Bericht aus Duisburg
Bericht über die Wohnungsverwüstungen und Verhaftungen in Duisburg, die verzweifelte seelische und wirtschaftliche Lage der jüdischen Familien, die Sammlung von Kunstgegenständen aus den rheinischen Synagogen durch die Kölner Gestapo, die Rekrutierung der Pogromtäter und die ablehnende Haltung einzelner Gestapo-Beamter gegenüber dem Pogrom:
23. November 1938
Duisburg: Einem soeben hier eintreffenden Bericht ist zu entnehmen:
In dieser (ca. 440.000 Einwohner zählenden) Stadt ist besonders brutal gewütet worden. Die „spontanen“ Ereignisse haben sich in später Nacht abgespielt. Bemerkenswert, dass das Mordgesindel nicht aus Ortsansässigen bestand. Die Täter, größtenteils Jugendliche anfangs der 20, dürften wahrscheinlich aus Dortmund stammen, um - in der über 60 km entfernt liegenden Stadt - die „spontane Rache“ zu üben. Diese Taktik scheint in Nord Westdeutschland ziemlich allgemein gewesen zu sein: SA etc. auszutauschen, Dortmunder nach Duisburg, Düsseldorfer nach Wuppertal und Essen usw.; einerseits um keine Mitleidgefühle aufkommen zu lassen, falls sich die Aktion zufällig gegen persönlich Bekannte richten sollte, andererseits um die Identifizierung der Täter durch die Opfer zu vermeiden. Nach übereinstimmenden Berichten standen die Horden stark unter Einfluss von Alkohol. Entweder also hat man die Bande - jugendliche Burschen reagieren bekanntlich besonders schnell auf Genuss von alkoholischen Getränken -vorher besoffen gemacht, um sie in Pogromstimmung zu bringen (der „Jahrestag des Marsches auf München“ bot z. B. äußeren Anlass dazu), oder man hat während der einstündigen Autofahrt zum Aktionsgebiet unterwegs gerastet und Freibier gespendet. Alle Einzelheiten zu diesen Maßnahmen müssen natürlich vorher genau festgelegt gewesen sein, höchstwahrscheinlich lange vor dem Attentat auf Herrn vom Rath.1 Arische Augenzeugen aus Duisburg behaupten, dass die Täter penetrant „nach Schnaps gestunken“ hätten. Nur so ist es psychologisch zu erklären, dass unter Hunderten von jungen Burschen bei keinem Hemmungen auftraten, diese barbarischen Schweinereien mitzumachen. Besonders zu betonen: Wenn z. B. die Dortmunder in Duisburg „operiert“ haben und dabei in „deutscher Gründlichkeit“ keinen jüdischen Haushalt vergessen haben, so müssen sie im Besitz von sorgfältig angefertigten Adressenlisten gewesen sein, außerdem aber bei der Ausdehnung des Stadtgebietes (fast 100 Quadratkilometer!) Groß-Duisburg nach genau eingeteilten Distrikten für jede Pogrom-Kolonne gearbeitet haben.
Die Einzelheiten sind kaum wiederzugeben. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen und schreiende Kinder sind von Nazi-Kulturträgern misshandelt und im Nachthemd ins Freie gejagt worden. Was zerstörbar war, wurde vernichtet. Wäsche, Kleider und Anzüge mit dem „Blut und Ehre“-Dolch zerfetzt, eingebaute Waschtische, eingebaute Majolika-Badewannen wurden mit Hämmern zertrümmert, selbst Wandbekleidungen und Linoleum-Belag wurden demoliert. Alle männlichen Personen, ohne Rücksicht auf Altersgrenzen, wurden festgenommen (vier Ausnahmen sind namentlich bekannt, darunter der Rabbiner N.,2 ein wahrer Seelsorger, der seine Mittel stets bis zum letzten Pfennig für Notleidende hergegeben hat, dem aber ebenfalls die Wohnung völlig demoliert wurde). Die „Verhafteten“ wurden zunächst dem Polizeigefängnis zugeführt, wo die Behandlung normal war. Von dort wurden alle Juden am 12. November abtransportiert, Ziel unbekannt. Polizeibeamte behaupten, dass die Transporte nach Dachau bestimmt gewesen seien. (Fürs Ausland: Entfernung Duisburg-Dachau ca. 600 km). Am 22. November, also zehn Tage später, hatten die Frauen noch keine Nachricht, wo die Männer sich befinden.
