Fazit zum Pogrom
Dr. Ernst Plaut aus Essen zieht Ende Dezember 1938 eine Bilanz des Pogroms, seiner Vorgeschichte seit Sommer 1938 und seiner Folgen für ganz Deutschland:
Die Vorgänge vom 9. bis 11. November sind nach den in Deutschland gemachten Beobachtungen keinesfalls lediglich als Folge des Mordes in Paris anzusehen. Vielmehr ist die Tat Grynszpans lediglich der willkommene Anlass gewesen, um Maßnahmen durchzuführen, die bereits von langer Hand geplant waren. Auch feindselige Akte gegen jüdische Gotteshäuser hatten sich im Herbst in steigender Anzahl ereignet. Hierbei handelte es sich teilweise um „legale“ Akte. Die Synagogen in München, Nürnberg, Dortmund etc. sind teils „freiwillig“ von den Synagogen-Gemeinden veräußert, teils im Enteignungsverfahren enteignetworden. In Dortmund wurde als Gegenwert lediglich der Preis des Grund und Bodens in Höhe von RM 170000 - entrichtet, während für das bedeutende Gebäude nichts bewilligt wurde. Aber auch der Kaufpreis von RM 170000 - verfiel kurze Zeit darauf der Beschlagnahme, weil man beim Abbruch des Synagogengebäudes alte Flugblätter in einem Bodenraum entdeckt hatte, die dort ungeschickterweise gelegentlich einer Restaurierung des Gemeindehauses untergebracht waren.
Neben diesen wenigstens gesetzlich umkleideten Maßnahmen haben sich aber auch Beschädigungen und Einbrüche in Gotteshäuser schon vor dem 9. November, z. B. in Westfalen, mehrfach ereignet.
Ebenso sind bereits vor der Tat Grynszpans Steinbombardements und Demolierungen gegenüber jüdischen Privathäusern erfolgt. Derartige Vorgänge ereigneten sich z.B. schon im Sommer in Hülchrath (Rheinland), in Selm-Beifang (Westfalen) etc.
Nach dem Pariser Mord begannen Verwüstungen jüdischen Eigentums und Verbrennungen von Synagogen in der Provinz Hessen und Nassau bereits vor dem Tode des Verwundeten am 8. November.
Aus all diesen Anzeichen ergibt sich ebenso wie aus der Vergrößerung der bestehenden Konzentrationslager, dass die angeblichen Repressalien in gleicher oder ähnlicher Form auch ohne den willkommenen Vorwand ausgeführt worden wären.
Die Zahl der im November verbrannten Synagogen ist nicht zu ermitteln. In Westdeutschland kann festgestellt werden, dass kein jüdisches Gotteshaus seinem Schicksal entgangen ist. Der Grad der Beschädigungen ist allerdings sehr verschieden, bei den großen massiven Steingebäuden ist es z. T. lediglich zu einem Ausbrennen der Innenräume gekommen, während das Gebäude an sich intakt geblieben ist und gerade dadurch mit seinen leeren Fensterhöhlen einen gespenstischen Anblick bietet.
Die Zahl der Verhafteten und in Konzentrationslager Verbrachten dürfte sich auf etwa 35000 belaufen. Von diesen mögen Mitte Dezember 35% wieder entlassen gewesen sein. Es handelt sich im wesentlichen um Frontkämpfer und Personen, deren bevorstehende Auswanderung nachgewiesen werden konnte.
Die Behandlung der Verhafteten war sehr unterschiedlich, in Berlin scheinen Misshandlungen vor der Verbringung ins Konzentrationslager nicht oder nur verschwindend wenig vorgekommen zu sein, in Frankfurt haben sich in der Festhalle höchst unerfreuliche Szenen (Einzelexerzieren, Freiübungen von am Boden Liegenden und dergl.) abgespielt.
Die Zahl der gewaltsam Umgekommenen lässt sich unmöglich feststellen. Es sind getötet worden ein Dr. Levy, Polzin, der frühere Inhaber von Tietz, Fürstenheim, in Chemnitz, vier Einwohner von Hilden (Rheinland), der Cafehausbesitzer Marcus in Düsseldorf, dessen Ehefrau einen schweren Bauchschuss erlitt. Es sollen weiterhin getötet worden sein: Jacoby, Küstrin, und Bamberger, Nürnberg. Die Zahl der Selbstmorde ist außerordentlich hoch, drei derartige Fälle sollen sich in Würzburg ereignet haben; in München endete ein Mitinhaber des Bankhauses Aufhäuser durch Freitod, in Essen beging Rechtsanwalt Heinemann mit Frau Selbstmord, in Nassau ein alter Mann namens Stern etc. Eine Reihe von Todesfällen trat weiterhin bei älteren Menschen infolge der erlittenen Aufregungen ein.
