Das Gestapa Berlin berichtet
Am 17. Juni 1934 erstattet das Gestapa Berlin folgenden „Lagebericht“:
Über die Gesamtjudenbewegung im Welt- und deutschem Maßstabe.
Statistik
Vor dem Kriege waren in Deutschland etwa 550.000 Juden in Deutschland ansässig, von denen nach 1870 etwa 30% aus dem Osten nach Deutschland zugewandert waren. Ein großer Teil dieser Ostjuden blieb in den östlichen Provinzen des Reiches sitzen und strömte nach Ende des Weltkrieges nach Westdeutschland. Bereits während des Krieges zeigte sich eine allerdings statistisch nicht erfaßbare Ostjudenzuwanderung. Sofort nach dem Kriege strömten die Juden aus allen Ostländern nach Deutschland; den Hauptstrom bracht die Inflationszeit. In der Deflationszeit und mit dem Beginn der inflationistischen Erscheinungen in den Westländern setzte wiederum eine Auswanderungsbewegung dieser Ostjuden nach Belgien, Frankreich usw. ein. Als weitere Erscheinung ergab sich, eine starke Binnenwanderung aus der Provinz nach den Großstädten, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Bei der riesigen Zahl der nach Deutschland gekommenen Ostjuden, den späteren Einbürgerungen, Verheiratungen und Mischehen ist eine zuverlässige statistische Bewegung der Zugewanderten - Ostjuden - nicht möglich. Ihre Zahl wird auf etwa 100.000 geschätzt.
Bei der Ernennung des Führers zum Reichskanzler, aber auch schon einige Zeit vorher waren die ersten Anzeichen für eine Judenemigration - die Juden sagen selbst scherzhaft Semigranten - zu verzeichnen. Man nimmt an, daß bisher insgesamt aus Deutschland 100.000 Juden ausgewandert sind, weitere 100.000 dürften aus der Kleinstadt nach den Großstädten innerhalb des Reiches verzogen sein, sodaß auch hier eine genaue Statistik nicht möglich ist. Die Spitzenorganisation der Juden beobachtet seit längerer Zeit mit großer Besorgnis diese Binnenwanderung die eine große Erschwerung für die berufsmäßige Umschichtung ist.
Verhalten der Juden nach dem Umsturz vom sozialen Standpunkt
Die nationale Erhebung hat die sozialen Positionen des Judentums schwer getroffen, da selbst solche Maßnahmen der Regierung, deren Tendenz gar nicht gegen die Juden gerichtet sind, die Wirtschaftstellung der Juden auf das Schwerste berührten. So z.B. die Organisationen des Nährstandes die den zu 70% jüdischen Getreide- und Eierhandel stillegten, da der Jude bekanntlich in allen diesen Zwischenhandelsberufen prominent vertreten war. Die gesetzlichen Maßnahmen der Regierung gegen die Juden haben diese gar nicht so schwer betroffen, als gerade die sich aus der anderen Gesetzgebung ergebende Verengung des wirtschaftlichen Lebensraumes. Die Auswanderungserscheinung war daher nicht bloß bei dem Akademikertum, sondern auch bei den übrigen jüdischen Mittelständen zu verzeichnen. Die Juden im Auslande bilden für die Emigranten Hilfskomitees, die trotz vielfacher internationaler Konferenzen nie erfolgreich arbeiteten und fast alle bereits wieder liquidiert sind. Aus diesem Gesichtspunkte heraus kann z.B. von der Zahl der gesamtauswandernden [sic] Juden die nicht nach Palästina gingen ein weiteres Drittel als Durchgangswanderer nach Palästina bezeichnet werden.
Das von weitsichtigen Juden seit vielen Jahren stark diskutierte Problem der ungünstigen sozialen Schichtung der Juden in Deutschland wurde nach dem April 1933 bis heute deren Hauptthema. Man wollte die Juden und zwar Erwachsene wie Jugendliche zu Handwerkern und Landwirten umschichten. Es ergab sich jedoch, daß die finanziellen Aufwendungen und die persönlichen Eignungen des Einzelnen hier hinderlich wurden. Man kann daher feststellen, daß der Jude in Deutschland nach wie vor hauptsächlich im Handel sein Broterwerb sucht. Die übrigen Fragen der Umschichtung und Auswanderung werden bei den politischen Betrachtungen behandelt.
