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Chronik und Quellen
1934
Juli 1934

Die Gestapo Kassel berichtet

Am 4. August 1934 erstattet die Gestapo Kassel für den Monat Juni folgenden Bericht:

Judentum

Die Judenfrage spielt im Bezirk der Staatspolizeistelle nach wie vor eine bedeutende Rolle. Im Geschäftsleben treten die Juden weiterhin stärker in Erscheinung. Den Viehhandel beherrschen sie wieder vollkommen. Wie die Staatspolizeistelle festgestellt hat und auch von der Landesbauernschaft bestätigt wird, ist der jüdische Einfluß im Viehhandel z.B. in Frankfurt am Main nicht annähernd so groß wie in Kassel und Kurhessen. Die Viehverwertungsgenossenschaften müssen große Anstrengungen machen, um sich gegenüber dem Juden, der beweglich ist und mit allen Mitteln das Geschäft an sich zu reißen versteht, zu behaupten. Bei der Landbevölkerung machen die Juden gute Geschäfte. Auch über nationalsozialistische Bauern wird gemeldet, daß sie heimlich außerhalb ihres Wohnortes mit Juden Geschäfte machen.

Bei den nationalsozialistischen Organisationen ist die Stellungnahme zur Judenfrage unverändert. Im Kreise Schlüchtern und in den Nachbargebieten ist durch die endgültige Enteignung der Seifenfabrik des Juden Wolf eine wesentliche Entspannung in der Judenfrage gekommen. In zahlreichen anderen Fällen ist es aber noch (vielfach auf Grund von Herausforderungen der Juden, dann aber auch wieder ohne besonderen Anlaß) zu Übergriffen und Ausschreitungen gekommen, und zwar durchweg in den kleinen Städten und auf dem Lande, wo der Jude in den vergangenen Jahrzehnten eine besonders unerfreuliche Rolle gespielt hat. Über die Einzelfälle habe ich jeweils mit Tagesmeldung Bericht erstattet. In kleineren Ortschaften ist wiederholt von Parteigenossen und Dienststellen der Bewegung zum Juden Boykott aufgefordert worden. Dabei sind mehrfach Namen von Personen, die bei Juden gekauft haben, listenmäßig zusammengestellt und durch Anschlag bekannt gegeben worden. Die Staatspolizeistelle ist dagegen eingeschritten. Zu immer wiederkehrenden Zwischenfällen kam es in Rhina, Kreis Hünfeld, wo die Einwohnerschaft fast zur Hälfte aus Juden besteht. Täter konnten bisher nicht ermittelt werden. Ich habe den Landrat ersucht, sich mit den zuständigen SA , SS , HJ Führern und politischen Leitern in Verbindung zu setzen und mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß die Störungen der öffentlichen Ordnung unterbleiben. In einer Gemeinde des Landkreises Hanau ist bei einem Juden ein Stück Vieh erschlagen worden. Die Ermittlungen nach den Tätern sind sofort mit Nachdruck aufgenommen worden. Die Sache wird dann an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden.

Das jüdische Vereinsleben ist außerordentlich rege. Besonders eng ist der Zusammenschluß im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten . Der Reichsbund setzt sich jetzt zusammen aus Kameraden (Frontkämpfern ), Altsoldaten (ehemalige Heeresangehörige) und aus Förderern (Gemeindeglieder, die die Arbeit des RjF unterstützen).

