Bericht über Pogrom in Berlin
Augenzeugenbericht eines katholischen nichtjüdischen holländischen Arztes nach seiner Rückkehr von einem Ärztekursus in Berlin über die Zerstörung von Geschäften und Synagogen in Berlin und Potsdam und über die Reaktionen der Berliner Bevölkerung:
14. November 1938
Herr A. war mehrere Wochen lang in einem großen chemischen Betrieb in Berlin, wo er an einem Ärztekursus teilnahm. Er wohnte mit seiner Frau in Charlottenburg, bei Leuten, die man als „Nazis“ bezeichnen muss. Dennoch waren diese Menschen über die Vorgänge am 10. November entsetzt und erklärten ausdrücklich, dagegen zu sein, dass man in dieser Weise gegen die Juden vorgehe.
Herr A. sah am Donnerstagmorgen, als er das Haus verließ, dass in der Nähe seiner Wohnung ein Geschäft mit Galanteriewaren von einer Menge junger Burschen zerstört wurde. Beim Weitergehen kam er an dem Korsettgeschäft Neumann, einem großen Eckladen, vorbei und sah zu seinem Entsetzen, dass dort das Gleiche geschah. Die Bevölkerung stand mit stummem Schrecken dabei. Keiner wagte, dagegen aufzutreten. Schließlich begann man aber zu plündern. Frauen schlugen sich um Unterkleider etc. Das Gleiche stellte Herr A. bei einem Schuhwarengeschäft fest.
Um 2 Uhr fuhr Herr A. von Westend mit der Stadtbahn nach Bahnhof Zoologischer Garten. Als er an der Fasanenstraße vorüberfuhr, sah er die noch brennende Synagoge. Ein Wagen der Feuerwehr stand davor. Es wurde aber nicht viel getan, um das Feuer zu löschen. Man war nur bestrebt, es nicht auf die angrenzenden Häuser übergreifen zu lassen. Das kleine Verwaltungsgebäude, in dem auch der Lese- und Hör-saal sich befindet, ist aber vollständig abgebrannt.
Ein Jude, der im Auto vorbeifuhr, wurde plötzlich von einer Horde junger Leute überfallen und in wenigen Augenblicken blutig geschlagen. Dann kam ein Polizeimotorfahrer, der Verletzte wurde in den Beiwagen gehoben, und man fuhr mit ihm davon. Ein Passant, der seine Empörung äußerte, wurde ebenfalls angegriffen und konnte sich noch knapp vor der Wut der Burschen retten. Es ist bemerkenswert, dass sich unter den Tätern nicht etwa nur gewöhnlicher Straßenpöbel befand, sondern Leute mit Parteiabzeichen. (Dies ereignete sich um 2 Uhr 10 Min. vor der brennenden Synagoge in der Fasanenstraße.)
Herr A. fuhr am Nachmittag nach Potsdam. Dort zeigte sich ihm dasselbe Bild: Alle jüdischen Geschäfte bis aufs letzte zerstört, die Synagoge verwüstet.
Die Bevölkerung sprach sich einzeln und nur im Geheimen gegen diese Pogrome aus. In der Arbeiterbevölkerung war man entsetzt über solche Schändlichkeit und fürchtete überdies, der Arbeiter werde die Verluste an Material durch Steuern und Entbehrungen entgelten müssen. Man sagte, selbst in so genannten nationalsozialistischen Kreisen, es sei selbst in der Spartakistenzeit in Berlin nicht so wüst zugegangen. Sie bedauerten, schweigen zu müssen, denn fastjeder ist irgendwie beruflich abhängig von der Partei.
Von der Partei aus ist dreimal in dem chemischen Betriebe nach Herrn A. gefragt worden und Erkundigungen über ihn eingeholt worden. Dies stand wahrscheinlich im Zusammenhang damit, dass er seinem Abscheu wiederholt Ausdruck gegeben hatte. Verschiedentlich äußerten sich aber auch Deutsche ihm gegenüber sehr empört und sagten, dass sie sich schämen müssten, Deutsche zu sein.
Bei der Ausreise aus Deutschland wurde Herr A. von SS-Leu-ten zwischen Bentheim und Osnabrück verhört und genau untersucht. Man befürchtete ersichtlich, dass er Aufzeichnungen über das Geschehene bei sich habe. Man behauptete, jeder Holländer sage, er nehme an wissenschaftlichen Kursen in Deutschland teil, er habe sicher Politik getrieben. Ob die Firma, bei der er gearbeitet habe, nicht eine jüdische sei etc. Die erwähnte chemische Firma, die übrigens eine Firma von Weltruf ist, hat in diesen Novembertagen die letzten jüdischen Angestellten plötzlich entlassen. Sie sollten eigentlich noch bis Ende des Jahres bleiben.
Der Ärztekursus wurde von einem Arier geleitet, der jedoch etwa folgendes sagte: Die Namen der jüdischen Erfinder Starkenstein und Neisser sind zwar nicht mehr erwünscht in Deutschland. Man müsse aber der Wahrheit dienen, und diese Erfinder hätten der Wissenschaft große Dienste erwiesen. Außer vielen deutschen Ärzten nahmen ein Holländer (Herr A.), ein Ungar und ein Türke an dem Kursus teil.
Von Österreichern hörte Herr A., dass man im Allgemeinen unzufrieden darüber sei, dass die guten Stellen in Händen der Reichsdeutschen sich befinden, die Österreicher seien dabei nicht gut weggekommen.
Als um 5 Uhr der Erlass von Goebbels herauskam, hörten die Zerstörungen noch nicht auf. Noch abends um 14 9 Uhr und noch später war man in der Friedrichstraße und in der Passage am Vernichtungswerk!
Die Angst der Juden war schon immer groß. Herr A., der vor diesem Pogrom in einenjüdischen Laden ging, wurde von der Inhaberin darauf aufmerksam gemacht, dass er als Arier doch wohl nicht bei ihr kaufen dürfe. Er musste sich erst als Holländer ausweisen.
Herr A. hat an der Zusammenkunft der katholischen Jugendvereine in der Camilluskirche am Karlplatz teilgenommen und hat mit der Geistlichkeit gesprochen. Einer der Geistlichen wies darauf hin, dass noch immer die katholische Kirche, wenn sie nur einig bliebe, eine große Macht bildet. Die Kirchen sind voll, und es herrscht eine gute Stimmung unter den Katholiken. Auch bei den Protestanten sei dies der Fall. Man erwartet aber auch Katholikenverfolgungen!
Ein Holländer, der sich empört geäußert hatte, wurde am Donnerstagabend verhaftet. Er sollte unter dem Versprechen, sich nicht mehr zu äußern, freigelassen werden, was er jedoch verweigerte.
Am Abend des 10. November standen vor j edem Geschäft, das zerstört war, ein Polizist und ein SS-Mann Wache.