Politisches Verhalten der Juden nach dem Umsturz
staatspolitisch:
Der Jude hat in Deutschland weder offen noch versteckt versucht, die staatspolitischen Veränderungen zu beeinflussen. Man konnte allgemein feststellen, daß jeder Jude sich auf die Erhaltung seiner eigenen Existenz beschränkte und im übrigen soweit er finanziell dazu im Stande war sich auf die Unterstützung der Wohlfahrtseinrichtung beschränkte.
Die führenden Instanzen des Judentums waren krampfhaft bemüht, ihre Glaubensgenossen so zu beeinflussen, daß jeder Rückschlag auf die inländischen Juden vermieden wurde. Das Judentum im Ausland wurde bestürmt jeden Boykott, oder sonstige Aktion einzustellen. Demgegenüber erklärten die ausländischen Juden, daß sie sich bei den Vorfällen in Deutschland über eine Frage des Gesamtjudentums handele [sic]. Die Juden im Ausland könnten auf die Juden in Deutschland keine Rücksicht nehmen. Das ausländische Judentum verteidige seine eigenen Positionen. Die Mächte des Auslandes müßten sehen, daß kein Land der Welt den Antisemitismus zum Staatsprinzip erheben dürfe, ohne selbst dabei Schaden zu erleiden. Der revisionistische Führer Jabotinsky hat in einer Rede erklärt, daß er den Boykottkampf gegen Deutschland selbst dann nicht abbrechen werde, wenn alle Juden in Deutschland darüber in Deutschland zu Grunde gingen.
wirtschaftspolitisch und innerjüdisch:
Die wirtschaftspolitische Tätigkeit der Juden in Deutschland blieb auf Wohlfahrts- und Umschichtungswesen beschränkt. Außerdem unterstützte man die Auswanderungsbestrebungen solcher Juden, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland wollten. Die Auswanderer nach Palästina wurden hauptsächlich von den Zionisten mit ihren Institutionen gefördert. Die Auswanderung nach anderen Ländern unterstützte der ''Hilfsverein der deutschen Juden ''. Auf die Tätigkeit dieser Organisationen wird im Zusammenhang mit deren Behandlung eingegangen.
Das Judentum und seine Organisationen
Richtungen und Organisationen im Weltmaßstabe
Das Judentum in seiner Doppelrolle als Religion und Volk hat eine Überorganisation und einen babylonischen Turmbau von Richtungen zu verzeichnen. Die Judenbewegung in Deutschland kann in ihrem Gesamtumfange nur verstanden werden, wenn man sie international betrachtet, da alle Richtungen und Bestrebungen des Judentums ihren organisatorischen Niederschlag im Weltmaßstabe gefunden haben. Bei diesen Organisationen ist eine statistische und graphische Aufstellung eine Unmöglichkeit, da alle Verbände pp. sich auf dem Gebiete von Religion und Politik, aber auch des Wohlfahrtswesens überschneiden.
Behelfsmäßig kann man folgende Gliederungen vornehmen, die was voraus zu setzen ist nicht in allen Fällen nicht ganz zutrifft [sic], weil eben die drei Gebiete, Religion, Politik und Wohlfahrt ineinander verlaufen:
Religiöse Richtung
politische Richtung
Carita-(Wohlfahrtswesen)
Die wichtigste und gefährlichste Organisation des Judentums ist die jüdische Weltloge ''Independent Order Bnei Brith '' (IOBB - in Deutschland UOBB) Diese zerfällt in Weltloge und Großlogen. Die Großlogen sind die Spitzenorganisationen der Länder. Diese wiederum zerfallen in bezirkliche und örtliche Logen, neben denen die verschiedensten Frauen und Wohlfahrtsvereine bestehen. Dieser jüdische Freimaurerorden, in Amerika begründet vereinigt in sich Wohlfahrt, Religion und Politik. Seinen Wirkungskreis zu erfassen ist selbst kaum den Präsidialmitgliedern der Großlogen möglich.
An politischen Richtungen sind zu unterscheiden: Assimilanten und Zionisten neben denen die sogenannten Trennungsorthodoxen als eine Welt für sich da stehen. Diese sind sowohl Zionisten als auch Assimilanten.
