaktionen gegen jüdische Geschäftsinhaber und Warenhäuser . So wurden beispielsweise in Hannover 4 Fensterscheiben eines jüdischen Geschäftes eingeworfen, ohne daß die Täter zu ermitteln waren. Der jüdische Tabakgroßwarenhändler Preiss beschwerte sich über ähnliche Vorgänge bei seinen verschiedenen hiesigen Filialen. Auch hier waren Täter nicht festzustellen, da sie meistens im Kraftwagen vorfuhren und nach dem Zertrümmern der Fensterscheiben sofort wieder verschwanden. Es liegt im Fall Preiss der Verdacht nahe, daß die Vereinigung der Tabakwareneinzelhändler an den Aktionen nicht unbeteiligt ist.
In Northeim wurden in der Nacht zum 3. dieses Monats 2 Fensterscheiben des Hotels ''Sonne'' eingeworfen, außerdem bei jüdischen Geschäften mehrere große Scheiben. Die Täter sind durch die Ortspolizeibehörde ermittelt und haben ein Geständnis abgelegt. Es handelt sich um einige Angehörige der SS . In der Nacht zum 14. dieses Monats wurde wiederum in Northeim einem jüdischen Geschäft eine Schaufensterscheibe mit Steinen eingeworfen. Der Täter ist nicht bekannt. Außerdem wurden in Northeim in verschiedenen Nächten dieses Monats Plakate an jüdische Schaufenster geklebt mit dem Inhalt: '' Wer hier kauft ist ein Volksverräter!'' Die Täter konnten nicht festgestellt werden.
Die jüdischen Verbände und Vereine entfalten eine immer reger werdende Versammlungstätigkeit, die besonders bei den Jugendverbänden innerhalb der ''Zionistischen Vereinigung '' und dem ''Centralverein '' festzustellen ist. So haben im Monat Februar die ''Zionistische Vereinigung'' Ortsgruppe Hannover 6, der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 3, der ''Israelitische Frauenverein '' 3, der jüdische Kulturbund 3, der Bund deutsch jüdischer Jugend 31, die ''Werkleute '' 27 und die Jugendgruppe Agudas Jisroel 1 Versammlungen bezw. Veranstaltungen abgehalten. Die rege Versammlungstätigkeit der Juden und das immer dreister werdende Auftreten werden in der breiten Öffentlichkeit scharf kritisiert.
Die Gegensätze der jüdischen Verbände halten in unverminderter Schärfe an. Besonders scharf treten die Gegensätze zwischen der Zionistischen Vereinigung und dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten hervor. Beide Vereine sind in verstärktem Maße bemüht, die jüdische Jugend für sich zu gewinnen. Hierin dürfte der Hauptgrund, der zu den scharfen Gegensätzen geführt hat, liegen. Die Zionisten wollen die jüdische Jugend zusammenfassen und sie für Palästina vorbereiten, da sie in Palästina ihren zukünftigen Nationalstaat erblicken. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten dagegen will die Jugend im Frontsoldatengeist erziehen und kämpft unter dem Motto: ''Deutsch und Jude!'' Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten ist stets bemüht, seine besonderen Taten, die er angeblich im Kriege geleistet hat, der breiten Öffentlichkeit zu übermitteln. Unter Berufung auf das gemeinsame Fronterleben und die Blutopfer von Deutschen und Juden im Weltkriege vertritt man die Forderung auf gleiche Achtung und gleiche Rechte im deutschen Volksleben. In dieser Auffassung wird der RjF vom ''Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens'' unterstützt. Die Auseinandersetzungen zwischen den Zionisten und dem RjF haben dazu geführt, daß die Zionistische Vereinigung ihren Mitgliedern, die gleichzeitig dem RjF angehören, die Zugehörigkeit zum RjF untersagt hat, worauf auch die Mitglieder aus dem RjF ausgetreten sind. Die hiesige Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten hat eine Mitgliederzahl von 341 Personen und etwa 250 Jugendlichen, die in der Vereinigten Turnerschaft zusammengefaßt sind. Die Zionistische Vereinigung der Ortsgruppe Hannover hat eine Mitgliederzahl von 250 Personen und etwa 300 Jugendlichen, die als Sportorganisation im Bar Kochba ebenfalls zusammengefaßt sind. Der Centralverein hat einen Mitgliederbestand von 320 Personen, von denen gleichzeitig ein sehr großer Teil dem RjF angehören.
