Bericht aus Aachen
Herr Bettelheim, Amsterdam, berichtet über den Brand der Synagoge in Aachen, die Verhaftung von Aachener Juden, zahlreiche Versuche, sich der Verhaftung durch Verstecken in der Umgebung von Aachen zu entziehen, die Verwüstung von Wohnungen in den Orten der Aachener Umgebung, die Lage an den Grenzen nach Belgien und den Niederlanden und die Propaganda niederländischer Nationalsozialisten im Grenzort Vaals:
21. November 1938
Die Aktionen in Aachen und ihre Folgen Die Vorgänge beim Brande der Synagoge werden folgendermaßen geschildert:
Alle Häuser, die im Umkreise der Synagoge stehen, waren mit Posten, die mit Revolvern ausgerüstet waren, besetzt. Kein Einwohner durfte das Haus verlassen, andernfalls er mit dem Tode bedroht wurde. Die Synagoge brannte vollständig aus. Der Rabbiner, Dr. Schönberger, welcher die Thorarollen retten wollte, wurde verhaftet und abgeführt, befindet sich aber jetzt wieder auf freiem Fuß. Die jüdische Gemeinde bekam den Auftrag, die Brandstätte dem Erdboden gleichzumachen; wenn die Gemeinde die Arbeiten nicht ausführen lässt, werden sie im Staatswege durchgeführt.
Verhaftet sind folgende Persönlichkeiten:
Dr. Löwenstein befindet sich im Konzentrationslager Buchenwald. Wie seine Sekretärin mitteilt, betreibt er seit längerer Zeit seine Ausreise. Frau Dr. Löwenstein, die ich verständigen ließ, ist zur abgesprochenen Zeit nicht gekommen, scheinbar hat man ihr den Grenzschein abgenommen. Kaufmann Stern: Über diesen ist keine genaue Auskunft zu erhalten. Man sagt, er wäre erschossen, ein Angestellter von ihm aber erklärte, er sei am Leben, wäre aber verhaftet, wo, weiß man nicht.
Hugo Kaufmann, früher Inhaber der Firma Herz & Heimann, Tuchfabriken, ebenso der Fabrikant Otto Meyer sind in einem Konzentrationslager, in welchem, weiß man nicht. Königsberger, Vater und Sohn, beide verhaftet, Sohn gegen Kaution, Vater so freigelassen, der Sohn später wieder verhaftet und nach einem Konzentrationslager überführt.
Kaufmann Marx, Inhaber der Firma Marx & Auerbach, auch verhaftet.
Dr. Wallerstein ist am 5. Oktober 1938 nach Amerika abgereist.
Der jüdische Laborant einer chemischen Fabrik wurde verhaftet, aber auf Intervention seines Chefs, eines prominenten Nationalsozialisten, wieder entlassen, da dieser erklärte, sonst die Fabrik schließen zu müssen.
Dr. A., ein 60-jähriger Mann, war nicht verhaftet. Mit Frau A. sprach ich selbst: Sie war furchtbar erregt und schrie und schimpfte über die Juden im Auslande, die an allem schuld wären, und erklärte Folgendes: „Sorgen Sie doch bitte dafür, dass alle Aktionen des Auslandes eingestellt werden, denn Goebbels ist stärker als das Ausland. Wir sind alle verzweifelt.“ Dabei ist zu bemerken, dass gerade diese Familie schon genügend Gelegenheit hatte auszureisen und auch bereits Geld in Belgien hat.
Kaufmann B., mit dessen Frau ich ebenfalls sprach, berichtet: B. befand sich mit seinem Auto auf der Rückreise von Saarbrücken nach Aachen und wurde in einem kleinen Dorfe in der Eifel verhaftet, jedoch nach einigen Stunden wieder freigelassen. In der Zwischenzeit wurde er bereits in Aachen von der Gestapo gesucht. Er zog es vor, mehrere Tage in der Umgebung von Aachen herumzuirren. Freitagabend kam er vollkommen gebrochen nach Hause, in einem Zustande, sodass sich die Frau genötigt sah, einen Arzt kommen zu lassen, der Arzt konstatierte Herzmuskelentzündung. Der Arzt, ein Arier, übersah sofort die Situation, verordnete strengste Bettruhe und sagte: Wenn jemand kommt, um Ihren Mann abzuholen, so rufen Sie mich sofort an.