Der Zionismus, begründet von dem verstorbenen Wiener Journalisten Theodor Herzl erstrebt die Errichtung Palästinas als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes auf dem Wege über nationale und kulturelle Renaissance. (Wiedergeburt) Organisatorisch gibt es zweierlei Weltkörperschaften des Zionismus: Die zionistische Weltorganisation und seit der Gründung des Völkerbundes die ''Jewish Agency ''. Die zionistische Weltorganisation mit dem Sitz in London und Jerusalem ist einer überstaatlicher Staat. Seine Verfassung demokratisch-parlamentarisch kennt Parteien mit eigenen festgefügten Organisationen, ein Weltparlament (Zionistischer Weltkongreß) eine eigen Regierung (Exekutivkomitee) einen ständigen parlamentarischen Ausschuß (Aktionskomitee). Daneben bestehen zwei internationale Geldinstitute jüdischer Nationalfonds, (KKL- Keren Kajemet Lejisroel ) und jüdischer Grundfonds (KH- Keren Hajessod ). Diese sind in allen Ländern vertreten und bringen die Gelder zum Ankauf von Grund und Boden in Palästina auf. Dieser Boden wird dadurch Nationaleigentum des jüdischen Volkes, ist unverkäuflich und wird in Erbpacht vergeben. Neben der Weltorganisation und ihren Landesverbänden bestehen eine Frauenorganisation (''WIZO '' Womens [sic] International Zionist Organisation) eine Sportbewegung ''Makkabi-Weltverband '' eine Auswanderervorbereitungs- und Umschichtungsorganisation ''Welthecaluz'' [sic] eine Studentenbewegung und eine kaum übersehbare ineinander verschachtete Jugendbewegung. Der politische Zionismus zerfällt in folgende Parteien: (von rechts nach links) - Weltunion der Revisionisten und Zionisten. Die Weltunion gehört zwar der zionistischen Weltorganisation nicht mehr an, beteiligt sich aber an den Kongreßwahlen und ist im Aktionskomitee vertreten. Die Revisionisten sind eine faschistische Bewegung, die Palästina an [sic] selbständigen Judenstaat unter vollständiger Verdrängung der Araber, Unterdrückung aller Klassenkämpfe und Ausdehnung des Judenstaates auf beiden Seiten des Jordans - also auch auf das jetzt französische Mandatsgebiet fordern. Eine eigene militärische Organisation ''Brith Trumpeldor'' benannt nach einem gefallenen ehemaligen russischen Offizier stellt das Hauptmoment dieser Bewegung dar. Der Revisionismus stellt den politischen Mord als eine Heldentat dar, wenn dieser im Interesse des Volksganzen geschieht. Religiös ist der Revisionismus mit der Orthodoxie befreundet. Ein Ableger der Revisionisten sind die sogenannten ''Judenstaatszionisten'', nicht zu verwechseln mit den deutschen Staatszionisten . Diese wollen bei gleichen Grundprinzipien nicht die zionistische Gesamtorganisation verlassen. Beide Gruppen stehen in Opposition gegen die heutige zionistische Leitung. Die Vertretung der religiösen Zionisten orthodoxer Prägung ist der ''Misrachi Weltverband'', der das Primat der Religion in der zionistischen Politik fordert. Er entspricht vergleichsweise dem rechten Flügel der früheren Zentrumspartei in Deutschland.
Der ''Misrachi'' in Palästina und Westländern nur kleineren Umfangs hat seine Hauptstärke in den Ostländern. Er hat eine religiöse Arbeiterbewegung, den ''Hapoel Hamisrachi'' (Religiöser Arbeiterbund). Politisch arbeitet der Misrachi mit den Revisionisten eng zusammen, hat aber auch wiederum Querverbindungen zu der noch zu beschreibenden Trennungsorthodoxie. Als bürgerliche Parteien bestehen im Zionismus die Allgemeinen Zionisten Gruppe -A und Gruppe -B. Diese sind etwa als liberal und nationalliberal zu bezeichnen. Links steht die Arbeiterpartei mit der Gewerkschaft (Poale Zion und Histadruth ) der, ein großer Teil der Jugendbewegung die ländlichen Genossenschaften und der Hechaluz angeschlossen sind. Ganz links davon und nicht innerhalb der zionistischen Weltorganisation steht die ''Poale Zion'' die Partei des Kommunismus in Palästina, allerdings auch nicht Mitglied der dritten Internationale, die araberfreundlich orientiert ist. Eine offizielle kommunistische Partei gibt es in Palästina außerdem, sie besteht aus Juden und Arabern.
Die Organisationen der ''Jewish Agency '' sind im Mandatsbeschluß des Völkerbundes als die völkerrechtliche Vertretung der Juden in Palästinafragen gegenüber den Juden selbst als eine Art Judenregierung aber auch gegenüber dem Völkerbund und der Engl. Mandatsregierung und dem Königreich Großbritannien anerkannt. Anfänglich war die ''Jewish Agency'' identisch mit der zionistischen Weltorganisation. Seit einer Reihe von Jahren wird die ''Jewish Agency'' zu gleichen Teilen von Zionisten und solchen Nichtzionisten zusammengesetzt, die zwar Palästina nicht selbst für sich wollen, andererseits aber die Wichtigkeit einer nationalen Heimstätte in Palästina anerkennen. Diese Zusammensetzung ist innerhalb der zionistischen Organisation viel umstritten, wird aber in absehbarer Zeit nicht abgeändert werden, da sonst die nichtzionistischen Juden ihre Geldmittel für den Palästinaaufbau nicht hergeben werden.
