Menü
Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Pogrom in Erfurt, Kassel und weiteren Orten

Nach dem 12. November 1938 berichtet eine unbekannte Person in einem Brief Folgendes über den Beginn des Pogroms in Erfurt und Kassel, die Ausschreitungen in einem ungenannten Ort und die Vorgeschichte des Pogroms seit Mai 1938:

Du willst wissen, wie und was sich alles in X. zugetragen hat, an unserem schwarzen Donnerstag, dem 10. November 1938. Am 8. November haben die Horden schon in Erfurt, Kassel gewütet, an diesem Tage brachen sie auch in die hiesige Synagoge ein und haben nur die Kanzel umgeschmissen; wir dachten alle, der Fall wäre hiermit erledigt. Am 9. November war alles ruhig. Am 10. November, wir hatten gerade zu Nacht gegessen, gab es drei, vier wuchtige Schläge gegen die Haustür, die dadurch aufgesprengt wurde, herein kamen mit Äxten und schweren Hämmern vier von den Kerls mit dem Ruf: „Raus, raus, raus!“

Sie drangen in unsere Zimmer und dann: sämtliche Fenster mitsamt dem Holz eingeschlagen, die Möbel umgeworfen und draufgehauen, dann zogen sie wieder ab. Wir hatten uns während dieser Zeit zu unseren Hausleuten, welche arisch sind, geflüchtet. Keine zehn Minuten später kam eine Bande von ungefähr 15 Mann, es waren lauter Hiesige, städtische Beamte, Kaufleute usw., alles von der SA, aber alle in Zivil. Sie schlugen noch das Meiste kaputt, sie zogen ab, und eine Viertelstunde später kam die dritte Bande, vier große kräftige Halunken, die warfen alles zum Fenster hinaus, den Waschtisch mit einer schweren Marmorplatte, unsere guten Betten, Spiegel und Bilder, nichts wurde geschont, und wir mussten flüchten und saßen von 9 Uhr bis ¼ 3 Uhr hinten auf unserer Scheune, bis wir wieder herauskonnten.

Die Frauen mussten ins so genannte Nachtasyl, wo sonst die Handwerksburschen übernachten, und die Männer ins Gefängnis, bis alle wieder am anderen Morgen nach Hause konnten. Nun konnten wir unser Chaos sehen, es war nicht möglich, in ein Zimmer zu kommen, es lag alles zerstört drüber und drunter, kein elektrisches Licht brannte, die Fenster haben wir mit Pappe verschalt, bis nach einigen Tagen die Erlaubnis kam, dass die Handwerker für Juden arbeiten dürfen.

Es waren aber jüdische Familien, denen es noch schlimmer gegangen ist als uns. Das frühere reiche Bankhaus I<. hat am schwersten gelitten, so sollen über 100000 RM Kunstschätze vernichtet worden sein, und es sollen heute arme Leute sein. Das jüdische Altersheim ist innen vollständig zerstört. Die Synagoge ist innen alles entzweigeschlagen, die Thorarollen waren Gott sei Dank vorher gesichert.

Vergessen hätte ich beinahe zu schreiben, dass die Kerle unseren Rabbiner, der sehr fromm ist, auf einen Stuhl setzten und ihm den Bart abschnitten. Seine ganzen Kleider haben sie in den Keller geworfen, Gläser mit Marmelade darüber geworfen und mit Bettfedern überstreut; Letzteres hat die Bande fast in allen jüdischen Häusern getan.

Die ganze Sache war von langer Hand vorbereitet, im Mai mussten alle Juden die Waffen abgeben, im Juli kam die eidesstattliche Vermögenserklärung, dann kam der Pariser Mord, dies war das Signal, und nachdem alles entzweigeschlagen war, kam die 20%ige Vermögensabgabe, von der auch wir nicht verschont blieben, kein arisches Geschäft hat mehr was an Juden verkauft, selbst mein Friseur, der mich über 30 Jahre bedient hat, durfte es nicht mehr, obwohl er eine sehr anständige Gesinnung hat, aber die meisten Geschäftsleute hatten Angst.

Baum wird geladen...