Bankier Wallich, Paul von Schwabach, beide Berlin, Dr. Hartog, Hamburg.
Die Sterblichkeit in den Konzentrationslagern ist sehr erheblich, die Todesfälle nach dem Stand vom 1. Dezember sollen in Buchenwald 180, in Sachsenhausen-Oranienburg 44, in Dachau verhältnismäßig wenig betragen. Die Folgen der in der zweiten Hälfte Dezember eingetretenen Kältewelle lassen sich noch nicht absehen.
Unter den Verhafteten befinden sich die weitaus meisten Rabbiner, die, soweit sie ihren Beruf angegeben haben, häufig besonders schlecht behandelt worden sind. Der Rabbiner Klein, Düsseldorf, ist mit seiner Frau die Treppe hinuntergeworfen worden.
Durch zahlreiche Verhaftungen jüdischer Lehrer ist der Schulbetrieb teilweise völlig gestört worden.
Die wirtschaftlichen Folgen der Ereignisse sind unabsehbar. Die eingetretenen Sachschäden können auch noch nicht schätzungsweise ermittelt werden. Über die Auswirkung der sog. Sühneleistung kann gleichfalls noch nichts ausgesagt werden.
Neben diesen öffentlich bekannten Maßnahmen erfolgen aber Erpressungen, von denen nichts bekannt wird.
In Berlin erhalten vermögende Juden, die auswandern wollen, seit einiger Zeit ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung, die Voraussetzung für Erteilung der Pässe ist, nicht ohne weiteres. Sie werden zu einem Assessor Müller-Scholtes von der Stapo vorgeladen und zu Sonderspenden für den Graf-Helldorf-Fonds angehalten. Dieser Fonds soll angeblich zur Förderung der Auswanderung minderbemittelter Juden verwandt werden, doch ist bisher kein Fall bekannt geworden, wo aus ihm Mittel bereitgestellt worden wären. Die auf diese Weise erpressten Summen belaufen sich bereits auf acht bis zehn Millionen Mark. Versuche der Reichsvertretung, eine gewisse jüdische Kontrolle zu erlangen, sind gescheitert.
Derselbe Müller-Scholtes hat nach den Vorgängen des Novembers eine „Millionär-Liste“ aufgestellt, die übrigens vorwiegend eine Reihe nichtarischer Angehöriger der Hochfinanz aus längst getauften Familien (von Gwinner, Solmsen etc.) enthielt. Von den so ausgewählten Personen sollten fünf Millionen aufgebracht werden. Obwohl die jüdische Gemeinde für diese Zwecke eingespannt wurde, ist der Versuch gescheitert, nicht ohne dass Herr Müller-Scholtes Herrn Kozower gegenüber geäußert hätte: „Wenn die Millionen nicht Zusammenkommen, kostet es Ihre Rübe.“
All diese Vorgänge sind den Ariern in ihrer Gesamtheit völlig unbekannt. Lediglich Ausschnitte werden von den Einzelnen gekannt und finden starke Ablehnung.
Die Verarmung des Judentums schreitet in rapidem Tempo fort. Nach dem Januar 1939 ist kaum mehr Berufstätigkeit möglich, öffentliche Fürsorge fällt grundsätzlich vom gleichen Tag ab fort, bisher schuldfreie Mieträume können nur noch gegen Mietzahlung beibehalten werden. Die Schullasten bei Aufrechterhaltung des Unterrichts im bisherigen Umfange belaufen sich allein auf 25 Millionen Mark im Jahr.
Innerhalb der Gesamtbevölkerung häufen sich die Zeichen der Desorganisation und Korruption. Die Diebstähle innerhalb der Reichspost nehmen zu, die Überwachungsbeamten der Zollstellen zeigen - übrigens zum Nutzen der Juden - eine wachsende Neigung zur Bestechlichkeit.
Zwischen den Behörden spielen sich heftige Ressortkämpfe ab, es ist kaum möglich, einen wirklich legitimierten Verhandlungspartner zu finden. In Berlin finden Besprechungen gegenwärtig hauptsächlich mit Kriminalrat Gans vom Polizeipräsidium Alexanderplatz statt. Die Judenaktion scheint in den Händen des Obergruppenführers Wolf von der Reichsführung SS zu liegen. Ein jüdischer Gewährsmann, der Beziehungen zu maßgebenden SS-Kreisen hat, ist häufig in der Lage, über bevorstehende Maßnahmen vorzeitig Kenntnis zu geben.