Zwei besonders gut eingerichtete Wohnungen, davon eine zentral gelegene Villa, blieben - fast unbegreiflich - am 9. /10. November verschont; vermutlich, weil die Abwesenheit der Hausherren bekannt war. Wohnung „A“ wurde dann nachträglich am 15. November klein geschlagen, Besitzer entkam ins Ausland, Villa „B“ ebenfalls am 15. November demoliert, Besitzer war inzwischen zurückgekehrt und wurde festgenommen.
Ein jüdischer Anwalt konnte im letzten Augenblick bei einer christlichen Familie Zuflucht finden. Er stellte sich am folgenden Tage „freiwillig“ zur Verhaftung, weil die Nazis der Frau angedroht hatten, sie würde von den Kindern weggeholt und abtransportiiert] werden, falls der Mann sich nicht innerhalb 24 Stunden eingefunden hätte. Ebenso freiwillig stellte sich ein jüdischer Lehrer, dessen Vater, ein gebrechlicher Mann in den 70er Jahren, als Geisel festgenommen werden sollte. Ein jüdischer Epileptiker, 100% kriegsbeschädigt, wurde wieder in Freiheit gesetzt.
Der seelische Zustand der Frauen, die seit fast zwei Wochen ohne Nachricht von den Männern sind, lässt sich nicht beschreiben. Völlige Nervenzusammenbrüche, unheilbare Depressionszustände. Nach allem, was die Leute in den letzten Jahren schon durchgemacht haben, von Einkommen, Geschäften und allen Unterhalts-Mitteln beraubt, wurde ihnen jetzt noch der letzte Besitz, die Wohnung, das Eigenheim, Aussteuer der Kinder, Kleidung und Wäsche etc. restlos vernichtet. Viele geraten in hoffnungslose Verschuldung, um die Gelder aufzubringen für die amtlich befohlenen Reparaturen der Fenster, Heizkörper, Wasserleitungen etc. - Den Intellektuellen (auch Ärzten, Anwälten etc.) wurde die gesamte Bibliothek zerstört, mitunter die einzige Möglichkeit, um sich auf eine Auslandstätigkeit vorzubereiten. (Sprachwissenschaftliche Fachwerke, unter Opfern beschafft!)
Ein jüdischer Wissenschaftler des Aachener Gebietes wurde auf die Gestapo in Köln befohlen, wo man ihm künstlerische und antike Kunstgegenstände zur Begutachtung vorlegte - alles aus rheinischen Synagogen stammend, darunter auch Thorarollen mit üblichem Silberschmuck etc. Die Gegenstände waren, offenbar auf besondere Anordnung in einem bestimmten Distrikt, sorgfältig gesammelt. Entweder hat man den Kunstwert erkannt und will Museumsstücke konservieren oder, wahrscheinlicher, ein weitblickender Gauleiter ist überzeugt, dass reiche außerdeutsche Gemeinden diese teils Jahrhunderte alten Heiligtümer gegen Devisen erwerben werden. Wenn dieser Fall eintreten sollte, dann wird den Nazis erst klar werden, wie dumm sie gehandelt und welche Devisenwerte des „deutschen Volksvermögens“ sie in sinnloser Barbarei zerstört haben, die Hunderttausende von Dollars hätten bringen können. Eine Milliarde Papiermark, den Juden vom deutschen Inlandvermögen abgepresst, sind wirtschaftstechnisch bestimmt von geringerem Wert, sondern können nur buchmäßig bedeuten, dass die inneren Milliardenschulden des Reiches um eine einzige Einheit reduziert bleiben. Aus dem Bezirk Hanau/Pforzheim liegt eine zuverlässige Meldung von Augenzeugen vor, dass dort der oben erwähnte Pogromisten-Austausch nicht stattgefunden hat, in fast allen Orten wurde ausschließlich nur von einheimischen Mordbrennern gebrandschatzt.
Vereinzelt wird mitgeteilt, dass ältere Beamte der Gestapo auch Juden gegenüber ihren Unwillen über die Pogrome und das Benehmen der jugendlichen Horden geäußert haben. In einer mitteirheinischen Großstadt erklärte der leitende Gestapo-Beamte einem jüdischen Antragsteller, der auf den Auswanderungspass wartete: „Ich an Ihrer Stelle würde auf diese