Der Gegensatz zwischen den Zionisten und den deutschen Juden tritt in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung, innerhalb der jüdischen Organisationen aber desto stärker. In letzter Zeit sind die zionistischen Frontkämpfer aus dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten ausgetreten, da der RjF die Ziele der deutschen Juden (ZV ) vertritt. Die Gegensätze treten auch innerhalb der Jugend hervor. Die Kinder der Angehörigen des RjF gehören sämtlichst dem ''Sportbund jüdischer Frontsoldaten'' und dem ''Schwarzen Fähnlein'' an. Für die hiesige Jugend hat ein jüdischer Hausbesitzer in seinem Hause eine Herberge eingerichtet, die aus Küche, Aufenthaltsraum und einem Schlafraum für etwa 10 Personen besteht. Sie wurde jedoch erst einmal von 4 Personen benutzt. Die Vereinstätigkeit der jüdischen Jugendorganisationen (insbesondere Schwarzes Fähnlein) ist infolge der Polizeiverordnung betr. die konfessionellen Jugendverbände bedeutend eingeschränkt worden. Die Bestimmungen der Polizeiverordnung werden von den Vereinen beachtet.

Vom 29.6. bis 1.7.34 fand in Kassel ein großes Treffen des Hechaluz , Bezirksgruppe Hessen Nassau statt. Zu diesem Treffen waren aus der Umgebung von Kassel in einem Umkreis von ca. 80 km 160 junge Leute erschienen, die sich zum größten Teil zur Ausbildung in der Landwirtschaft befinden. Aus Kassel nahmen ca. 100 jugendliche Personen teil. Den Abschluß dieser Tagung, die ohne Zwischenfälle verlief, bildete eine Kundgebung der Zionistischen Vereinigung Ortsgruppe Kassel. Dabei wurde betont, daß der ganze Gedanke des Zionismus gefährdet sei, wenn die ausgewanderten Juden von 1933 dächten, in Palästina wieder ihre Geschäfte so machen zu können, wie sie es in Deutschland getan hätten.

Die vom jüdischen Kulturbund Ortsgruppe Kassel fortlaufend veranstalteten wissenschaftlichen und musikalischen Vorträge sind über die Sommermonate Juni Juli eingestellt worden.

Neu ins Leben gerufen ist das ''Jüdische religiöse Kulturwerk für die Landgemeinden in Hessen und Hessen Nassau'' (Leiter ist ein Dr. Weil in Frankfurt a/Main). Es macht sich zur Aufgabe, die Mitglieder der jüdischen Gemeinden auf dem Lande im jüdischen Glauben eng zusammenzuhalten und durch religiöse weltanschauliche Vorträge weiter zu bilden.

Unangemeldete Versammlungen sind auch in jüdischen Privaträumen während der Berichtszeit nicht festgestellt worden. In den Kasseler Synagogen finden Versammlungen nicht statt und Erörterungen, die nicht religiös sind, werden nicht geduldet. Dagegen berichtet ein Vertrauensmann aus dem Kreise Marburg, daß die Juden in Kirchhain in der Synagoge Mitteilungen über die politische Lage usw. erhalten.

Die Stiftung und bevorstehende Verleihung des deutschen Kriegsehrenkreuzes hat unter den Juden große Freude hervorgerufen, da auch die jüdischen Frontkämpfer für die Verleihung in Frage kommen.

Bei der Überwachung der jüdischen Vereinstätigkeit konnte festgestellt werden, daß die Juden eifrig bestrebt sind, sich den Zeitverhältnissen anzupassen und ihre Stellung im nationalsozialistischen Deutschland allmählich zu stärken. Bei einer Versammlung sagte z.B. ein Redner: ''Wir können uns mit den Zielen, die sich die Besten des neuen Staates gesetzt haben, auf uns angewandt, nur einverstanden erklären und sie zu den unsrigen machen, um ein neues deutsches Judentum zu schaffen, das den Stürmen dieser Zeit Stand zu halten vermag.'' In der Praxis werden diese Grundsätze verwirklicht durch Schaffung der einheitlichen Reichsvertretung , durch kulturelle Erneuerung des Judentums, durch Belehrung und Schulung in Form von Vorträgen des jüdischen Kulturbundes, durch Förderung der jüdischen Erwachsenenbildung und religiöse Schulung durch das jüdisch religiöse Kulturwerk, durch bündische Erziehung der Jugend, Zusammenfassung der jüdischen Wohlfahrtspflege (Hilfe für Mutter und Kind) usw.

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