Bericht aus Kassel
Die Gestapo für den Regierungsbezirk Kassel erstattet am 5. Januar 1935 folgenden Bericht für Dezember 1934:
Das jüdische Vereinsleben ist unvermindert lebhaft.
Geschäftlich versucht der Jude seine frühere Stellung mehr und mehr zurückzugewinnen. Im Viehhandel spielt er immer noch eine führende Rolle. Andererseits gibt es in den kleinen Städten und auf dem Lande eine immer mehr zunehmende Zahl von Juden, die der Armenpflege zur Last fallen.
In der Berichtszeit kam es verschiedentlich zu Kundgebungen gegen Juden, wobei mehrfach Fensterscheiben in Synagogen , Geschäften und Wohnungen eingeworfen wurden.
In der Judenfrage macht sich in letzter Zeit wieder stärker der Unterschied zwischen der staatlichen und parteipolitischen Behandlung des Antisemitismus bemerkbar. Obwohl die Staatspolizeistelle ihren Standpunkt zur Frage der Aufstellung von Tafeln mit antisemitischen Aufschriften klar zum Ausdruck gebracht hat (vgl. Lagebericht vom 5.12.34 III/F ) , wird von den Parteidienststellen das Aufstellen derartiger Schilder auf öffentlichen Straßen und Plätzen nach wie vor eifrig betrieben. Dabei werden diejenigen Gemeinden und Landkreise, in denen derartige Schilder häufiger zu finden sind, als nachahmenswerte Beispiele hingestellt. Den Behörden, die, höherer Weisung entsprechend, gegen eine solche Handhabung des Antisemitismus auftreten, wird dann vielfach Judenfreundlichkeit und nichtnationalsozialistische Gesinnung vorgeworfen. Die Staatspolizeistelle hat alle nachgeordneten Behörden nochmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Verfügung über die Judenschilder genau durchzuführen ist; gegebenenfalls muß die Durchführung mit Zwangsmitteln und Disziplinarmaßnahmen erzwungen werden. Den Landräten und Ortspolizeiverwaltern ist ihre Aufgabe erleichtert, indem sie sich auf Anordnungen der Staatspolizeistelle berufen können. Trotzdem aber müssen sie als unterste Exponenten der Staatsgewalt aus solchen Anlässen manchen unbegründeten Vorwurf und Angriff über sich ergehen lassen.
Auch die Durchführung der wiederholten scharfen Erlasse des Reichswirtschaftsministeriums betr. Boykott jüdischer Geschäfte stößt immer wieder auf Schwierigkeiten. Die Ortspolizeibehörden greifen vielfach aus Angst vor der Partei gegen Übergriffe, wie sie besonders vor Weihnachten vorgekommen sind, nicht genügend durch.