Bericht über den Verlauf des Pogrom und Haltung der Bevölkerung
Kurz vor dem 15. Dezember 1938 erstattet eine nichtjüdische Deutsch-Amerikanerin, die in einer deutschen Hansestadt lebt, einen „Tatsachenbericht“ in Briefform über die Ereignisse des 9. November. Er wurde am 15. Dezember 1938 von Max Heimann (Brüssel) zur dauerhaften Aufbewahrung weitervermittet. Darin gibt sie einen allgemeinen Überblick über den Ablauf des Novemberpogroms in Deutschland, den sie für eine private Initiative Hitlers hält, über die Haltung der nichtjüdischen Bevölkerung und die Situation der in Konzentrationslagern und Gefängnissen Inhaftierten. Damit verbunden wird ein Aufruf an das Ausland, die bedrohten Juden aus Deutschland herauszuholen:
Was man von Deutchland nicht weiss
Das Ausland weiß viel von dem Martyrium der Juden in Deutschland. Es ist also überflüssig, das zu wiederholen, was bekannt ist. Das sind die Gesetze, Verordnungen und Verbote, die offiziell erscheinen. So hart diese sind, die deutschen Juden sind so eingeschüchtert, so geängstigt, so gehetzt, sie fänden sich damit ab, wie sie sich mit den Nürnberger Gesetzen abfanden. Schon diese Gesetze müssen dem Ausländer undurchführbar erscheinen. Aber sie sind durchgeführt worden, mit dieser unheimlichen Genauigkeit, die den Deutschen nie verlässt, auch nicht, wenn es gilt, die größte Grausamkeit zu verwirklichen. Diese bekannten Bestimmungen, die „legalen“, wie man sie in Deutschland nennt, würden von den deutschen Juden ertragen werden, einfach, weil sie - so paradox es klingt - das Land lieben wie kaum einer von den auserwählten arischen Deutschen, weil sie dort zu Hause sind und ihren Unterhalt verdienten, wenn auch seit Jahren sehr leise und im Verborgenen, weil sie wissen, wie wenig Platz es nur noch für Emigranten gibt und wie hart es ist, sich als solcher irgendwo auf der Welt durchzusetzen - und weil sie seit Tausenden von Jahren, mit Pausen, aber doch unaufhörlich, verfemt und gehetzt durch die Welt ziehen. Obgleich es immer Juden waren, die der Menschheit durch Erfindungen, wissenschaftliche und künstlerische Leistung Fortschritt und Gewinn brachten.
Wie man schon heute in Deutschland einen Stillstand feststellen kann, in Beziehung auf Leistung und Fortentwicklung auf jedem Gebiet.
Die legalen Gesetze nun sind nicht die, die es einem Juden unmöglich machen, in Deutschland zu leben. Es sind die ungeschriebenen, die vor den eigenen Volksgenossen mit geradezu bewundernswerter Geschicklichkeit verborgen werden. Das Volk weiß unheimlich wenig. Erzählt darf nichts werden, wer Tatsachen verbreitet, wird eingesperrt, mit der erstaunlichsten Gründlichkeit gequält, und es bleibt ihm kein Vorrecht des begünstigten Ariers. So wird geschwiegen, und nur selten sickert ein Tropfen Wahrheit in die Masse. Nur der Arbeiter weiß Bescheid. Er ist und war der Einzige, der politisch geschult war, er ist nicht antisemitisch, aber antinazi, doch er ist wehr- und machtlos und geknebelt durch Horden bestialischer Uniformierter und noch mehr durch getarnte Zivilisten, die Häscher der Geheimen Staatspolizei.
Die Judenverfolgung der letzten Wochen ist eine PRIVATAKTION des Führers. Keine Fürsprache Himmlers, des Führers der SS, keine Bitte Magda Goebbels' oder Emmi Görings vermögen irgendetwas zu mildern. Der Führer fühlt sich seit München in Sicherheit, dass kein Krieg ihn bedroht, so verwendet er seine ganze unheimliche Intensität auf die Judenfrage. Sein Hass gilt dem männlichen Juden. Entstanden in seiner frühen Wiener und Münchener Zeit, wenn er sich ohne Erfolg Frauen zuwandte, da er linkisch, gehemmt und körperlich unfähig ist, aber trotzdem nach Frauen und deren Besitz verlangt. Dem großen Beherrscher des Deutschen Reichs stehen natürlich die begehrten Frauen zur Verfügung. Dem unbekannten Mann von früher aber entglitten sie unaufhaltsam. Mehrmals wandten sich die von ihm umworbenen Frauen von ihm ab, jungen, frischen, lebensvollen jüdischen Männern zu. Daraus entstand einer der furchtbaren Wutkomplexe. Das Buch „Hitler“ von Rudolf Olden behandelt diese Geschehnisse in sachlichster Weise und wird von den frühen Mitkämpfern und Helfern Hitlers, die heute fast vollzählig gegen ihn stehen, als erschöpfend wahr bezeichnet. Eine neue Bestätigung der Lehre des großen Freud.