Eine Organisation für sich bildet der ''Agudas Jisroel Weltverband''. (Gesamtverband der religiösen Israeliten) - Diese Richtung ist sowohl politisch als auch religiös orientiert. Im Jahre 1912 in Kattowitz gegründet stellt diese Organisation die religiöse und politische Vertretung derjenigen Juden dar, denen die Erfüllung der religiösen Vorschriften nicht dem Geiste, sondern den Buchstaben nach das oberste Prinzip ist. Diese Organisation lehnte bisher den Zionismus als Idee vollständig ab, weil nur der Messias die Juden nach dem heiligen Lande zurückführen wird. Unter dem Druck der Zeitverhältnisse erklärt man heute, daß eine Rückwanderung nach Palästina wünschenswert ist, wobei man jedoch die zionistische Weltorganisation wegen ihrer religiös nicht interessierten Haltung bekämpft. Andererseits nimmt man aber Zertifikate von den Zionisten gern entgegen. Der organisatorische Aufbau dieser Organisation gliedert sich in Weltverband und Landesverbände. Neben denen wiederum eine internationale landesverbandlich gegliederte Jugendbewegung besteht. Der Weltverband wird geleitet von a) rabbinischer Weltrat, b) Präsidium, Zentralrat und Exekutivkomitee. Geschäftsausschuß und Generalversammlung. Die Leitung der Landesverbände ist ebenso gegliedert. Präsident der Weltorganisation ist der Verlagsbuchhändler Jakob Rosenheim in Frankfurt/Main. Die Agudas Jisroel versucht, den Misrachi aus der zionistischen Weltorganisation herauszubekommen, um mit ihm zusammen Palästina nicht als Land der Nation, sondern als Land der Religion zu errichten.
Der Agudas Jisroel als Gegenpol steht die ''World Union for progressive Judaism'' (Weltverband für das liberale Judentum) Sitz London gegenüber. Diese Organisation der selbständige Verbünde in einigen westeuropäischen Ländern und in der USA angeschlossen sind, will die jüdische Religion nicht in Buchstaben, sondern dem Geiste nach liberal reformieren, wobei der linke Flügel soweit geht, daß vom Judentum eigentlich nur soviel übrig bleibt, daß es als eine christliche Kirche ohne Christus zu bezeichnen ist. Diese Weltunion ist politisch identisch mit der Assimilation und als deren Internationale zu bezeichnen. Eine ausgesprochene Assimilationsinternationale gibt es jedoch nicht. Beachtenswert ist übrigens, daß liberalreligiöses Judentum nicht im Gegensatz zum Zionismus steht. Eins der Hauptländer des liberalen Judentums ist von jeher Deutschland gewesen.
Liberales Judentum kann mit einem Wort bezeichnet werden, nämlich ''Orgelsynagoge''. Mit der verstärkten Einwanderung von Juden nach Palästina hat sich dort eine liberale Orgelsynagoge konstituiert. Demgegenüber steht aber das in Deutschland gerade die liberalen Kreise im Judentum auch diejenigen sind, die den Zionismus am stärksten bekämpfen. Aus diesem Sinne heraus ergibt sich, daß die ''Allgemeinen Zionisten'' neben ihrer Rolle als Vertreter des bürgerlich-liberalen Zionismus auch die Vertretung des religiös liberalen Zionismus werden dürften, bei denen der Hauptunterschied zu den Assimilationsliberalen der Gebrauch der hebräischen Sprache sein wird, während die religiös liberalen Juden die Bevorzugung der deutschen Sprache im Gottesdienst zu fördern suchen.