Die Stimmung der Bevölkerung ist passiv, verabscheut aber diese Aktionen. Unter den Juden besteht eine stillschweigende Verabredung, bei gegenseitigen Besuchen zweimal zu klingeln. Geplündert wurde in Aachen nicht, jedoch Fenster und Türen demoliert. Von allen Verhafteten sind bis jetzt ungefähr 30 Personen zurückgekehrt. Solche, die freigelassen wurden, wagen sich nicht nach Hause und irren in der Umgebung von Aachen umher.
Umgebung von Aachen
In Alsdorf wurden alle jüdischen Wohnungen und Häuser demoliert. Als Anführer fungierte der Lehrer Ruhland. Die Täter waren alle in Zivil, mit Schmiedehämmern und Äxten ausgerüstet. Der Leiter der Aktion sorgte dafür, dass alle Gegenstände in den Wohnungen, soweit sie dem arischen Besitzer gehörten, nicht zerstört wurden, Waschbecken, Toiletten, usw. Dieselben Vorgänge werden auch aus Höngen gemeldet. Im Ganzen sind ungefähr 20 Personen verhaftet, einige sind wieder frei.
Als einige Einwohner bei den Behörden vorstellig wurden, damit diese die Schäden feststellten, lehnten diese es ab, die jüdischen Wohnungen zu betreten.
In Borken hat man nach der Demolierung alle alten und kranken Männer und Frauen schwer misshandelt und einige Tage festgehalten.
In Stollberg wohnte eine Familie Holland, welche am kommenden Mittwoch von Hamburg nach Johannesburg ausreisen sollte. Am Freitag kam ein Gestapobeamter und sagte: Wir haben Sie bis jetzt geschont, aber nun müssen Sie machen, dass Sie ausreisen, denn wir werden Sie sonst verhaften. Die Familie zog es vor, alles im Stich zu lassen und nach Hamburg zu fahren. - Einige Fabrikanten, die zurzeit beschäftigt sind, ihre Betriebe in arische Hände zu geben, wurden nicht verhaftet, da diese die neuen Inhaber einarbeiten müssen.
Aus den kleinen Orten in der Eifel wird berichtet, dass die christliche Bevölkerung alles tut, um die in den Wäldern umherirrenden Juden zu versorgen, sie sorgen für Essen und bringen diese unglücklichen Menschen unter eigener Lebensgefahr des Nachts in ihren Wohnungen unter. Besonders wurden drei Bergarbeiterfamilien in Dülken erwähnt.
Von Holland aus gesehen
Ein Überschreiten der holländischen oder belgischen Grenze ist völlig ausgeschlossen. Die Kontrolle wird von Marechausses in Begleitung von Militär mit umgehängtem Karabiner strengstens durchgeführt. Beide Grenzen sind hermetisch geschlossen.
An dem offiziellen Grenzübergang Aachen-Vaals ist momentan alles ruhig. Fotografieren ist von beiden Seiten verboten. Jüdische Einwohner von Aachen, soweit sie noch im Besitz eines Grenzscheines sind, werden von deutscher Seite durchgelassen, wenn sie den Mut dazu aufbringen. Die Holländer lassen diese auch anstandslos passieren.
Der Bürgermeister von Vaals, ein Katholik, hat einer deutschenjüdischen Familie in Vaals erklärt: Wenn Sie Aachener jüdische Familien aufnehmen wollen, die von deutscher Seite durchgelassen werden und nachweisen können, dass sie in absehbarer Zeit Holland wieder verlassen, so können sich diese bis zu dieser Zeit in Vaals aufhalten.
Als ich Sonnabendabend durch die Hauptstraße von Vaals ging, gingen vor mir drei Männer. Plötzlich drehte sich einer von diesen um, griff in die Innentasche seines Paletots und überreichte mir mit den Worten „Alstublieft“ [Bitte sehr!] eine Zeitung. Wie ich sofort feststellte, war diese Zeitung ein Exemplar „De Nederlandsche Nationaal Socialist“, Leiter Majoor Kruyt. Mit einem Holländer sprach ich über diesen Fall. Dieser erklärte mir, er finde diese Aktion ganz eigenartig, da diese Gruppe noch nie in Limburg Propaganda gemacht hat. Er ist der Meinung, dass diese Propaganda im Zusammenhang mit den Aktionen in Deutschland steht. Anbei das Exemplar der Zeitung.