Bericht aus Nordhausen
Nach dem 27. November 1938 berichtet ein Augenzeuge über die Zerstörung der Synagoge in Nordhausen, die Verwüstung von Wohnungen und Geschäften, die Misshandlungen bei den Massenverhaftungen und die Verschleppung in das Konzentrationslager Buchenwald; erwähnt werden die besondere Misshandlung der Erfurter während des Pogroms und einzelne Fälle von Misshandlungen, Totschlag und Selbsttötung von Männern aus Nordhausen:
Die jüdische Bevölkerung Nordhausens umfasste im November 1938 noch ca. 400 Seelen.
„Schon am 9. November wurden wir verschiedentlich gewarnt, dass des Nachts etwas mit uns passieren würde. So kam ein Nordhäuser Sipo zu mir, der mich kannte, und riet mir: „Ich an Ihrer Stelle würde machen, dass ich wegkäme.“ Schon am Tage kamen Flüchtlinge aus Witzenhausen, wo die Synagoge niedergebrannt und die Juden misshandelt worden waren.
Nachts, pünktlich um 1.30 Uhr, ging es los. SA und SS von Nordhausen und von außerhalb kamen in Autos von einer Versammlung. Sie waren alle betrunken. Man hörte Gejohle in den Straßen, das Einschlagen von Fensterscheiben und Rufe: „Zur Synagoge!“ Aus der Synagoge wurde alles herausgeschleppt und verbrannt. Vor meiner Tür wurde ein Tallis verbrannt, dann wurde die Synagoge selbst angezündet. Die Feuerwehr war rechtzeitig zur Stelle und sorgte dafür, dass der Brand lokalisiert blieb. Inzwischen holten die betrunkenen SA- und SS-Männer alle Juden, Männer, Frauen und Kinder, auch Schwerkranke und Greise aus ihren Wohnungen. Teils noch in Nachthemden wurden wir dann in Autos zum „Siechenhof“ (eine Art Obdachlosenasyl) gebracht. Natürlich wurden beim Abholen auch die Wohnungen demoliert, Betten zerschnitten, Stuhlbeine abgebrochen, alle Fensterscheiben von jüdischen Läden wurden eingeschlagen... Außer ganz wenigen Personen, die offensichtlich vergessen worden waren (diese wurden am nächsten Morgen in verhältnismäßig freundlicher Form herausgeholt), kam alles schon geschlagen und verprügelt auf dem Siechenhof an. Auch zwei- und dreijährige Kinder waren in der Gruppe. Auf dem Siechenhof wurde weiter geprügelt. Ich erkannte einen Oberscharführer unter den Prügelnden. Besonders hervorgetan hat sich der Sturmbannführer Sander, der wie verrückt draufgeschlagen und getreten hat. Auch alte Frauen wurden gehauen und geschlagen. Die Polizei hat teilweise versucht, das Schlimmste zu verhindern, konnte aber nicht allzu viel erreichen. Im Hof des Siechenhofes wurden wir getreten und herumgejagt. Es war kalt, und ein Teil war fast nackt... Auch die Frauen mussten auf Befehl hin und her laufen. Erst am nächsten Morgen gegen 8 Uhr wurden sie entlassen. Die Männer im Alter von 15-85 Jahren wurden von den Frauen getrennt. Keiner durfte austreten, und die SS-Leute brüllten: ‚Scheißt in die Hose!‘ Besonders misshandelt wurden:
1) Walter Eisner, ein kleiner Industrieller, der sich aus unbekanntem Grunde das besondere Missfallen der Nazis zugezogen hatte. Er wurde fürchterlich geprügelt und durch die Stadt getrieben.
2) Herrmann Stern (Noch in Deutschland!), ein ehem. Reichsbannerführer, wurde schwer misshandelt.
Am nächsten Tag (10. November) morgens wurden wir alle, auch die, die in der Nacht vergessen worden waren, mit Überlandautobussen nach Buchenwald (90 km) gebracht. Wir waren 78 Mann aus Nordhausen. In Buchenwald ging es noch einmal richtig los... Die SS hat uns mit neunschwänzigen Peitschen buchstäblich ins Lager reingeprügelt. Besonders schlecht kamen dabei weg:
Gerson, ein Amtsgerichtsrat, schon mit 6 Jahren getauft, mit arischer Frau und einem Sohn. Er wurde furchtbar zugerichtet.
Plaut, ein halber Idiot, der nicht nur mit Peitschen, sondern mit einem Schlüsselbund auf den Kopf geschlagen wurde und vollkommen blutig war.
Nach uns kamen 600 Mann aus Erfurt an. Sie alle waren blutig geschlagen, einem war das Auge ausgelaufen, sie waren mit Stöcken und Eisenruten so zugerichtet worden. Zwei Mann aus Erfurt waren in Nachthemd und Hausschuhen. Alle trugen Verbände. Die Erfurter sind in Buchenwald nicht mehr geschlagen worden, weil die SS selbst der Meinung war, die hatten schon genug bekommen.
Wir bekamen dann die Haare kurz geschoren, und unsere Personalien wurden aufgenommen etc. Dann wurde mitgeteilt, dass für alle Juden bis auf weiteres Post- und Kantinenverbot verhängt worden sei. Bis Freitagabend (Donnerstag wurden wir eingeliefert) bekamen wir nichts zu essen.
In Buchenwald gab es zu der Zeit zwei Baracken, in denen normalerweise je 500 Menschen untergebracht werden können. Wir waren 2500 in einer Baracke! Auch in der Nacht wurde geprügelt. Viele, viele sind verrückt geworden. In der ersten Nacht sind allein aus unserer Baracke 260 Mann verrückt geworden. Die Verrückten wurden gebunden und geprügelt und dann in die Waschküche geschleppt, wo sie totgeschlagen wurden.
Von den Nordhäusern sind im Konzentrationslager umgekommen:
1) Singer, Vater des Lehrers von Nordhausen, 60 Jahre alt. Er wurde in der Nacht vom Sonntag auf Montag verrückt und ist in der Waschküche totgeschlagen worden.
2) Sohn von Singer, Lehrer, ging ins Drahtverhau, weil er es nicht mit ansehen konnte, wie sein Vater, mit der Hand angebunden, über den ganzen Hof geschleift wurde.
3) Amtsgerichtsrat Gerson, wollte ins Drahtverhau, ist dann gebunden und totgeschlagen worden.
4) Ernst Plaut, in der Waschküche erledigt.
5) Bacharach, 81 Jahre alt, totgeschlagen.
6) Lewin, 70 Jahre alt, totgeschlagen.
7) Wolf, ist nicht im Konzentrationslager, sondern an den Folgen der Misshandlungen in Nordhausen gestorben.“
Von 78 Leuten aus Nordhausen sind sieben tot.