Bericht über Fluchtversuche
Vermutlich im Frühjahr 1938 berichtet eine Berliner Jüdin mit Schweizer Pass über einen von Aachen aus unternommenen und gescheiterten Fluchtversuche nach Belgien sowie über ihre endgültige Ausreise über Basel, Frankreich und Luxemburg:
Heute will ich Euch rasch meinen Wildwestroman schildern. Also das erste Mal wurden wir im Bummelzug zur Grenze von der Gestapo auf Pässe kontrolliert - alle - und, da sie unseren Zweck errieten, zurückgeschickt. Beim zweiten Mal wurde von der Firma, die dieses macht, derselbe Weg zur anderen Zeit vorgeschlagen. Alles ging zuerst programmmäßig, wir gingen durch den abgekauften deutschen Zoll - wurden selbst nebst unseren Sachen kontrolliert, und nun hieß es rasch in ein Wirtshaus, drei Minuten von dort. Wir huschten abends in das Bahnhofsrestaurant, dessen Besitzer auch Inhaber des Wirtshauses ist, und von dort wollten wir einzeln verschwinden. Aber zwei Minuten später kommen gleich einige belgische Gendarmen, und da gerade ein Zug abgegangen war nach A. [Aachen] und wir noch im Wartesaal saßen, vermuteten sie unsere Absicht und rührten sich nicht von der Stelle. Es gelang uns zwar, uns zu verstecken, [wir] kamen aber nicht bis zum Wirtshaus, wurden mit Blendlaternen aufgefunden und mit noch fünf anderen Personen festgehalten, der deutschen Gestapo übergeben, die uns die Nacht und den darauf folgenden Tag ins Gefängnis steckte. D.h., es war ein Raum, eisig kalt mit dreimal zwei übereinanderstehenden Betten, besser Pritschen. Von außen war hübsch abgeschlossen, damit wir nicht verschwinden können. Wir waren vier Männer und drei Frauen. Ihr könnt Euch denken, wie einem zumute war, da man nicht wusste, ob man einen oder mehrere Tage dort zubringen musste. Ich war eigentlich ziemlich guten Mutes, so viel neues Interessantes zu erleben. Am nächsten Tag wurden wir von der Gestapo abgeholt, die mit uns in einem Ton, alles per Du, sprach wie mit Verbrechern, und zum Verhör mitgenommen. Zweieinhalb Stunden Kreuzverhör, aber ich war so ruhig dabei wie nie in meinem Leben. Aufgeregt hat mich nur der Passus, den ich zum Schluss unterschreiben musste, dass ich mich nie mehr da sehen lassen darf und mich verpflichten muss, nach Berlin zu fahren, sonst ich ins KZ oder Gefängnis käme.
Wieder in Aachen nun ohne M. angelangt, erholte ich mich erst zwei Tage, nahm mein Päckel und zog los mit zwei alten 65-jährigen Damen und einem Wiener Jungen von 18. Die Tour war von einer bekannt erstklassigen Firma, die man in A. und K. [Köln] als prima kannte, und darum gingen auch die alten Damen mit, bzw. der Führer wurde von dem Sohn der Dame, der viele Jahre in Belgien lebt, geschickt, und ich schloss mich an. Der Führer gab mir auf meine Frage, ob es auch sicher ginge, die Antwort, für ihn stände mehr auf dem Spiel als für uns, er arbeite an der Westfront- Spionagegebiet. Ich wusste also, als wir im Auto in der Finsternis wegfuhren, in welche Gefahr wir uns begaben. Nach halbstündiger Tour wurden wir abgesetzt und gingen, es war stockfinster, querfeldein durch völlig aufgeweichte Erde, sodass wir im Kot stecken blieben, durch Drahtverhaue. Plötzlich mussten wir stehen bleiben, uns verstecken, nicht sprechen, kaum atmen, um uns nicht zu verraten; dann ging's weiter wie anfangs, wieder durch Drahtverhaue, an denen man sich die Kleider kaputt riss. Nun ließ er uns an einem kleinen Haus am Gitter versteckt stehen und ging voraus, um zu sehen, ob alles sicher [wäre]. Er kam nicht wieder zurück, denn die Polizei hatte bereits Kenntnis von unserer Anwesenheit in diesem Gebiet und seiner Hilfe für uns.