Richtungen und Organisationen des Judentums in Deutschland
Auch hier überschneiden sich wiederum die Gebiete von Politik, Religion und Wohlfahrtswesen. Die Organisationsform auf religiösem Gebiet ist die Synagogengemeinde , die in allen deutschen Ländern als Körperschaft des öffentlichen Rechtes fungiert. Hier gibt es wiederum zwei völlig von einander getrennte Religionsgruppen, nämlich die Einheitsgemeinden und die Separatgemeinden. Zur Erläuterung soll, weil am deutlichsten die Organisationslage in Berlin aufgeführt werden. Es gibt hier 1. die ''Jüdische Gemeinde in Berlin''. Sie ist eine Einheitsgemeinde, d.h. in ihr sind sowohl Liberale als auch konservativ orthodoxe Juden vorhanden. Demgemäß unterhält die ''Jüdische Gemeinde in Berlin'' orthodoxe Synagogen und liberale Synagogen. Der Unterschied besteht sowohl in verschiedenen Gebetsformen als auch in dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Orgel. Dieser jüdischen Gemeinde gehört nach dem Judengesetz jeder in Berlin wohnende Jude an. Etwa um das Jahr 1850 herum erklärten die orthodoxen Juden daß sie es mit ihrem religiösen Gewissen unvereinbar halten, einer Religionsgemeinde anzugehören, in der liberale Gottesdienste abgehalten werden. Es wurde daher im Judengesetz die Möglichkeit geschaffen, daß ein Jude aus der Einheitsgemeinde seinen Austritt erklären kann ohne den Austritt aus dem Judentum selbst zu vollziehen. Hierdurch bildet sich in Berlin die zweite Religionsgemeinde der Juden, nämlich die ''Israelitische Synagogengemeinde Addas [sic] Jisroel ''.
Diese in letzterer Gemeinde religiös organisierten Juden sind aber im großen und ganzen wieder identisch mit den Kreisen in der ''Agudas Jisroel'' über die vorstehend unter 4a berichtet wurde. Diese Gruppe von Juden bezeichnet sich selbst als ''Unabhängige Orthodoxie''. Im täglichen Sprachgebrauch der Juden nennt man sie Austritts- oder Trennungsorthodoxie.
Diese jüdischen Gemeinden beider Richtungen haben wiederum ihre getrennten Spitzenorganisationen. Die Einheitsgemeinden in denen liberale und orthodoxe Juden zusammengefaßt sind, haben ländermäßig als Spitzenorganisationen sogenannte Landesverbände , d. ist für Preußen der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden. Diese Landesverbände sind wiederum in der Reichsvertretung der Landesverbände jüdischer Gemeinden zusammengefaßt, die aber nicht mit der Reichsvertretung der deutschen Juden identisch ist. Die unabhängige Orthodoxie hat wiederum ihre eigenen Landesverbände, so in Preußen, den Preußischen Landesverband gesetzestreuer Synagogengemeinden, Sitz Halberstadt, mit der Spitzenorganisation den Reichsbund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden .
Über diese beiden Richtungen besteht der ''Deutsch-Israelitische Gemeindebund in Berlin''. Dieser regelt das Besoldungs-Pensions und Anstellungswesen der Kultusbeamten und Lehrer. Außer diesen offiziellen Gemeinden bestehen eine Unzahl Sekten ähnlicher privater Synagogenvereine. Für das Bildungswesen der Rabbiner , Religionslehrer und Kantoren haben die beiden Hauptrichtungen wiederum getrennte Institutionen, deren Träger auch wieder selbständige Vereine, Gesellschaften u.s.w. sind. Neben den religiösen getrennten Richtungen besteht für beide gemeinsam die ''Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden '' die allein wiederum in ca. 1000 Neben- und Unterorganisationen gegliedert ist. Neben Orts und Provinzialausschüssen und Verbänden bestehen unzählige Fachvereine und Gruppen. In der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden vereinigt sich das gesamte Wohlfahrtswesen.
Der ''Reichsausschuß jüdischer Jugendverbände '' vom Jugendführer des Deutschen Reiches als Spitzenorganisation anerkannt und wiederum in Landes und Ortsausschüsse gegliedert, umfaßt die jüdischen Jugendvereine und Jugendbünde aller Richtungen religiöser und politischer Natur. Zentralwohlfahrtsstelle und Reichsausschuß der Jugendvereine sowie Deutsch israelitischer Gemeindebund sind die einzigen Einheitsorganisationen des Judentums in Deutschland.
Neben den nach den beiden Hauptrichtungen getrennten Religionskörperschaften bestehen wiederum religionspolitische Parteien im deutschen Judentum. Die Trennungsorthodoxie hat die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums e.V. Sitz Frankfurt/M, die alle Interessen religiöser Natur der Trennungsorthodoxie vertritt soweit diese nur deutsche Juden angehen. Die liberalen Juden haben für diese Zwecke die ''Vereinigung für das religiöse liberale Judentum e.V. '' in Berlin und die Zionisten aller Schattierungen die sogenannte jüdische Volkspartei . Diese drei Institutionen wiederum in Bezirks- Landes und Ortsgruppen gegliedert stellen eine Art Wahlvereine für die Wahlen zu den parlamentarischen Körperschaften der Religionsgemeinden dar.