Grauenvoll in seiner Auswirkung ist dieser Wutkomplex. Und unaufhaltsam. Denn die Organisation ist gut wie keine andere. Jede amtliche Stelle sagt: PRIVATAKTION DES FÜHRERS ! Dieser selbst antwortete einem seiner ersten Mitarbeiter, der sich für zwei ihm bekannte, hochstehende Juden einsetzte'. „Wer meine Befehle mildert oder durchkreuzt, wird erschossen.“ Wer dem Führer von einer Milderung seiner Bestimmungen für einzelne Juden spricht, erlebt einen Tobsuchtsanfall Hitlers. Die unter seinen Fäusten in solchen Augenblicken zertrümmerten Stühle erreichen täglich eine erhebliche Zahl. Sein Arzt, der ihn psychiatrisch behandelt, besucht ihn nurmehr in Begleitung eines Assistenten. Sein Adjutant und nächster Vertrauter Brückner wurde aus einem Sanatorium entlassen, wo er eine Trinkerentziehungskur machen sollte, weil er einfach nicht zu bändigen war und in eine geschlossene Anstalt gehörte.
In den Händen dieser Männer nun liegt das Schicksal aller, aber auch aller deutschen Juden, deren man nur habhaft werden konnte. Offiziell weiß heute noch niemand in Deutschland, dass alle jüdischen Männer von 17 bis 65 Jahren gefangen wurden. Am 10. November begann die Jagd. Plötzlich. Ohne Grund oder auch nur fingierten Anlass. In der Nacht vom 9. zum 10. November brannten alle Synagogen in Deutschland. Nur einige wenige blieben, deren Brand kostbare Nachbargebäude gefährdet hätte. Vor einigen fuhr die Feuerwehr zu zeitig vor, um die umliegenden Häuser zu schützen. Die „Volkswut“ brach in ganz Deutschland präzise 2 Uhr 30 in der Nacht aus. Aber die SA hat Mütter, Bräute, Töchter, Schwestern, die von Mund zu Mund erzählten: „Die SA trug die Brandfackeln in die Tempel.“
In der gleichen Nacht erzwangen die Häscher der Geheimen Staatspolizei Einlass in die jüdischen Häuser, überrannten die, die ihnen die Türen öffneten, und drangen ohne Weiteres in die Schlafzimmer ein. Anschließend bei den Haussuchungen durchwühlten sie alles nach Waffen. Das Gesetz, dass ein Jude keine Waffen tragen dürfte, war am Tage zuvor erschienen. Dieser Abschaum der Menschheit, der sich der Geheimen Staatspolizei zur Verfügung stellt, führte sich unvorstellbar auf. Beschimpfte Frauen und Kinder in der unflätigsten Weise und gestattete in den seltensten Fällen, dass die verhafteten Juden sich richtig bekleideten. Viele wurden im Nachthemd auf die Straße getrieben und auf offene Lastautos geladen. Alle ohne das Nötigste, meist ohne Mantel und Hut. Off wurden auch Trupps verhafteter Juden durch die Städte getrieben, mit Provokateuren, die das Volk aufhetzten, das seien Betrüger und Vaterlandsverräter. Verhöre bei der Polizei und Staatspolizei. Stunden und Stunden mussten die Gequälten, Gesicht gegen die Wand, strammstehen. Wer nachließ, bekam Kolbenschläge. Zum Teil standen sie auch in den Höfen der Gefangenenanstalten, ungenügend bekleidet, im eisigen Wind, Gesicht gegen die Wand, sieben, acht Stunden. Bewegungslos. Wer einen Koffer mit dem Nötigsten bei sich hatte, durfte ihn weder absetzen noch die Arme auswechseln. Immer Kolbenschläge. Alter und Krankheit spielten keine Rolle. Nachts ohne Decken auf dem Boden der Gefängnisse, voller Ungeziefer. Völlig unzureichendes Essen. Bei den Verhören wurde nur „Judenschwein“ und „Du“ gesagt. Inhaber hoher Kriegsauszeichnungen wurden verhöhnt, wo sie sich die ergaunert hatten, und immerfort wurden sie angeschrien, sie würden erschossen.
Nach zwei bis drei Tagen brachte man die Unglücklichen zum größten Teil in die Konzentrationslager. In Viehwagen, Mann an Mann stehend, bis zu zwölf Stunden Fahrt, ohne Pause. Man genierte sich auch keineswegs, die unglückseligen Transporte an die offiziellen Züge zu hängen. Aber es rollten auch Züge von 30-40 Waggons gesondert durch das Land. Wer sollte etwas sagen?