An dem Häuschen saßen wir nun alle versteckt auf der Erde, um in der Dunkelheit nicht gesehen zu werden. Plötzlich wurde Licht im Haus, und eine Dame sah uns erschreckt auf der Erde liegen. Wir baten, sie möchte das Licht ausmachen, wir seien Juden, die nur herüberwollten - wir waren noch auf deutschem Boden, und sie tat das auch gleich, nachdem sie uns noch berichtete, dass das Häuschen ja Kriminalpolizei-Haus sei. Nach einer halben Stunde kam dann plötzlich ein großer Hund, der am Gitter an uns hochsprang, ein Licht flackerte auf, und ein Zollpolizist stand mit dem Revolver vor uns, Hände hoch, oder ich schieße. Dann Hände auf den Rücken und marsch, marsch. Man hatte nämlich das Auto, in dem wir gefahren waren, abgefangen - wie uns die Beamten selbst sagten - und den Chauffeur ausgefragt, da Spionagegebiet, wird dort alles kontrolliert, daher wusste man bereits längst von unserer Anwesenheit.
Wenn wir nicht J. gewesen wären, von denen man weiß, dass sie nichts weiter wollen als grün über die Grenze, wäre es uns schlimm ergangen, das dachte ich mir gleich. Den Führer hatten sie durch Patrouillen auch aufgefunden, und so wurden wir nach Verhör und Leibesvisitation noch nachts ins Polizeigefängnis in Aachen per Auto gebracht. Dort wieder stundenlange Verhöre - wieder unterschreiben den Passus, dass ich nach Berlin zurückmuss und mich nicht mehr an dieser Grenze blicken lasse, und wir hatten Glück, man ließ uns heraus, und wir waren um ½4 Uhr wieder im Hotel. Ich habe den Herren der Gestapo stets gesagt, dass mein ganzes Verbrechen darin bestände, dass ich zu meinem Mann und Kindern will, dass ich sowieso aus Deutschland ausgewiesen bin, und wie ich nun, da ich nirgends ein Visum bekomme, gehen solle, sie hätten selbst das Interesse, mich los zu werden. Die Antwort war, wir dürfen es nicht mehr gestatten aus außenpolitischen Gründen, und ich muss versuchen, Visen zu bekommen. Nun hatte ich es satt, und da ich fürchtete, nie mehr zu H. und den Kindern zu kommen, packte mich die Verzweiflung- so viel Pech auf einmal war zu viel. Ich setzte mich kurz entschlossen auf die Bahn, fuhr nach Köln.
Ich fuhr dann mit meinem Mann zu meinem Kind, wir haben ja Schweizer Pässe, über Basel, Frankreich, Luxemburg hierher. Wir kamen nach 20 Stunden Fahrt gut an. Das interessante Drum und Dran kann ich nicht schildern, sonst müsste ich Bücher schreiben. Jedenfalls immer, wenn man von so einer Tour zurückkommt, steht man ohne Geld da, denn man darf doch nur mit RM 10 - herüber, und damit, dass man, falls man zurückgeschickt wird, wieder Geld braucht, rechnet man nicht. Also es sind fürchterliche Zustände. Die Menschen sitzen dort tage-, manchmal wochenlang verzweifelt und warten auf die geeigneten Touren. Die gleiche Tour mit den zwei alten Damen, die bei meiner Anwesenheit platzte, machten die Damen nach langem Zureden ihres Sohnes und meinerseits drei Tage später mit einem anderen Führer - aber von derselben Firma gesandt und diesmal klappte es, und sie waren in zweieinhalb Stunden drüben auf belgischem Boden. Sie hatten mich diesmal wieder aufgefordert mitzugehen, und ich hatte es abgelehnt, da es die Grenze war, wo ich unterschrieben hatte, mich nicht mehr sehen zu lassen.