Während im vorstehenden Abschnitt die religionsrechtlichen Körperschaften und die religionspolitischen Organisationen geschildert wurden, kommen nunmehr die jüdisch-politischen Institutionen zur Schilderung. Diese sind noch weit mehr zerklüftet und gespalten. Nach der nationalen Erhebung wurde zunächst die Reichsvertretung der deutschen Juden gegründet, die alle Organisationen und das gesamte Judentum in Deutschland nach außen hin insbesondere dem Staate gegenüber vertreten soll. Da aber die Trennungsorthodoxie befürchtete, daß sie mit ihren Sonderinteressen dabei nicht genügend vertreten sein würde, so wurde neben dieser Reichsvertretung der deutschen Juden noch eine Vertretung der ''Unabhängigen Orthodoxie Deutschlands'' gegründet. Der Reichsvertretung der deutschen Juden und der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden gemeinsam unterstellt, sind wiederum der ''Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau '' und die Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe unterstellt. Naturgemäß haben diese beiden Stellen wieder örtliche und bezirkliche Unterausschüsse konstituiert. Alle diese Körperschaften sind zu dem Zwecke geschaffen, die Belange der Juden zu vertreten und allen denjenigen Juden zu helfen, die durch die nationale Erhebung in ihren Erwerbszweigen betroffen wurden. Diese erhalten auch alle Geldsendungen der Judenorganisationen des Auslandes.
Die politischen Richtungen des Judentums in Deutschland zerfallen wiederum in die beiden Hauptgruppen, Assimilanten oder Deutschjuden und Zionisten oder Nationaljuden. Die Organisation der Assimilanten sind 1. Verband nationaldeutscher Juden . Etwa 1920 gegründet will er das Judentum lediglich als Religion gewertet haben und eine Art NSDAP der Juden sein. Sogenannte Wehrsportabteilungen sind der SA nachgeahmt. Dieser übrigens kleine und unbedeutende Kreis ist an jüdischen religiösen Dingen vollständig uninteressiert. Man hat dort nur das eine Interesse, nämlich im Deutschtum aufzugehen. Gerade weil dieser Verband sich deutscher als die Deutschen gebärdet dürfte er als die politisch gefährlichste Richtung der Juden zu betrachten sein. In unzähligen Versammlungen zu denen man planmäßig Angehörige der NSDAP einlädt, sucht man zu beweisen, daß dieser Kreis von Juden so deutsch sei, daß er sich vom Deutschen Volke in nichts unterscheidet, während alle anderen Juden von der Regierung als Ausländer zu behandeln wären. Ein Konkurrent dieser Organisation ist die ebenfalls ziffernmäßig nicht starke Erneuerungsbewegung der jüdischen Deutschen, die erst im Herbst 1933 gegründet wurde. In ihr vereinigen sich hauptsächlich die Kreise des religiös-liberalen Judentums zum Kampfe gegen den Zionismus. Auch diese Organisation ist bestrebt, eine zweite Emanzipation der Juden in Deutschland zu erreichen, d.h. also die Rassengesetzgebung der Reichsregierung rückgängig zu machen. Die dritte derartige Organisation ist der ''Reichsbund jüdischer Frontsoldaten '', 1919 gegründet war er ursprünglich eine Art jüdischer Kriegerverein, in dem Assimilanten und Zionisten einträchtig zusammen saßen. Allmählich hat dieser Bund sich zu einer Organisation der Zionistenbekämpfung herausgebildet. Besonders bemerkenswert ist, daß der RjF nicht nur eigentliche Frontkämpfer und Kriegsteilnehmer aufnimmt, sondern auch Nichtsoldaten als fördernde Mitglieder organisiert. Als Gegengewicht gegen die zionistisch organisierten Makkabi -Kreis und die zionistischen Jugendvereine hat der RjF einen eigenen Sportbund mit 120 Vereinen im vergangenen Jahre gegründet. Auch der Bund ''Deutschjüdischer Jugend'' untersteht wenn auch nicht satzungsgemäß, so doch tatsächlich dem Einfluß des RjF.