Die Zionistische Vereinigung und deren Unterorganisationen haben besonders in der letzten Zeit rege Propaganda für die Auswanderung nach Palästina entfaltet. So hielt die hiesige Ortsgruppe in der Zeit vom 3.2. bis 10.2.35 eine Palästina Schau ab, die durch Ausstellung von Modellen, graphischen Darstellungen und Bildtafeln ein plastisches Bild von Palästina, seinen geographischen und klimatischen Verhältnissen geben sollte. Weiter gab die Schau einen Überblick über die Handelsbeziehungen Palästinas zu Deutschland (Steigen des deutschen Exportes an Maschinen, Halbfertigwaren aller Art) und zeigte die Tätigkeit der zionistischen Organisationen, ihre finanziellen Organe und schloß mit einer Zusammenstellung von Bildern führender Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung. Das Interesse für diese Schau war recht stark und [sie] wurde von etwa 250 Erwachsenen und 300 Kindern besucht.
Weiter ist die Zionistische Vereinigung bemüht, recht viel junge Leute des Hechaluz (Pionier für Palästina) für Palästina umzuschichten. Bereits im Jahre 1933 wurde im hiesigen Ortspolizeibezirk innerhalb der jüdischen Jugendbünde ein Verein mit Namen ''Hechaluz'' (Pionier) zwecks Vereinigung aller derjenigen jüdischen Jugendlichen gegründet, die nach Palästina auszuwandern gedenken. Vor der Ausreise muß sich jeder Jugendliche einer Berufsumschichtung unterziehen, die sich in landwirtschaftlicher, gärtnerischer oder handwerklicher Hinsicht erstreckt. Die Ausbildungszeit dauert etwa 1-2 Jahre. Die Lehrlinge werden von den Meistern nicht auf Lehrvertrag angenommen, sondern als sogenannte Volontäre beschäftigt. Hier in Hannover sind bisher etwa 20-25 Personen umgeschichtet worden, die auch zum größten Teil ausgewandert sind. Das hiesige Umschichtungsheim Beth Chaluz (Haus der Vorzubereitenden) besteht aus 5 Zimmern und kann etwa 19 Personen aufnehmen. Zur Zeit halten sich 18 Personen zwecks Umschichtung in diesem Heim auf. Hiervon erlernen 11 männliche Personen den Beruf als Gärtner bzw. als Tischler. Sieben Mädchen erlernen, verteilt auf verschiedene jüdische Haushaltungen, den Haushalt. Unter den Umschichtungsleuten befinden sich mehrere Studenten und jüngere Rechtsanwälte. Durch eine Lehrerin, die von Palästina hierher berufen wurde, werden die Leute in Palästinakunde, jüdischer Geschichte und in der hebräischen Sprache unterrichtet. Die Kosten der Umschichtung werden durch Zuschüsse der Eltern oder von den jungen Leuten selbst aufgebracht. Einen Teil der Unkosten stellen auch die jüdischen Gemeinden des Heimatortes zur Verfügung. Der Rest wird von einem Ausbildungsfond in Berlin getragen, für den sämtliche jüdischen Gemeinden Deutschlands regelmäßig Zahlungen leisten. Die Umschichtungsleute haben monatlich für Verpflegung und Unterkunft pp. 32 RM zu zahlen.
Weiter sind innerhalb der Stadt Hannover in dem letzten Vierteljahr etwa 57 Juden nach Palästina ausgewandert. Unter diesen ausgewanderten Juden befinden sich etwa 90% ehemalige nach Deutschland eingewanderte Ostjuden . Bemerkenswert ist, daß der jüdische Kulturbund in letzter Zeit des öfteren mit musikalischen und geselligen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit tritt, um hierdurch den jüdischen arbeitslosen Künstlern Beschäftigung zu geben. Das Hauptziel dürfte aber die enge Zusammenfassung aller jüdischen Kreise sein.
Bemerkt sei, daß bei der Fülle der jüdischen Veranstaltungen eine ordnungsgemäße Überwachung der Versammlungen und Veranstaltungen nicht gewährleistet ist.
Allgemein ist zu beobachten, daß die jüdische Bevölkerung einen Rückhalt am Reichsinnenministerium und Reichswirtschaftsministerium zu haben glaubt. Bezeichnend dafür ist, daß am 1. März unter Berufung auf diesen Rückhalt in verschiedenen Orten jüdische Einwohner und Geschäftsleute bei der Ortspolizeibehörde das Ansinnen stellten, ihnen die Beflaggung ihrer Gebäude mit der schwarz weiß roten Fahne zu gestatten. Dabei wurde insbesondere darauf hingewiesen, daß eine solche Beflaggung z.B. in Berlin, Darmstadt, Frankfurt ausdrücklich erlaubt sei. Auf Rückfragen der Ortspolizeibehörden habe ich am 1. März die Auffassung vertreten, daß maßgebend über die Beflaggung der Juden der Erlaß des Gestapa sei und nicht die im Laufe des Tages übrigens wieder zurückgenommene Funkanweisung des Reichsinnenministers vom 28.2. Mitteilungen über Schwierigkeiten in der Beflaggungsfrage am 1.3. sind mir nicht zugegangen.