Bericht aus Kiel
Im Sommer 1939 wurde folgender Bericht über die Vorgänge am 9. und 10. November 1938 in Kiel verfasst:
1) Mordanschläge. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Gustav Lask, der nach Verkauf seines Geschäftes als Privatier im Villenviertel von Kiel lebte, wurde nach seiner Verhaftung in der Nacht vom 10. November von zwei SS-Leuten angeschossen und schwer verwundet. Er erhielt einen Bauchschuss und lag sieben Wochen auf Tod und Leben im Krankenhaus. Herr L. lebt jetzt in London. Ferner wurde der Inhaber des Seidenhauses S. Mastbaum, der ebenfalls im Villenviertel von Kiel lebte, nach seiner Verhaftung durch fünf Schüsse zu Boden gestreckt. Er erhielt einen Lungenstreifschuss, einen Kopfstreifschuss und einen besonders gefährlichen Kieferschuss. Herr L., der 59 Jahre alt ist, lebt jetzt in London (Woodchurch Rd. 15, N. W. 6, bei Mrs. Joseph).
2) Verhaftungen. Es wurden rund 55 Personen, Juden und Nichtarier, in Kiel verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht. Unter den Verhafteten befand sich auch der frühere zweite Bürgermeister von Kiel, Gradenwitz, der Nichtarier ist. Etwa 15 jüdische Geschäfte wurden zerstört, ebenso einige Wohnungen, darunter die von Gradenwitz und Rosenstein.
3) Die Synagoge wurde verbrannt und im Innern völlig zerstört. Die Thorarollen wurden vernichtet. Ein zu Ehren der jüdischen Gefallenen gestifteter Messingleuchter blieb verschwunden, wurde anscheinend geraubt. Die im Schutt der Synagoge aufgefundene Gedenktafel zu Ehren der jüdischen Gefallenen wurde später in der Leichenhalle des Friedhofes neu aufgehängt.
Nachtrag
Als die Synagoge in Brand gesteckt wurde, wurde die christliche Kastellanin, eine Witwe, im Nachthemd auf die Straße getrieben. Ihre Wohnung wurde zerstört. Die Frau fiel dabei in Ohnmacht.