Eine der ältesten jüdisch-politischen Organisation ist der ''Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens '' dessen Name nicht nur das Programm klar aufweist, sondern auch zeigt, daß es sich hier ebenfalls um eine Organisation handelt, die im Gegensatz zum Zionismus bisher gestanden hat. Dieser schroffe Gegensatz ist jedoch durch die Ereignisse der letzten 14 Monate herabgemindert worden, zumal der CV jetzt in erster Linie darauf beschränkt, den Juden deutscher Staatsangehörigkeit wirtschaftlich-juristische Vertretung und Beratung zu gewähren.
Über den deutschen Landesverband der ''Agudas Jisroel'' ist bereits im Abschnitt 4a bei der Weltorganisation alles Wesentliche gesagt worden. Hinzuzufügen wäre, daß im vergangenen Jahre neben dem jüdischen Jugendbund ''Esra '' und der Agudas Jugendorganisation noch ein weiterer Jugendverband ''Noar Agudati '' gegründet wurde, der die Umschulung orthodoxer Jugendlicher für die Auswanderung nach Palästina betreiben soll.
So, wie die zionistische Weltorganisation in Parteien gespalten ist, findet man diese Zerklüftung auch bei ihrer deutschen Landesorganisation der ZVfD . Neben der ZVfD und ihrer Disziplin unterstellt bestehen unzähligen Frauen, Jugend, Studenten, Sportorganisationen, sowie Pfadfinderbünde und die deutsche Landesorganisation des ''Hechaluz ''. Innerhalb der ZVfD die regional in Bezirks- und Ortsgruppen gegliedert ist, bestehen als politische Sonderfraktion die ''Unabhängige deutsche Misrachi Landesorganisation'' die wegen einer für den Nichtjuden überhaupt unverständlichen Meinungsverschiedenheit vor Jahren aus dem Weltmisrachi ausgeschieden ist. Sich aber neuerdings mit dem Gedanken trägt in den Weltmisrachi wieder hineinzugehen, um zu verhindern, daß dieser aus dem Gebilde der zionistischen Weltorganisation ausscheidet und sich mit den Revisionisten und Agudisten vereinigt. Die deutsche Misrachiorganisation hat wiederum eine eigene Jugendbewegung, nämlich den ''Brith Hanoar ''. Der Misrachi ist in Deutschland ziffernmäßig nur klein, aber durch die Mitgliedschaft vieler Rabbiner sehr einflußreich. Einer der prominentesten Misrachiführer Rabbiner Dr. Hoffmann in Frankfurt/Main ist Mitglied der Reichsvertretung der deutschen Juden. Neuerdings haben sich auch die bürgerlichen Zionisten zu einer zunächst lockeren Organisation unter der Bezeichnung ''Allgemeine Zionisten '' zusammengefunden. Die marxistische Organisation der ''Poale Zion'' ist gleich bei Beginn der nationalen Erhebung von selbst auseinander gegangen. Die Mitglieder sind in der ZVfD , bezw. der BZV Mitglieder geworden und beherrschen speziell in Berlin diese Organisationen und den ''Hechaluz''. Der von der Staatszionistischen Organisation bei dem Vorfall Landsbergerstr. erhobene Vorwurf, daß die Zionisten verkappte Zionisten wären, trifft daher zu, zumal der Redner des damaligen Abends ''Tschertok '' Vorstandsmitglied der aufgelösten sozialdemokratischen ''Poale Zion'' war.
Die revisionistisch-zionistische Bewegung in Deutschland war früher der Union der Zionisten-Revisionisten angeschlossen. Nach der Spaltung der Weltunion in den radikalen und den gemäßigten Revisionistenflügel, die kurz vor der nationalen Erhebung erfolgte, zerfiel diese Bewegung in Deutschland in drei Gruppen, nämlich den Landesverband deutscher Zionisten Revisionisten der den gemäßigten Flügel angehörte, den Verband der Staatszionisten und der Staatszionistischen Organisation, die zum radikalen Flügel zu rechnen sind, aber wegen Führerstreitigkeiten getrennt waren. Anfang des Jahres 1934 einigten sich alle drei Gruppen unter dem Namen Staatszionistische Organisation, vereinigte Revisionisten Deutschlands. Diese Gruppe steht außerhalb der zionistischen Vereinigung und bekämpft letztere wegen ihrer marxistischen Einstellung und marxistischen Vergangenheit. Die Jugendorganisation der Staatszionisten nennt sich ''Nationale Jugend Herzlia ''.