Mehrmals passierte es in Berlin, München, Leipzig, Düsseldorf, Baden-Baden, dass bekannte Juden - Ärzte und andere -auf die Straße gezerrt und totgeprügelt wurden. Brachte ein arischer Passant den Mut auf, auch nur zu sagen: „Das ist aber zu viel“, wurde er so geprügelt, dass er auf einer Bahre weggetragen werden musste. Oder man schlug ihm die Zähne ein zum ewigen Gedenken. So hörten die Arier das Schreien der zu Tode gequälten Menschen und mussten voller Grauen schweigen.
Synagogen und Gemeindehäuser brannten. Die Geistlichen wurden teilweise in die Feuer hineingetrieben, zum Teil nicht herausgelassen. An manchen Orten mussten sie auf freien Plätzen in vollem Ornat „Vorstellungen“ geben: mauscheln, Knie beugen, Verbeugungen vor dem grölenden Mob. Immer mit Kolbenschlägen von hinten.
Gefangen wurde überall. Von der Straße weg, aus den Zügen heraus, in den Wohnungen und Hotels. Sah einer jüdisch aus, wurde er eben mitgenommen.
Die meisten sind nun in Lagern. Man weiß nichts von ihnen. Nur, dass sie schwer arbeiten müssen. Meist eine Stunde Marsch zur Arbeitsstelle, zehn Stunden schwere Arbeit, eine Stunde Marsch zurück und ins Lager. Nicht einmal in diesen zwölf Stunden Ruhe oder Sich-niedersetzen-Dürfen. Ins Lager durften sie nichts mit sich nehmen, kein Stück Wäsche, keine Seife, keinen Kamm. Einzelne ganz wenige kamen nach zwei bis drei Wochen zurück. Glückliche, für die ein Botschafter eines fremden Staates sich einsetzte. Sie erzählten nichts, nur von der großen Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit der bisherigen Lagerinsassen, die teilweise nun schon viele Jahre dort ihr Leben fristen.
Ein kleiner Teil der jetzt inhaftierten Juden ist in den Gefangenenanstalten untergebracht. Sie haben es in Bezug auf Behandlung besser, weil das alte Personal der staatlichen Gefängnisse anständig ist. Aber sie dürfen nicht arbeiten, nicht schreiben, nicht lesen, wie die Sträflinge. Die Pritschen werden früh um 5 Uhr hoch geschnallt, und sie müssen den Tag auf ihrem Schemel untätig sitzen. Ohne Unterschied der Schwerkriegsverletzten. An die Luft auf den Hof wie die Verbrecher dürfen sie nicht. Vermutlich, damit die Bewohner der umliegenden Häuser nicht bemerken, wer die Gefängnisse übervölkert.
Kein Advokat kann helfen. Anfänglich kamen die Angehörigen der Verschleppten zu den Rechtsanwälten, die versuchten zu helfen. Nach drei Tagen erschien ein Ukas: Kein Advokat darf sich für einen inhaftierten Juden verwenden. - Tut er's, wird er brotlos, wenn nicht eingesperrt.
So sind diese unglücklichen Männer der rohesten Willkür preisgegeben. Wie lange? Wer weiß das? Wie keiner weiß, wer noch lebt. Deutschland ist das Land der Tränen. Jeder ist bedroht. Jeder leidet - keiner kann helfen.
Es ist völlig bedeutungslos, ob ein Jude heute Kriegsfreiwilligerwar, die höchsten Kriegsauszeichnungen hat und noch vor wenigen Wochen im Falle eines Krieges Offizier in einem aktiven Regiment gewesen wäre. Schwerkriegsverletzte leiden Qualen, weil man keinerlei Rücksichten auf sie nimmt, sie quält und leiden lässt wie alle anderen. Ärzte für Inhaftierte gibt es nicht. Ein 65-Jähriger hatte Herzkrämpfe während der Verhöre. Man sperrte ihn mit einem ebenfalls verhafteten jüdischen Arzt in eine Zelle und sagte ihm: „Da hast du ärztlichen Beistand.“ Aber Medikamente und Spritzen gab es nicht.
Es ist dies ein zusammengerafifter Tatsachenbericht eines arischen Christen für Christen. Hilf deinem Nächsten. In Deutschland kann keiner helfen. Holt die Unglücklichen heraus. Wer eine Einreise in ein anderes Land hat, kommt aus dem Lager heraus. Wenn man nach endlosem Forschen ergründet hat, in welchem er sich befindet. Meist wissen es auch die Behörden nicht, wo der Einzelne ist.
Das Regime ist an Grausamkeit unvergleichbar mit irgendeinem früheren oder anderen.
Einige hochstehende Männer schenkten Europa in München den Frieden. Dieser Frieden brachte ein unsägliches Martyrium über Hunderttausende von Menschen. Keiner konnte das voraussehen. Aber nun kann nur das Ausland helfen. HELFT!