Die Auswanderung der Juden nach Palästina, die der Endzweck sämtlicher zionistischer und revisionistischer Organisationen ist, wird nach zwei Gesichtspunkten zu unterscheiden sein. Die Auswanderung für Kapitalisten ist von dem Besitz eines Geldbetrages von 1.000 Pfd. das sind etwa 12.000 Reichsmark abhängig. Ein besonderes Abkommen zwischen der Reichsregierung und der ''Jewish Agency '' regelt diese Devisenfragen. Für Handwerker und Arbeiter erhält die Jewish Agency von der Engl. Mandatsregierung in gewissen Abständen eine von der Regierung festzusetzende Zahl von Blanko-Einreisebewilligungen (Zertifikate ) die von der Leitung der Jewish Agency an die Palästniaämter und so auch an das Palästinaamt in Berlin verteilt werden. Ein solches Zertifikat erhalten nur solche Mitglieder zionistischer Organisationen, die zumindest sich hebräisch verständigen können und einen bezw. 1 1/2 Jährigen Umschulungskursus in einem landwirtschaftlichen oder handwerklichen Beruf durchgemacht haben. Die Mitglieder der ''Agudas Jisroel'' erhalten von diesen Zertifikaten einen bestimmen Prozentsatz zugewiesen. Bevorzugt werden die Mitglieder des ''Hechaluz'' zu dessen Hauptaufgaben die körperliche und geistige Umschulung gehört. Neuerdings verweigern die zionistischen Instanzen den Revisionisten die Erteilung von Zertifikaten, woraus die immer mehr erbitterter werdende Feindschaft resultiert, die unlängst in Warschau dazu geführt hat, daß dort die Revisionisten das Palästinaamt besetzt und alle vorhandenen Zertifikate gestohlen haben. Die Überreise erfolgt in Sammeltransporte über München, Triest durch die italienische Lloyd Triestino. Die Reisekosten betragen für die Arbeiter und Handwerker-Kategorie etwa 150 bis 170 RM einschließlich Verpflegung, ausschließlich Eisenbahnfahrt. Unbemittelte Auswanderer erhalten hierzu Unterstützung vom Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau über das Palästinaamt. Bisher sind etwa 5.000 Arbeiter und Handwerker und 10.000 Kapitalisten seit März aus Deutschland nach Palästina ausgewandert. In diesen Zahlen sind die illegalen Auswanderer und über europäische Länder als Zwischenstation ausgewanderten Personen nicht mitgezählt, zuverlässige hierüber sind auch zu erlangen. Über die Einwanderungen der Kapitalisten in Palästina läßt sich als individuelle Erscheinung nichts berichten. Die Arbeiter und Handwerker werden zunächst in besonderen Einwandererbaracken und Zelten untergebracht und alsdann auf Arbeitsstellen und zwar bevorzugt als Landarbeiter vermittelt. Da in Palästina ein ungeheurer Arbeitermangel besteht, so geht diese Unterbringung sehr schnell vor sich.
Eine Gegenerscheinung zu dieser Auswanderungsorganisation ist der Verein ''Land und Handwerk'' der ähnlich wie der ''Hechaluz'' Umschulungen betreibt, aber mit dem Unterschiede, daß diese Kursisten zum weiteren Verbleib in Deutschland erzogen werden sollen. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint dieser Plan jedoch nicht zu einem Erfolge zu kommen, da für Juden in Deutschland in diesen Berufen wenig Aussichten bestehen. Hinzu kommt, daß die ungewohnte schwere körperliche Arbeit für die Juden nur dann tragbar ist, wenn das ideale Moment wie es beim Zionismus vorherrscht anfeuernd wirkt.
In vorstehendem Bericht konnten durchaus nicht alle Momente berücksichtigt werden, wie z.B. der Stand der Judenfrage und Bewegung im Auslande. Von den Organisationen in Deutschland konnten nur die allerwichtigsten geschildert werden. Zur Illustrierung der Gesamtbewegung ist noch zu erwähnen, daß in Berlin insgesamt 11 jüdische Vereine, darunter viele mit bezirklichen Untergliederungen bestehen. Die Zahl der jüdischen Vereine in ganz Deutschland dürfte mindestens 50.000 betragen. Der Umfang der Judenbewegung in Deutschland geht am besten daraus hervor, daß ein Überblick über alle Vereine usw. nur durch drei verschiedene Bücher und zwar: 1. Führer durch die jüdischen Gemeinden und Organisationen, 2. das jüdische Jahrbuch und 3. das jüdische Adreßbuch von Groß Berlin möglich ist, woselbst in diesen sehr dicken Büchern noch nicht einmal sämtliche Vereine verzeichnet sind. Beim Gestapa bestehen allein 456 verschiedene Aktenvorgänge über in Berlin bestehende Vereine und Institutionen.